Namaste

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Namaste

1  Vorwort

2  Start: Frankfurt

3  Erste Station: Indien

4  Zweite Station: Hongkong

5  Zwischenstation: Manila

6  Finale: Die Trauminsel

7  Nachwort

Vorwort

Die vorliegende Reiseerzählung stammt in ihrer ursprünglichen Form aus einem Brief, den ich 1992 nach der beschriebenen Reise an eine Freundin schickte. Ich hatte gerade mein Studium beendet und trotz diverser Reisen in verschiedene Länder hatte ich noch viel zu lernen, was Leben und andere Lebensumstände bedeuten konnten.

Heute sehe ich ein paar Dinge durch die Brille der Lebenserfahrung und somit etwas anders. Dennoch wollte ich den Inhalt und den Stil des Briefes nicht verändern. Er ist ein Blick zurück in die Vergangenheit, ein Zeugnis damaliger Denkweisen und Erfahrungen.

Viele der kleinen Begebenheiten, über die mich damals mokierte, mögen heute als normal gelten. Man mag aber bitte bedenken, dass damals das Reisen noch deutlich unkomplizierter war und auch die politischen Umstände andere waren.

Chris Kronberg.

(Juni 2019)

******

München, den 1. November 1992

Namaste,

Wenn einer eine Reise macht, ... dann kann viel geschehen.

Eigentlich hatte ich ja nicht vor, irgendetwas über diesen Urlaub zu schreiben, aber wenn derart viel zusammen kommt, dann geht es einfach nicht anders. Dabei hatte alles so gut angefangen:

Zum ersten Mal in all den Jahren gab es bei der Abreise keinerlei Hektik. Sonst bin ich immer bis zur letzten Sekunde damit beschäftigt, Aquarien und Pflanzen für die lange Abwesenheit zu versorgen. Meist werde ich inmitten dieser Vorbereitungen vom Klingeln des Taxifahrers gestört. Dieses Mal jedoch war schon lange vorher alles bestens geregelt.

Die Fahrt zum Frankfurter Flughafen war einfach herrlich. Wie auf Samtpfoten huschte der ICE durch die Landschaft.

Start: Frankfurt

Am Flughafen angekommen zogen die ersten Wölkchen auf. Der richtige Zugang zur Schalterhalle und die Abfertigung der Air India waren gar nicht so leicht zu finden gewesen – insbesondere, wenn man auf Anfrage in die falsche Halle geschickt wird.

Nachdem wir den Schalter erfolgreich lokalisiert hatten und unsere Köfferchen auf das Laufband gestellt hatten, wurden wir zurecht gewiesen: „Nein, dies geht nicht.“, „Nein, das geht nicht.“ „Und nehmen Sie endlich Ihre Koffer vom Band.“ Höflich geht anders, aber wir wollten keinen Ärger und hatten genug Zeit, also haben wir unsere Koffer wieder vom Band genommen.

Air India ist nicht nur sehr preiswert, sondern auch sehr umständlich. Nach dem Wiegen der Koffer hat der angehende Passagier sein Gepäck wieder vom Band zu nehmen und es um die Ecke zu kurven, um es durch eine separate Sicherheitskontrolle prüfen zu lassen. Führt man keine Bomben oder sonstige sichtbaren Sprengsätze mit sich, dann und nur dann werden die Koffer ihrem Schicksal zugeführt.

Abgesehen von dieser kleinen Schikane hatte die Maschine bereits zwei Stunden Verspätung. Nun ja. Also sind wir erst einmal essen gegangen. Zum Glück ist der Frankfurter Flughafen für längere Aufenthalte gut geeignet. Ein paar besonders bedauernswerte Leute warteten hier auf ihren bereits dreizehn Stunden verspäteten Flieger.

Eine Stunde vor dem angeblichen Starttermin fiel den Verantwortlichen ein, von welchem Ausgang wir abfliegen sollten. Da wir gerade nichts anderes zu tun hatten, sind wir dorthin gewandert. Nicht, dass die Maschine bereits gelandet gewesen wäre. Mitnichten, von dem Jumbo der Air India war weit und breit nichts zu sehen. Da man aber die Leute irgendwie beschäftigen musste, durften all jene, deren Bordkarte einen roten Punkt aufwies, sich hinunter zum Rollfeld bewegen, um ihre Koffer zu identifizieren. Während dieses Spiel noch im vollen Gange war, kam der entzückte Aufschrei eines kleinen Jungen: „Sie kommt! Sie kommt!“ Und tatsächlich, der Flieger hatte es endlich geschafft, sich bis an seinen Rastplatz vor zu arbeiten. Also wurde das Kofferidentifikationsspiel schleunigst abgebrochen.

So kam es, dass wir mit nur drei Stunden Verspätung abgeflogen sind (aber nicht ohne uns vorher noch einmal zwanzig Minuten auf dem Rollfeld stehen zu lassen).

Durch diverse Sitzplatzrangeleien hatten es andere Passagiere geschafft, dass wir eine Dreierreihe für uns alleine hatten. Geschlafen habe ich allerdings auf dem Boden und das sogar sehr gut.

Erste Station: Indien

Delhi

In jedem Land, das ich bisher bereist habe, wurden die Pässe und Einreisekarten nur grob verglichen und abgestempelt – Einreise fertig. Nicht so hier. Jeder Beamte nahm sich viel Zeit, alle Angaben genauestens zu prüfen. Was für ein Glück, dass ich in den letzten zwanzig Jahren gelernt habe, meinen Namen richtig zu schreiben. Mein zweiter Name war so wichtig, dass er unbedingt ergänzt werden musste.

Da weder der Beamte noch der Computer etwas mit unseren Namen anzufangen wusste (soll heißen: keine dunkle, terroristische Vergangenheit), durften wir passieren... um gleich danach unser Handgepäck noch einmal durchleuchten zu lassen. Ob die glaubten, wir hätten im Flugzeug Bomben erstanden? Vielleicht hätte ich das Bordjournal genauer studieren sollen.

Nun hatten wir, wie mittlerweile eine stattliche Anzahl von Touristen, eine Videokamera dabei. Bisher dachte ich immer, daran wäre nichts Verwerfliches, aber hier führte die 'Entdeckung' dieser Kamera dazu, dass uns verwehrt wurde, unsere Koffer zu holen. „Green channel, green channel!“, war alles, was der Beamte uns gestenreich mitteilte.

Wir begaben uns in die gewiesene Richtung zum 'Green channel', welcher sich als ein Schreibpult mit zwei Menschen dahinter entpuppte. Dort wurde alles peinlich genau festgehalten: Fabrikat, Herkunft, geschätzter Wert, Ortszeit, Einreisedatum, Aufenthalt in Indien samt Hotel, Aufenthaltsdauer, Aufenthaltsgrund, usw.. Uns wurde eingeschärft, gut auf den Zettel aufzupassen, denn er musste bei der Abreise samt Kamera vorgezeigt werden. Mit einem letzten, gestrengen Blick waren wir entlassen und konnten uns auf die Suche nach unseren Koffern machen.

Da nur zwei der Bänder liefen, war die Auswahl nicht besonders schwer. Nur, ... die Koffer kamen nicht. Oh, es standen schon ein paar Koffer auf dem Band und das Band rollte und rollte und rollte - stets mit den gleichen paar Koffern, die jedoch nicht zu unserem Flug gehörten.

Nach einer Viertelstunde kam Bewegung in die Menge, als auf einmal drei neue Koffer erschienen. Und siehe da, nach weiteren fünf Minuten erschienen mehr und mehr Rucksäcke. Diese sollten allerdings laut Banderole nach Katmandu (keine Ahnung, was die hier verloren hatten). Dazwischen tauchte gelegentlich ein mittlerweile verzweifelt gesuchter Koffer auf. Zehn Minuten später stand das Band ganz still.

In dichten Trauben standen die Leute vor dem Band und machten dumme Gesichter, so wie wir auch. Das genügte als Anlass, einen Vorgesetzten herbei zu zitieren, der dann seine Leute auf Trab brachte. Kurze Zeit später lief das Band wieder und nach und nach erschienen sogar die gewünschten Koffer (in deutlich schnellerer Reihenfolge). Auch wir sind nach über einer Stunde mit unseren Koffern glücklich in Richtung Ausgang verschwunden.

Wie wir dem Handzettel entnommen hatten, sollten wir vom Flughafen abgeholt werden. Dort stand geschrieben: „Ein Vertreter unserer Agentur erwartet Sie mit einem Schild mit Ihrem Namen am Ausgang.“ Nach dieser langen Wartezeit hatten wir starke Zweifel, ob der arme Mensch wirklich noch dort wartete. In Gedanken waren wir bereits auf der Weg zur Botschaft, da uns nicht mitgeteilt worden war, in welchem Hotel wir untergebracht werden sollten. Wir waren angenehm überrascht, dass der Herr noch wartete. Allerdings nicht auf uns, sondern auf „Mr. & Mrs. Kronberg“. Nun sieht Christel zwar wie eine „Mrs.“ aus, aber ich verständlicherweise nicht wie ein „Mr.“. Da der Herr bezweifelte, dass wir tatsächlich die Leute waren, die er abholen sollte, durften wir warten bis auch wirklich niemand mehr durch die Türen des Ausgangs kam. Da keine weiteren Kronbergs gekommen waren und in meinem Pass in der Tat dieser Name so geschrieben steht, gab er seinen Widerstand auf und brachte uns zu unserem Hotel.

Was weiter geschah bedarf einer Erläuterung: Von uns geplant und gebucht war eine siebentägige Nordindien Rundreise. Da wir nicht alleine durch das Land reisen wollten, hatten wir uns extra erkundigt, ob und wenn ja, wie viele Leute diese Rundreise antreten würden. Wir hatten unseren Urlaub sogar um eine Woche vorverlegt, da zu diesem Termin vier weitere Teilnehmer gemeldet waren (was uns mehrfach bestätigt worden war). Wir hätten also als Sechsergrüppchen durch das Land ziehen sollen. Doch als ich den Herrn von der Agentur darauf ansprach, guckte er nur und meinte, er wisse von nichts. Immerhin konnten wir ihn dazu bewegen, bei der Agentur rückzufragen, was nun Sache ist. Nach einiger Zeit kam er zurück und teilte uns mit, die anderen vier hätten samt und sonders abgesagt. Ich habe kein Wort geglaubt.

 

Du hast Dich doch sicher schon oft über die deutsche Bürokratie geärgert? Sie ist ja schließlich nicht umsonst sprichwörtlich. Und doch ist sie ein Waisenkind gegen die indische Bürokratie! Nun waren also ein Mr. und eine Mrs. Kronberg erwartet worden und so stand auf allen Vouchers für diese Reise „Mr./Mrs.“. Das konnte auf gar keinen Fall so bleiben. Statt uns unsere Vouchers auszuhändigen, durften wir nur einen Blick darauf werfen. Dann hat der Herr (ich konnte mir seinen Namen beim besten Willen nicht merken) die Dinger wieder eingesteckt, um diesen 'Fehler' zu korrigieren. Wenn der gewusst hätte, wie oft schon auf unseren Tickets und Vouchers Mr. und Mrs. stand. Niemanden hat das je interessiert, Hauptsache alles war bezahlt. Dies war nur die Spitze des Eisbergs. Diese eine Woche in Indien würde sehr lang werden.

Im Hotel angekommen war ich erst einmal beeindruckt. Großzügige Eingangshalle, sehr gepflegt. Alles sah so weit sehr gut aus – bis ich das Zimmer sah. In diesem Moment wurde mir schlagartig wieder klar, wo ich mich befand. Das Fenster hatte wohl zum letzten Mal vor zwei Jahren die Bekanntschaft mit einem Putzlumpen gemacht. Auch Dusche und Badewanne hatten schon bessere Zeiten gesehen. Aber nun gut, es sollte ja auch nur für diese eine Nacht sein.

Doch bis dahin war noch lang. Die Sonne hatte gerade erst den Zenit überschritten und in unseren Mägen wühlte ein leichtes Hungergefühl. Nach einer immerhin erfrischenden Dusche machten wir uns auf, den Coffee Shop zu suchen.

Gesucht – gefunden – eingefroren. Der Coffee Shop war klein, dunkel und lausig kalt. Aber Ehre, wem Ehre gebührt, das Essen war gut. Der Kaffee weniger. Dazu kam noch, dass der Kellner Christel geronnene Milch in den Kaffee schüttete. Aber selbst mit normaler Milch schmeckte er nach nichts. Habe ich ein Glück, dass ich Teetrinker bin (obwohl auch der Tee bisweilen ungenießbar war).

Frisch gestärkt wollten wir einen kleinen Bummel durch die Ladenpassage machen. Wir hatten das erste Schaufenster noch nicht erreicht, da kam der Ladeninhaber bereits herausgeschossen mit einem „Yes, Ma'm?“

Diese Leute haben eine sehr anziehende Wirkung. Kommt einer aus seinem Laden heraus, rennen auch gleich alle anderen aus ihren Läden und schon schwirrt einem von allen Seiten ein „Yes, Ma'm?“, „Please, come and look, Madam!“ um die Ohren. Das war uns für den Tag unserer Ankunft zu viel und so sind wir sofort geflüchtet.

Bereits auf der Fahrt zum Hotel hatten wir gesehen, dass es sich nicht lohnt, einen Fuß vor das Hotel zu setzen. Wir wohnten in einem Teil von Neu-Delhi, das sich als 'Friends Colony' bezeichnet. Dazu kann ich nur eines sagen: Wer seine Freunde so unterbringt, braucht sich um seine Feinde keinen Gedanken mehr zu machen. Er bekommt sie automatisch.

Es gab also nichts für uns zu tun und so verkrochen wir uns in unserem Zimmer und genossen die liebliche Aussicht:

Rechter Hand puffte ein Schornstein in einiger Entfernung fröhlich dunkelschwarze Rauchschwaden in die Luft. Geradeaus konnte man unter dem ewigen Smog den heiligen Fluss Yamuna bestenfalls erahnen. Linker Hand durfte sich das Auge an weiteren indischen Fabriken erfreuen. Und zu alledem klapperten und röhrten die großen Ventilatoren der Klimaanlage vier Stockwerke unter uns eine wirklich passende Melodei.

Ich seufzte einmal ergeben und dachte mir, dass dies eben Indien ist. Für eine Nacht würde es schon gehen. Durch die lange Warterei und den Flug war ich so müde, ich hätte auch in einem Granatenschauer schlafen können. Tatsächlich haben wir beide ausgezeichnet geschlafen, so dass wir uns wachen Auges am nächsten Morgen zu unserem Frühstück und der Fahrt nach Jaipur bewegen konnten.

Das Frühstück gab es in der gleichen Eiskammer, in der wir tags zuvor getafelt hatten. Wie das Schicksal so spielt, mussten nicht nur eine Handvoll Gäste, sondern eine riesige Reisegruppe gleichzeitig abgefüttert werden, so dass am Buffet eine nicht minder riesige Schlange anstand. Das einzig Erfreuliche war, dass besagte Gruppe zum Essen in einen Nachbarraum einquartiert worden war. Anderenfalls wäre die Ausgabe von Platzkarten notwendig gewesen. Zum Frühstück selbst lässt sich nur sagen, dass es karg war und nach nichts schmeckte.

In Anbetracht all dessen dürfte es wohl kaum verwunderlich sein, dass wir uns auf die Fahrt nach Jaipur freuten. Nach Delhi würden wir ohnehin noch früh genug zurück kommen (zu früh, wie wir später feststellen sollten). Doch die Freude an der Fahrt währte nicht lange.

An das Tohuwabohu auf den Straßen waren wir gewöhnt. Nordindien ist jedoch auch noch in dieser Jahreszeit sehr heiß. Die Autos wiederum besitzen nur in Ausnahmefällen Klimaanlagen. Um also eine erträgliche Temperatur im Inneren des Wagens zu schaffen, musste man die Fenster öffnen. Nun habe ich ein bisschen Fahrtwind eigentlich ganz gerne, wenn nicht ..., ja, wenn nicht gerade Staub, Auspuffgase und Sonstiges durch die geöffneten Fenster in Mund, Nase, Augen, Ohren und wer weiß, wo sonst noch eindringen würden. Bereits nach einer Stunde fühlte ich mich nur noch dreckig. Und es lagen noch fünf weitere Stunden vor uns!

Unterwegs

Es ist schwierig, das Treiben auf den Straßen Indiens zu beschreiben. Sicher hast du schon gehört, dass dort alles auf den Straßen unterwegs ist: Autos, Fahrräder, Menschen, Tiere,... . Das stimmt, aber eine reine Aufzählung gibt das chaotische Durcheinander nicht wieder. Zunächst einmal: Dank der Briten fahren die Inder alle 'auf der falschen Seite', nämlich links. Zumeist haben sie auch gar keine andere Wahl, als sich daran zu halten, da die Straßen in den Städten hoffnungslos überfüllt sind. Wer aber links fährt, muss rechts überholen. Nun kommt es bisweilen aber vor, dass ein Wasserbüffelgespann jegliches Überholen rechterseits unmöglich macht. Da die Autofahrer in Indien genauso wenig Geduld haben wie jene in Europa, wird hier auch kurzerhand links überholt, das heißt also: Erst ab in den Straßengraben, dann mit einer für diesen Streckenteil völlig ungeeigneten Geschwindigkeit überholen und zuguterletzt wieder auf die Fahrbahn hinaufrumpeln. Jemand, der nie in diesem Teil der Welt eine Autofahrt genossen hat, dürfte es bei einem solchen Manöver vermutlich etwas grün um die Nase geworden sein.

Bei den normalen Überholmanövern hätte sich der Betreffende dann allerdings wohl vollends übergeben, wenn er zu diesem Zeitpunkt noch bei Sinnen sein sollte. Schon in Thailand war mir aufgefallen, dass die Autofahrer eine gewisse Vorliebe für einen Kollisionskurs beim Überholen haben. Die Inder jedoch haben dieses Verfahren zur Perfektion entwickelt: Erst wird sorgfältig nach einem möglichen Kontrahenten Ausschau gehalten. Ist dieser erst erspäht, wird dem Vordermann via Hupe mitgeteilt, dass man zu Überholen wünscht. Mittels Handzeichen wird das Einverständnis bekundet (oder auch nicht). Sofort setzt man über auf die andere Straßenseite und peilt die nächste Lücke an. Es wird allerdings kein Gedanke daran verschwendet, sofort wieder einzuscheren. Vielmehr verbleibt man auf der gegnerischen Fahrbahn, bis sich der Gegenverkehr auf etwa zwanzig Meter genähert hat. Dann wird noch einmal kräftig Gas gegeben und zwei Sekunden vor dem Aufprall ordnet man sich wieder in den Verkehr auf der eigenen Fahrbahn ein. Macht Spaß, gelle?

Dass dieses Überlebenstraining nicht immer erfolgreich ist, kann man den Autos ansehen. Von Zeit zu Zeit überrascht auch schon einmal ein verbeulter Lastwagen im Straßengraben.

Bei uns hätte ein Unfall eine großzügige Absperrung und eine Menge Papierkram zur Folge. Nicht jedoch hier: Man greift sich einfach ein paar faustgroße Steine vom Straßenrand und gruppiert diese in einem lockeren Halbkreis um das liegengebliebene Gefährt. Ist er noch dazu in der Lage, so macht sich der Fahrer auf in das nächste Dorf, um seinem Boss (oder dem Empfänger) durchzugeben, dass die Ware heute nicht mehr geliefert werden kann. Inwieweit das einen Papierkrieg hinter sich herzieht, entzieht sich meiner Kenntnis.

Nach der Hälfte der Strecke legten wir eine kurze Rast ein, um auf ein paar überteuerten und geschmacklosen Hühner-Sandwiches herumzubeißen. Mittlerweile kurvten wir durch den Bundesstaat 'Haryana'. Die Landschaft hatte sich deutlich verändert. Im Gebiet um Delhi, das einen eigenen Bundesstaat darstellt, war die Landschaft – soweit sie zu sehen war – recht grün gewesen. In Haryana dagegen wurde es merklich hügelig und die Vegetation wurde spärlicher. Dieser Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, dass die Felder bereits abgeerntet worden waren. Ganz allgemein strahlte die Umgebung eine fast trostlose Kargheit aus; streckenweise fühlte man sich an eine Wüste erinnert.

Auch das Bild auf den Straßen hatte sich geändert: Seit wir die Grenze nach Haryana überquert hatten, tauchten mehr und mehr Kamele auf. Anders als in Afrika, wo sie als Last- und Reittiere dienen, benützt man sie hier wie Pferde und Ochsen als Zugtiere. Das Gestell, das dazu verwendet wird, besteht im wesentlichen nur aus zwei Rädern, auf denen eine Plattform montiert ist. Das Ganze hängt auf eine mir unbegreifliche Weise an dem Kamel, das mit seinem gemächlichen Schaukelschritt hauptsächlich Sand und Steine von Schottergruben zu Baustellen transportiert. Ganz selten sitzt einmal eine Gruppe von Leuten auf der Plattform.

Das Nächste, das mir auffiel, war, dass in den Dörfern, die wir durchquerten, immer sehr viele Kinder zu sehen waren. Bedauerlicherweise zeigten diese Kinder einen beklagenswerten Mangel an Manieren. Aber dafür wollten sie Geld. Ohne „Bitte“ oder „Danke“ wird man/frau aufgefordert: „Give me one Rupie!“ bzw. „Give me money!“. Damit kein falscher Eindruck entsteht, besagte Kinder waren keineswegs unterernährt oder anderweitig ärmlich. Sie waren einfach irre geleitet, da sie glaubten, mit Unverschämtheit Geld zu bekommen.

Überhaupt ist das mit dem Geld in Indien eine komische Sache. Zumindest dort, wo wir waren. Das letzte Mal, dass mir eine solche Geldgier begegnet ist, liegt schon etwa zehn Jahre zurück. Seinerzeit hatten wir Ägypten besucht und so schön die Reise gewesen war, das ständige „Bakschisch“ „Bakschisch“ war nervtötend gewesen. Für Kleinigkeiten, bei denen bei uns keiner auch nur im entferntesten daran dächte, Geld zu nehmen, wurde dort Bares als Selbstverständlichkeit angesehen.

Die Inder haben die gleiche Angewohnheit. Sie legen dabei eine Aufdringlichkeit an den Tag, die schon ärgerlich macht. So haben am Tag unserer Abreise die beiden Boys, die unser Zimmer aufgeräumt haben, extra noch einmal an unsere Tür geklopft, da sie uns unbedingt mitteilen mussten, dass sie es gewesen seien, die jeden Tag für unser Zimmer gesorgt hätten. Du hättest ihren gierigen Blick sehen sollen.

Mittlerweile habe ich genug Erfahrung, solchen Leuten ordentlich vor den Kopf zu stoßen. Auf ihren Hinweis grinste ich nur einfältig, sagte „Fine.“ und machte die Tür wieder zu.

Ein ähnliches Spielchen wiederholte sich etwas später, als sich einer der Kofferträger vorsorglich erkundigte, wann wir abgeholt werden würden. Zehn Uhr, sagten wir. Daraufhin konnte er uns gar nicht schnell genug versichern, dass um zehn Uhr sein Dienst beendet sein würde. Nach diesen Worten blieb er stur stehen. Erst als wir ihm einen schönen Abend gewünscht haben, hat er begriffen, dass er auf diese Weise nicht zu Geld kommen würde (abgesehen davon hatte er doch eine bezahlte Arbeit, was wollte er denn noch?). Sein Blick war alles andere als freundlich, als er abschob. Mein Blick stand dem seinen in nichts nach.

Versteh' mich richtig, ich habe nichts dagegen, Trinkgeld zu geben. Ganz im Gegenteil. Aber Trinkgeld gibt es bei mir nur für einen besonders guten Service. Und stets nur freiwillig!

Ich höre schon wieder die Leute, die entsetzt aufjaulen: „Aber Indien ist doch so arm! Man muss den armen Leuten doch helfen!“. Totaler Quatsch. Allein der Gedanke macht mich wütend. Ja, ein Großteil der indischen Bevölkerung ist arm, a b e r: Mindestens die Hälfte aller Haushalte in den Slums hat ihren eigenen Fernsehapparat. Außerdem sind viele Inder keineswegs daran interessiert, ihren Lebensstandard durch Mehrarbeit zu verbessern. Haben sie ihren Tagesverdienst gemacht, dann hören sie einfach auf, zu arbeiten, selbst, wenn es noch Vormittag ist. Das gilt natürlich nur für jene, die an keine festen Arbeitszeiten gebunden sind (ein hervorragendes Beispiel dafür sind die Heerscharen von Rikschafahrern).

Die Geschäfte hingegen werden pünktlich geschlossen, es sei denn, dass man noch fette Beute wittert, sprich: finanzkräftige Kundschaft im Anmarsch ist (selbst so erlebt). Bei Verdacht auf „Kleinkram“ geschieht das natürlich nicht. Wenn man es wagt, zehn Minuten vor der offiziellen Essenszeit im Restaurant aufzukreuzen, so darf man sich zwar setzen, aber man wird keine Sekunde früher bedient (man bekommt nicht einmal die Karte).

 
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