Erziehung des Herzens

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Das ist eine sehr Aggressions-orientierte Haltung. Nach der Vorstellung des Mahayana, vor allem der kontemplativen Tradition, beruhen Liebe und Zuneigung größtenteils auf freiheitlicher Liebe, offener Liebe, die keine Gegenleistung verlangt. Es ist ein gemeinsamer Tanz. Selbst wenn man dem anderen während des Tanzens auf die Zehen tritt, wird das nicht als problematisch oder als Beleidigung betrachtet. Es ist nicht nötig, sich aufs hohe Ross zu setzen oder pingelig zu sein. Lieben lernen, sich öffnen lernen ist eine der schwierigsten Aufgaben für uns alle. Denn wir sind von Leidenschaft konditioniert. Da wir uns im Menschenbereich befinden, ist unser Hauptinteresse oder unsere charakteristische Tendenz immer auf Leidenschaft und Lust gerichtet. Die Mahayana-Lehren basieren also auf der Idee der Kommunikation, der Offenheit und dem Freisein von Erwartungen.

Wenn wir zu verstehen beginnen, dass die Natur der Phänomene frei von Konzepten ist, dass sie in sich selbst leer sind, dass die Stühle und Tische und Teppiche und Vorhänge und Wände nicht mehr im Weg sind, dann können wir unser Gefühl der Liebe endlos ausdehnen. Nichts steht im Weg. Wir erwähnen hier das Shunyata-Prinzip deshalb, weil es uns die Leerheit liefert; wir können diesen gesamten Raum der Leerheit mit dem Gefühl der Zuneigung füllen – Liebe ohne Erwartung, ohne Forderung, ohne Besitzergreifen. Das ist einer der machtvollsten Aspekte, die das Mahayana zu bieten hat.

Die Hinayana-Praktizierenden hingegen sind auf dem Pfad der individuellen Erlösung sehr eifrig darum bemüht, anderen nicht zu schaden. Sie sind vernünftige und wohlmeinende und sehr höfliche Leute. Aber wie kann man vierundzwanzig Stunden lang wirklich höflich sein und ständig lächeln, allein nur auf der Basis der individuellen Befreiung, ohne irgendetwas für andere zu tun? Man tut die ganze Zeit alles nur für sich selbst, mag man auch lieb und nett und höflich sein. Das ist ganz schön schwer. Auf der Mahayana-Ebene gibt es viel Raum für Zuneigung und Liebe – ungeheuer viel Raum, Offenheit und Mut. Man hat keine Zeit, unberührt davonzukommen, solange man Zuneigung hervorbringt.

Die Beziehung zwischen Mutter und Kind ist die beliebteste Analogie, die man für die Entwicklung des relativen Bodhicitta verwendet. Nach den indischen und tibetischen Traditionen der Zeit vor etwa tausend Jahren war die Mutter das nächstliegende Beispiel für jemanden, dem gegenüber man liebevolle Gefühle hegt. Traditionsgemäß empfindet man für die Mutter ein zutiefst warmes und herzliches Gefühl. In der modernen Gesellschaft ist das vielleicht problematisch. Aber Sie könnten sich dennoch auf die alte Vorstellung vom Mutterprinzip beziehen. Sie könnten wertschätzen, dass Ihre Mutter Ihnen ihre eigene Bequemlichkeit geopfert hat. Sie könnten daran denken, wie sie mitten in der Nacht aufzustehen pflegte, wenn Sie weinten, wie sie Sie gefüttert und Ihnen die Windeln gewechselt hat und so weiter. Sie könnten sich daran erinnern, wie Sie sich als Herrscher in dem kleinen Haushalt aufführten, wie Ihre Mutter zu Ihrer Sklavin wurde. Wann immer Sie schrien, sprang sie auf, ob Sie mochte oder nicht, um zu schauen, was mit Ihnen los war. Ihre Mutter hat das wirklich getan. Und als Sie älter waren, hat sie sich um Ihre Sicherheit und um Ihre Ausbildung und alles Übrige gekümmert. Um also relatives Bodhicitta, relative wache Freundlichkeit zu entwickeln, nehmen wir unsere Mutter als Beispiel, sozusagen als unsere Zündflamme. Wir denken an sie und halten uns vor Augen, wie viel sie für uns geopfert hat. Ihre liebevolle Zuwendung ist das perfekte Beispiel, wie man andere vor sich selbst stellt.

Der Gedanke an Ihre Mutter ist die Vorbereitung für die Praxis des relativen Bodhicitta. Sie können diesen Gedanken als Ihren Ausgangspunkt betrachten. Vielleicht sind Sie ein ausgesprochen zorniger Mensch und haben einen Groll gegen das gesamte Universum. Vielleicht sind Sie ein überaus frustierter Mensch. Aber Sie können sich dennoch an Ihre Kindheit erinnern und daran denken, wie lieb Ihre Mutter zu Ihnen war. Sie können daran denken, trotz Ihrer Aggression und Ihres Ressentiments. Sie können sich daran erinnern, dass es eine Zeit gab, als jemand das eigene Leben für das Ihre geopfert und Sie aufgezogen hat, sodass Sie der Mensch werden konnten, der Sie jetzt sind.

Die Vorstellung vom relativen Bodhicitta ist hier in gewisser Hinsicht recht primitiv. Andererseits ist sie auch sehr erleuchtend, wie Bodhicitta es sein sollte. Obwohl Sie vielleicht ein ausgesprochen zorniger Mensch sind, können Sie nicht behaupten, dass Ihnen in Ihrem ganzen Leben noch nie jemand geholfen hat. Denn wenn nicht jemand Sie aufgezogen hätte, gäbe es Sie jetzt nicht als Erwachsenen oder Erwachsene. Sie können erkennen, dass Ihre Mutter Sie nicht einfach nur aus Verpflichtung, sondern aus echter Mütterlichkeit aufgezogen und sich um Sie gekümmert hat, als Sie hilflos waren. Und deshalb sind Sie jetzt hier. Diese Art von Mitgefühl ist sehr unmittelbar und sehr eindeutig.

Wenn wir das verstanden haben, können wir beginnen, unser Gefühl von Nichtaggression und Nichtfrustration und Nichtärger und Nichtgroll noch weiter auszudehnen, über die einfache Wertschätzung für unsere Mutter hinaus. Das ist mit der Paramita Disziplin verbunden; sie ist frei von Leidenschaft und sie hat etwas mit „sein lassen“ zu tun. Traditionell verwenden wir unsere Mutter als Beispiel und dann dehnen wir dieses Gefühl auf unsere Freunde und andere Menschen ganz allgemein aus. Schließlich versuchen wir sogar, positivere Gefühle unseren Feinden und all jenen gegenüber, die wir nicht mögen, zu hegen. Wir versuchen also, dieses Gefühl der Freundlichkeit, Sanftheit und Dankbarkeit auszudehnen. Wir sprechen hier nicht vom christlichen Konzept der Barmherzigkeit, sondern wir sprechen davon, wie wir ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber jedermann entwickeln können, angefangen bei unserer Mutter und darüber hinaus auch gegenüber unserem Vater und so weiter, bis wir den ganzen Rest der Welt miteinbeziehen können. Und schließlich und endlich können wir sogar anfangen, unseren Wanzen und Moskitos mit Sympathie zu begegnen.

Der Ausgangspunkt der Praxis des relativen Bodhicitta ist die Erkenntnis, dass andere wirklich wichtiger sein können als wir selbst. Andere Menschen mögen uns vielleicht ständig Probleme bereiten, aber wir können dennoch nett zu ihnen sein. Entsprechend der Logik des relativen Bodhicitta sollten wir das Gefühl haben, dass wir selbst weniger wichtig und andere wichtiger sind – irgendwelche anderen sind wichtiger! Wenn sich dieses Gefühl einstellt, ist es, als sei uns eine große Last von den Schultern genommen. Schließlich erkennen wir, dass Raum da ist, um Liebe und Zuneigung immer und überall zu geben, nicht allein nur diesem Ding namens „Ich“. „Ich bin dies, ich bin das, ich bin hungrig, ich bin müde, ich bin bla-bla-bla.“ Wir können an andere denken. Von diesem Standpunkt aus ist das relative Bodhicitta recht einfach und gewöhnlich. Wir können uns um andere kümmern. Wir können tatsächlich geduldig genug sein, um eine Haltung des selbstlosen Dienens anderen gegenüber zu entwickeln. Und die Slogans des relativen Bodhicitta (7 – 11) sind Fingerzeige, wie man relatives Bodhicitta auf ganz einfache Art entwickeln kann, sozusagen als Großmutters Zugang zur Wirklichkeit.

Die Slogans des absoluten Bodhicitta

2 Betrachte alle Dharmas als Träume

Dieser Slogan ist ein Ausdruck des Mitgefühls und der Offenheit. Er bedeutet, dass alle Erfahrungen in unserem Leben – Schmerz, Freude, Glück, Traurigkeit, Grobheit, Feinheit, Sophisterei, Plumpheit, Hitze, Kälte und was sonst noch – lediglich Erinnerungen sind. Die echte Disziplin oder Praxis der Bodhisattva-Tradition besagt, dass man alles, was geschieht, als Phantom betrachten soll. Es geschieht nie etwas. Doch weil nichts geschieht, geschieht alles. Wenn wir unterhalten sein wollen, scheint gar nichts zu geschehen. Doch obwohl alles nur ein Gedanke in unserem Geist ist, gibt es dabei eine starke unterschwellige Infiltration. Dieses „nichts geschieht“ ist die Erfahrung der Offenheit und die Infiltration ist die Erfahrung des Mitgefühls.

Diese traumartige Erfahrung macht man in der Praxis der Sitzmeditation. Wenn Sie Ihren Atem beobachten, tauchen plötzlich diskursive Gedanken auf. Sie sehen dieses und jenes, hören dieses und jenes und fühlen dieses und jenes. Doch alle diese Wahrnehmungen sind nichts anderes als Ihre eigenen geistigen Kreationen. Ebenso können Sie sehen, dass Ihr Hass gegenüber Ihrem Feind, Ihre Liebe zu ihren Freunden und Ihre Beziehung zu Geld, Essen und Reichtum nichts anderes sind als ein Teil des diskursiven Denkens.

Alles, was geschieht, als Träume betrachten bedeutet nicht, einen Wischi-waschi-Zustand zu erzeugen, sodass alles eine dösige Note bekommt. Man kann durchaus einen schönen Traum haben, lebendig und scharf umrissen. Dharmas als Träume betrachten bedeutet, dass Ihre Art, die Geschehnisse wahrzunehmen, sanft und träumerisch ist, obwohl es sich um sehr handfeste Angelegenheiten zu handeln scheint. Wenn Sie zum Beispiel an einer Gruppenmeditation teilgenommen haben, ist Ihre Erinnerung an Ihr Meditationskissen und an die Person, die vor Ihnen saß, sehr lebendig, ebenso wie die Erinnerung an das Essen und an den Klang des Gongs und an das Bett, in dem Sie schliefen. Doch keine dieser Situationen wird als unüberwindlich und betonhart betrachtet. Alles verändert sich.

Alles, was geschieht, ist wie ein Traum. Doch zugleich ist dieses Produkt Ihres Geistes sehr lebendig. Hätten Sie keinen Geist, wären Sie nicht in der Lage, irgendetwas wahrzunehmen. Weil Sie einen Geist haben, nehmen Sie Dinge und Geschehnisse wahr. Deshalb ist das, was Sie wahrnehmen, ein Produkt Ihres Geistes, der Ihre Sinnesorgane als Kanäle für sinnliche Wahrnehmungen benützt.

3 Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins

 

Schauen Sie Ihren grundlegenden Geist an – den Denkprozess, der in Ihnen abläuft, einfaches, schlichtes Gewahrsein, das nicht in Schubladen eingeteilt ist. Schauen Sie sich das einfach an; sehen Sie es. „Erforschen“ heißt nicht analysieren. Es bedeutet einfach, die Dinge zu sehen, wie sie sind, im ganz gewöhnlichen Sinn.

Unser Geist wird als „ungeborenes Gewahrsein“ bezeichnet, weil wir keine Ahnung von seiner Geschichte haben. Wir haben keine Ahnung, wo dieser Geist, unser verrückter Geist, angefangen hat. Er hat keine Form, keine Farbe, kein Aussehen, keine Eigenschaften. Er flackert, an und aus, an und aus, die ganze Zeit. Manchmal vergräbt er sich, manchmal ist er überall. Schauen Sie Ihren Geist an. Das ist ein Teil des Trainings oder der Disziplin des absoluten Bodhicitta. Unser Geist ist ständig in Bewegung: vor und zurück, vor und zurück. Schauen Sie dem zu, schauen Sie einfach nur zu!

Sie könnten, wenn Sie alle Dharmas als Träume betrachten, in der Faszination stecken bleiben und unnötige Visionen und Fantasien aller Art festhalten. Deshalb ist es sehr wichtig, zu diesem nächsten Slogan weiterzugehen: „Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins.“ Wenn Sie über die Wahrnehmungsebene hinausschauen, wenn Sie Ihren eigenen Geist anschauen (was Sie in Wirklichkeit gar nicht tun können, aber Sie tun so, als ob), stellen Sie fest, dass nichts da ist. Sie erkennen, dass es nichts gibt, was Sie festhalten könnten. Der Geist ist ungeboren. Doch zugleich ist er Gewahrsein, denn Sie nehmen ja dies und jenes wahr. Da sind Gewahrsein und Klarheit. Deshalb sollten Sie dies kontemplieren, indem Sie darauf achten, wer nun eigentlich die Dharmas als Träume wahrnimmt.

Wenn Sie immer weiter schauen, bis zur Wurzel Ihres Geistes, bis zu seiner Basis, stellen Sie fest, dass er weder Farbe noch Form hat. Ihr Geist ist, grundsätzlich gesprochen, irgendwie blank und leer. Da ist gar nichts. Hier beginnen wir eine Art von Shunyata-Möglichkeit zu kultivieren. Allerdings ist diese Möglichkeit recht primitiv – im Sinn von Einfachheit und praktischer Handhabung. Wenn wir nach der Wurzel Ausschau halten, wenn wir herauszufinden versuchen, warum wir Dinge sehen und Klänge hören, warum wir fühlen und riechen – wenn wir immer weiter hinter all das schauen, finden wir eine Art von Blankheit.

Diese Blankheit ist mit Achtsamkeit verbunden. Zunächst sind Sie achtsam auf etwas – Sie sind achtsam auf sich selbst, Sie sind achtsam auf die Atmosphäre, Sie sind achtsam auf Ihren Atem. Wenn Sie jedoch schauen, warum Sie achtsam sind, über das hinaus, worauf Sie achtsam sind, stellen Sie fest, dass es keine Wurzel gibt. Alles beginnt sich aufzulösen. Das ist mit „Erforsche die Natur des ungeborenen Gewahrseins“ gemeint.

4 Befreie sogar das Gegenmittel durch sich selbst

Wenn wir unseren grundlegenden Geist anschauen, kann es geschehen, dass wir eine verdrehte Logik entwickeln. Wir sagen vielleicht: „Nun gut, wenn nichts eine Wurzel hat, wozu sollen wir uns dann damit befassen? Wozu das alles? Warum glauben wir nicht einfach, dass das Ganze nun einmal keine Wurzel hat?“ Hier ist dieser nächste Slogan eine gute Hilfe: „Befreie sogar das Gegenmittel durch sich selbst.“ Das Gegenmittel ist die Erkenntnis, dass unsere diskursiven Gedanken keinen Ursprung haben. Diese Erkenntnis ist eine enorme Hilfe; sie wird zum Gegenmittel, zu einem hilfreichen Hinweis. Wir müssen jedoch über dieses Gegenmittel hinausgehen. Wir sollten nicht an dem „Wozu das alles?“, an dieser Naivität hängen bleiben.

Das Gegenmittel besagt, dass alles leer ist, also gibt es nichts, worum Sie sich kümmern müssten. In Ihrem Geist flackert die gelegentliche, kurze Einsicht auf, dass nichts existent ist. Und auf Grund der Natur dieser Shunyata-Erfahrung ist alles, was auftaucht, sei es groß oder klein, von geringer Bedeutung. Nichts spielt eine große Rolle, also lassen Sie es los. Alles ist Shunyata – also, wen kümmert’s? Sie können morden, Sie können meditieren, Sie können Kunst produzieren – alles ist Meditation, was Sie auch tun. Doch diese Einstellung hat einen Haken: Diese Art, sich in Leerheit zu suhlen, ist eine Fehlinterpretation. Man nennt sie das „Shunyata-Gift“.

Manche Menschen erklären, sie müssten sich nicht hinsetzen und meditieren, weil sie auch so schon „verstehen“. Das ist jedoch recht fragwürdig. Ich habe alles Mögliche versucht, solchen Menschen entgegenzutreten. Ich traue ihnen nicht im Geringsten, es sei denn, sie würden sich hinsetzen und praktizieren. Es ist Unfug, wenn Sie behaupten, Sie würden meditieren, wenn Sie in einem Fluss in den Rocky Mountains fischen gehen, oder dass Sie in Ihrem Porsche fahren und dabei meditieren oder dass Sie Geschirr spülen und dabei meditieren (was in gewisser Hinsicht legitimer ist). Sie mögen das, was Sie tun, auf echte Weise tun, aber es ist dennoch eine recht fragwürdige Sache.

Gegenmittel sind Gedanken wie, dass wir tun können, was wir wollen, und dass, solange wir meditativ sind, alles gut ist. Nun sagt der Text, dass man sogar das Gegenmittel – das scheinbare Gegenmittel – durch sich selbst befreien soll. Wir könnten alles Mögliche als Meditation betrachten: dauernd ins Kino gehen oder fernsehen, unser Pferd versorgen, unseren Hund füttern oder einen langen Spaziergang im Wald machen. In der abendländischen Tradition beziehungsweise in der theistischen Tradition gibt es unendlich viele Möglichkeiten dieser Art.

Die theistische Tradition spricht von Meditation und Kontemplation als von etwas ganz Fantastischem. Die populäre Vorstellung von Gott ist die, dass er die Welt erschaffen hat. Die Wälder hat Gott gemacht, die Burgruinen hat Gott gemacht, das Meer hat Gott gemacht. Also können wir schwimmen und meditieren und am Strand liegen, den Gott gemacht hat, und es uns gut gehen lassen. Diese Art theistischer Naturverehrung ist zum Problem geworden. Es gibt so viele Urlauber, so viele Naturverehrer, so viele Jäger.

Im Samye-Ling-Meditationszentrum in Schottland, wo ich einmal gelebt habe, gab es einen sehr freundlichen Nachbarn aus der Industriestadt Birmingham, der immer am Wochenende zum Vergnügen dort heraufkam. Hin und wieder erschien er in unserer Meditationshalle und saß mit uns, und dann sagte er: „Es ist ja nett, dass ihr meditiert, aber mir geht’s viel besser, wenn ich mit meinem Gewehr draußen durch die Wälder gehe und Wild schieße. Ich habe ein sehr meditatives Gefühl, wenn ich durch den Wald gehe und auf den scharfen, feinen Laut höre, wenn das Wild wegrennt und ich darauf schießen kann. Und zugleich habe ich das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun. Ich kann das Wild mit nach Hause nehmen, es kochen und meine Familie ernähren. Das gibt mir ein gutes Gefühl.“

Es geht bei diesem Slogan um den wesentlichen Punkt, dass Gegenmittel aller Art beziehungsweise Verhaltenstherapien aller Art nicht als geeignet betrachtet werden. Wir sind nicht hinter der Erleuchtung oder hinter der schlichten Erfahrung der inneren Ruhe her – wir versuchen, unserer Täuschung zu entgehen.

5 Ruhe in der Natur des Alaya, der Essenz

Dieser Slogan besagt, dass Sie mit Hilfe der Sitzpraxis der Meditation und mit einem Wissen um das absolute Bodhicitta wirklich die sieben Arten des Bewusstseins transzendieren und im achten Bewusstsein, Alaya, ruhen können. Die ersten sechs Arten des Bewusstseins sind die Sinneswahrnehmungen:

1. Sehbewusstsein, 2. Hörbewusstsein, 3. Riechbewusstsein, 4. Geschmacksbewusstsein, 5. Fühl- oder Tastbewusstsein und 6. Denkbewusstsein, der grundlegende koordinierende Faktor, der die fünf anderen (Augen-, Ohren-, Nasen-, Zungen- und Körperbewusstsein) beherrscht. Die 7. Art von Bewusstsein, der lästige Geist, ist ein Konglomerat, das alldem die Energie liefert. Im Tibetischen heißt er nyön-yi; nyön ist die Abkürzung von nyönmong (im Sanskrit klesa), wörtlich „Plage“, „Trübungen“, „Neurose“, und yi bedeutet „Geist“ im Sinne von „denkender Geist“.

Den Geist im Alaya ruhen lassen bedeutet so viel wie sich von diesem siebenfachen denkenden Geist zu befreien und in Einfachheit und im klaren, nicht unterscheidenden Geist zu ruhen. Dann bekommen Sie ein Gefühl dafür, dass Sehen, Riechen, Hören und alles andere Geschehen eine Produktion auf eigenem Grund und Boden oder im eigenen Hauptquartier ist. Sie erkennen es als solche und dann kommen Sie zurück zum Hauptquartier, wo die Produktionen begonnen haben, sich zu manifestieren. Sie ruhen einfach in der Nutzlosigkeit solcher Produktionen.

Wir gehen hier davon aus, dass es einen Ort der Ruhe gibt, den wir als „primitives Shamatha“ bezeichnen können. Hier gibt es einen Ausgangspunkt, einen Umkehrpunkt. Sie können zu mir her schauen, und während Sie zu mir her schauen, vergewissern Sie sich Ihrer selbst; aber Sie könnten mit diesem Vergewissern über sich selbst hinausgehen und feststellen, dass die Zielflugrakete bereits unterwegs ist. Es geht also darum, im Alaya zu ruhen, die Cruise-Missile fliegen zu lassen und dort zu ruhen, wo die Befehle und die Informationen herkommen.

Diese Logik oder dieser Prozess beruht zunächst auf der Voraussetzung, dass Sie sich bereits selbst vertrauen. Das bewirkt eine gewisse Entspannung. So ist das absolute Bodhicitta zu verstehen. Sie müssen nicht ständig vor sich selbst weglaufen, um draußen etwas zu bekommen. Sie können einfach heimkommen und sich entspannen. Darum geht es.

Sie versuchen sich selbst gut zu behandeln. Sie folgen nicht einer festgelegten Logik oder festgelegten konzeptuellen Vorstellungen irgendwelcher Art, einschließlich dem diskursiven Denken. In der Natur des Alaya ruhen bedeutet, dass man über die sechs Arten von Sinnesbewusstsein hinausgeht, sogar über das siebte Bewusstsein, den fundamentalen diskursiven Denkprozess hinaus, der die anderen sechs hervorbringt. Das grundlegende Alaya-Prinzip geht über all das hinaus. Wenn Sie selbst in ganz gewöhnlichen Situationen herauszufinden versuchen, wo alles herkommt, werden Sie eine primitive Ebene der Ruhe finden. In dieser primitiven, grundlegenden Existenz, auf dieser existentiellen Ebene können Sie ruhen.

Vom grundlegenden Alaya-Prinzip ausgehend entwikkeln wir alaya-vijnana oder das Alaya-Bewusstsein, das Unterscheidungen trifft. Wir beginnen zwischen diesem und jenem, wer und wessen, was und welches zu trennen. Das ist die Idee von Bewusstsein, oder wir könnten es sogar „Ich-Bewusstsein“ nennen – etwa so: Wer ist auf unserer Seite und wer ist auf der Seite der anderen. Das grundlegende Alaya-Prinzip hat keine Vorliebe, bezieht keine Stellung. Deshalb bezeichnet man es als „natürliche Fähigkeit“ oder „Tugend“. Es ist neutral. Es ist weder männlich noch weiblich und deshalb steht es auf keiner Seite und die Frage des Werbens stellt sich nicht. Das Alaya-Bewusstsein hingegen hat Tendenzen. Es ist entweder männlich oder weiblich, denn hier spielt das Konzept des Werbens eine Rolle.

Grundlegendes Wachsein, Sugatagarbha, befindet sich jenseits von Alaya, doch zugleich verträgt es sich gut damit. Es ist Vor-Alaya, aber es umfasst auch den Alaya-Zustand. Alaya hat seine grundlegende Gutheit, doch Sugatagarbha hat noch größere Gutheit. Es ist Wachheit an sich. Von diesem Standpunkt aus kann man sagen, dass selbst das Basis-Alaya eine Art von Bewusstsein ist. Obwohl es keine offizielle Kategorie des Bewusstseins als solchem ist, ist es eine Art von Gewahrsein oder vielleicht sogar eine Art von samsarischem Geist. Doch Sugatagarbha ist jenseits davon. Es ist unzerstörbar – der Vorfahre oder die Mutter von Alaya.

Wenn man ein Sinnesobjekt zu ersten Mal wahrnimmt, hat der Prozess der Wahrnehmung mehrere Komponenten. Wir verfügen über die nötigen Vorrichtungen, die etwas wahrnehmen können – die physischen Fähigkeiten der Augen, Ohren und so weiter. Außerdem gibt es die geistigen Fähigkeiten, die sich dieser speziellen Instrumente bedienen, um über bestimmte Objekte nachdenken zu können. Wenn man noch weitergeht, findet man die Absicht, dies zu tun, die Faszination oder die Neugier, die wissen möchte, was man mit diesen Objekten anfangen kann. Und wenn man noch weiter dahinter schaut, stellt man fest, dass unter oder hinter alldem eine Basiserfahrung existiert, die man als das „Alaya-Prinzip“ bezeichnet.

Entsprechend unserem Lojong-Text nennt man diese Erfahrung „grundlegende Gutheit“. Dieser Slogan bezieht sich also auf eine Erfahrung, nicht nur auf den strukturalen, mechanischen Prozess der Projektion. Wir können diesen Prozess mit der Analogie eines Filmprojektors beschreiben: Wir haben die Leinwand, die Welt der Erscheinungen; dann projizieren wir uns selbst auf diese Welt der Erscheinungen und wir haben den Film, die Unstetigkeit des Geistes, die ständig wechselnden Bilder. Wir projizieren also ein sich bewegendes Objekt auf die Leinwand. Dieses sich bewegende Objekt wird von der Maschinerie des Projektors erzeugt, der viele Zähne hat, um den Film festzuhalten, und mechanische Vorrichtungen, die dafür sorgen, dass die Projektion fortlaufend weitergeht. Genauso spielt es sich mit unseren Sinnesorganen ab. Wir schauen und wir hören und deshalb schauen wir, wenn wir hören. Wir verbinden die Situationen mittels der Zeit, obwohl sie sich in jedem Augenblick völlig verändern. Und hinter alldem ist die Glühbirne, die alles auf die Leinwand projiziert. Diese Glühbirne ist die Ursache für die ganze Angelegenheit. Wenn wir nun in der Natur des Alaya ruhen, ist das wie Ruhen in der Natur der Glühbirne hinter der Maschinerie des Filmprojektors. Ebenso wie die Glühbirne ist Alaya leuchtend und strahlend. Die Glühbirne lässt sich nicht auf die Unstetigkeit der übrigen Maschinerie ein. Sie kümmert sich nicht darum, in welchem Zustand sich die Leinwand befindet oder wie gut die Qualität der Bilder ist.

 

Ruhen im Alaya ist die eigentliche Praxis des absoluten Bodhicitta, das, was während der Sitzpraxis geschieht. Man erlebt das absolute Boddhicitta auf dieser Ebene. Absolutes Bodhicitta ist einfach die Erkenntnis, dass man die Erscheinungen nicht als etwas Festes betrachten kann, aber dass sie zugleich aus sich selbst heraus leuchten. Um die Analogie des Filmprojektors zu verwenden: Sie nehmen die Glühbirne aus dem Projektor heraus, schrauben sie in ihre gewöhnliche, altmodische Fassung und schauen sie an. Das ist das sich selbst befreiende Alaya.

Es mag Sie peinlich berühren, aber dieses Buch ist für ganz normale Praktizierende gedacht. Wir glauben nicht an Alaya, wir kultivieren es nicht, sondern wir benützen es als Trittstein. Es wäre gefährlich, wenn Sie es als Endziel betrachten würden. In diesem Fall ist es einfach eine Sprosse in der Leiter. Wir sprechen hier ganz einfach von Alaya als einem klaren Geist, einem grundlegend klaren Geist. Es ist Einfachheit und Klarheit und nicht-diskursives Denken – sehr grundlegendes Alaya. Es ist vielleicht nicht völlig frei von all den anderen Arten von Bewusstsein, einschließlich dem achten, doch es ist jedenfalls das Alaya der grundlegenden Potentialität.

Wir sollten uns, allgemein gesagt, hierüber ganz im Klaren sein. Wir versuchen an dieser Stelle nicht, sofort die Buddha-Natur zu begreifen. Diese Unterweisung über das Ruhen im Alaya richtet sich an jemandem im Anfangsstadium. Viele von uns haben Probleme, wir haben keine Ahnung, ob wir (in Meditation) sitzen oder nicht sitzen. Wir schlagen uns damit herum. Wir versuchen an unseren grundlegenden Voraussetzungen zu arbeiten. Es ist ein Prozess der Verlangsamung. Zum ersten Mal lernen wir, langsamer zu werden.

6 In der Nachmeditation sei ein Kind der Illusion

Ein Kind der Illusion sein bedeutet, dass sich in der Erfahrung der Nachmeditation ein ganz bestimmtes Gefühl einstellt – alle Erfahrung scheint darauf zu basieren, dass man die grundlegenden Wahrnehmungen aus den eigenen Voreingenommenheiten heraus erschafft. Wenn Sie dieses Gefühl durchschneiden und mit dieser Erfahrung ein gewisses grundlegendes Verständnis des Gewahrseins verbinden können, erkennen Sie, dass die Spiele, die im Gange sind, nicht einmal große Spiele sind, sondern einfach nur illusorische Spiele. Das zu erkennen erfordert viel Achtsamkeit und Gewahrsein und diese beiden müssen zusammenarbeiten. Wir sprechen hier von „aktiver Meditation“ oder der „Disziplin der Nachmeditation“.

Mit Illusion sind hier nicht „Verschwommenheit, Verwirrung oder Trugbilder“ gemeint. Ein Kind der Illusion sein bedeutet, dass Sie das, was Sie während der Sitzpraxis erlebt haben (in der Natur des Alaya ruhen), in der Erfahrung der Nachmdeditation weiterführen. Um noch einmal die Analogie des Projektors zu Hilfe zu nehmen: Während der Nachmeditation nehmen Sie die Glühbirne heraus. Sie haben in dieser Situation keine Leinwand und keinen Film; stattdessen verwenden Sie die Glühbirne als Blitzlicht und tragen sie ständig mit sich herum.

Sie erkennen, dass Sie nach dem Ende der Sitzpraxis die Phänomene nicht verfestigen müssen. Vielmehr können Sie die Praxis fortsetzen und eine Art ständigen Gewahrseins entwickeln. Wenn Situationen etwas Schweres und Festgelegtes bekommen, lassen Sie einen Strahl der Achtsamkeit und des Gewahrseins darauf fallen. Auf diese Weise erkennen Sie immer deutlicher, dass alles geschmeidig ist und bearbeitet werden kann. Sie stellen sich darauf ein, dass die Welt der Erscheinungen nicht böse ist, dass „sie“ Sie nicht angreifen, zerstören oder umbringen werden. Man kann mit allem zurechtkommen.

Es ist wie beim Schwimmen – Sie schwimmen in Ihrer Welt der Erscheinungen herum. Sie können sich nicht einfach treiben lassen, Sie müssen schwimmen, Sie müssen Ihre Glieder benützen. Dieser Prozess, Ihre Glieder zu benützen, ist der grundlegende Kinnhaken der Achtsamkeit. Es ist die Blitzlichteigenschaft der Achtsamkeit – Sie blitzen die Situation an. So sind Sie also in der Nachmeditation ständig am Schwimmen. Und während der Meditation sitzen Sie lediglich da und ruhen in der Natur Ihres Alaya. Ganz einfach. Auf diese Weise entwickeln wir absolutes Bodhicitta. Es ist sehr einfach und gewöhnlich. Sie können das tun. Nur darum geht es.

Daran ist nichts abstrakt; Sie schauen einfach die Erscheinungen an und sehen sozusagen ihre „Polsterwand“-Eigenschaft. Das ist die Illusion: überall gepolsterte Wände. Sie denken, dass Sie gleich gegen etwas sehr Scharfes stoßen werden, während Sie gerade eine Tasse Tee oder sonst etwas trinken, doch dann stellen Sie fest, dass die Situationen auf Sie zurückprallen. Es gibt gar nicht so viel scharfen Kontrast; alles ist Teil Ihrer Achtsamkeit und Ihres Gewahrseins. Alles prallt zurück. Wenn es zurückkommt, werfen Sie es vielleicht erneut, sofern Sie kein Kind der Illusion sind, doch es kommt mit einem Piepser wieder zurück und so werden Sie ein Kind der Illusion. Das ist „Erster Gedanke, bester Gedanke“. Wenn Sie die Situationen anschauen, stellen Sie fest, dass sie weich sind und dass sie ständig auf Sie zurückprallen. Das ist keine besonders intellektuelle Erkenntnis.

Dieser Slogan handelt davon, wie man lernt, das absolute Bodhicitta im Sinne von Achtsamkeit und Gewahrsein zu kultivieren. Wir müssen lernen wirklich zu erleben, dass man in der Nachmeditation immer noch mit den Situationen umgehen kann, dass Raum da ist, jede Menge freier Raum. Ein Kind der Illusion sein bedeutet vor allem, keine klaustrophobischen Gefühle zu haben. Nach der Sitzpraxis denken Sie vielleicht: „Oh je, jetzt muss ich mich auch noch um meine Nachmeditationspraxis kümmern.“ Doch Sie sollten nicht das Gefühl haben, eingesperrt zu sein. Vielmehr können Sie sich als Kind der Illusion fühlen, das ständig herumtanzt und diese kleinen Pieptöne von sich gibt. Das ist frisch und einfach und sehr wirkungsvoll. Es geht darum, dass Sie sich selbst besser behandeln. Wenn Sie Ferien von Ihrer Praxis machen wollen, können Sie das tun und dennoch ein Kind der Illusion bleiben. Die Situationen prallen einfach weiterhin auf Sie zurück und piepen. Das ist eine sehr luzide Angelegenheit, fast komisch.

Ein Kind der Illusion sein ist sehr einfach. Es bedeutet, dass Sie bereit sind, die Einfachheit des Spiels der Erscheinungen zu erkennen und diese Einfachheit als einen Teil der Gewahrseins- und Achtsamkeitspraxis zu benützen. Das ist ein starker Slogan – „Kind der Illusion“. Denken Sie darüber nach. Sie haben reichlich Gelegenheit dazu.

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