Erziehung des Herzens

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Einführung

Die Mahayana-Tradition1 führt uns dahin, Sanftheit uns selbst gegenüber zu empfinden, und daraus erwächst Freundlichkeit gegenüber anderen. Diese Freundlichkeit, dieses Mitgefühl nennt man im Tibetischen nyingje, wörtlich „edles Herz“. Wir sind bereit, uns zur inneren Arbeit mit allen fühlenden Wesen zu verpflichten. Bevor wir uns jedoch voll und ganz auf dieses Projekt einlassen, brauchen wir eine gründliche Schulung.

Was uns daran hindert, ein „Mahayanist“ zu werden, ist der Umstand, dass wir nicht genügend Sympathie für andere und für uns selbst haben – das ist der Knackpunkt. Doch wir können dieses Problem durch ein praktisches Training bewältigen; dieses Training nennt man Lojong-Praxis, „den Geist erziehen“. Es vermittelt uns einen Weg, eine Art und Weise, an unserem taktlosen oder pedantischen oder rohen oder mürrischen persönlichen Stil zu arbeiten, eine Methode, um gute Mahayanisten zu werden. Unwissende oder dumme Mahayana-Schüler haben manchmal die Tendenz, sich selbst zu glorifizieren; sie möchten gern spirituelle Lehrer und Führer werden. Nun, wir haben eine Technik oder Praxis, um dieses Problem zu überwinden. Diese Praxis ist die Entwicklung der Demut, die durch die Erziehung des Herzens und des Geistes angeregt wird.

Nach der grundlegenden Mahayana-Anschauung geht es vor allem darum, alles, was man tut, zum Wohl anderer zu tun und eine Situation zu schaffen, die für andere hilfreich ist. Deshalb stellen wir uns darauf ein, unser Tun bereitwillig anderen zu widmen. Wenn Sie diese Haltung einnehmen, kommen Sie zu der Einsicht, dass andere wichtiger sind als Sie selbst. Mit diesen Drei zusammen – mit dieser Sicht des Mahayana, mit dieser Einstellung und mit der Erkenntnis, dass die anderen wichtiger sind – entwickelt man die Mahayana-Praxis der Geisteserziehung oder der Erziehung des Herzens.

In der Hinayana-Disziplin geht es in erster Linie um das Zähmen des Geistes. Hier arbeiten wir an den verschiedenen Arten der Unachtsamkeit und werden dadurch immer sorgfältiger und präziser und unsere Disziplin gedeiht. Wenn wir dann durch die Praxis der Shamatha-Disziplin oder Achtsamkeitspraxis gründlich gezähmt sind und uns außerdem durch Vipashyana oder Gewahrsein darin geschult haben, den Lehren wirklich zuzuhören, beginnen wir, den Dharma auf umfassende Weise zu verstehen. Dann wächst ein echtes Verständnis dafür heran, wie wir in unserem speziellen gezähmten Zustand mit anderen umgehen können.

Im Mahayana ist eher die Rede vom Erziehen des Geistes. Das ist der nächste Schritt. Der Geist ist bereits gezähmt und deshalb kann man ihn erziehen. Mit anderen Worten, wir haben es geschafft, unseren Geist durch die Praxis der Hinayana-Disziplin zu domestizieren, wie es den Prinzipien des Buddha-Dharma entspricht. Haben wir unseren Geist domestiziert, können wir weiteren Gebrauch von ihm machen. Das ist wie in der Geschichte von der wilden Kuh, die unsere Vorfahren einfingen. Wenn man die wilde Kuh eingefangen und gezähmt hat, stellt man fest, dass sie ganz bereitwillig mit denjenigen kooperiert, die sie gezähmt haben. Genau genommen gefällt es ihr sogar, domestiziert zu sein. An diesem Punkt wird die Kuh zu einem Teil unseren Haushalts. Es gab einmal eine Zeit, da war es nicht so – ich bin sicher, dass die Kühe wild und unbändig waren, bevor wir sie gezähmt haben.

Geisteserziehung heißt aufTibetisch lojong. lo bedeutet „Intelligenz“, „denkender Geist“, „das, was Dinge wahrnehmen kann“; jong bedeutet „Training“ oder „Bearbeitung“. Die Lehren des Lojong bestehen aus mehreren Schritten oder Punkten der Mahayana-Disziplin. Die grundlegende Disziplin der Geisteserziehung oder Lojong ist ein siebenfältiger Reinigungs- oder Bearbeitungsprozess, dem wir unseren Geist unterziehen.

Dieses Buch basiert auf dem Kadampa-Basistext Der Wurzeltext der sieben Punkte der Geisteserziehung und auf dem Kommentar von Jamgon Kongtrul. Im Tibetischen heißt der Kommentar changchup shunglam. shung ist der Begriff, den man für „Regierung“, aber auch für „das Gros“ oder „Körper“ (wie in „Lehrkörper“) verwendet. shung bedeutet also etwa „der zentrale Regierungsapparat“. Man könnte zum Beispiel die tibetische Regierung pö-shung nennen – bedeutet „Tibet“, shung bedeutet „Regierung“. Die Regierung, die ein Land zu regieren hat, besteht aus einer vielgliedrigen Verwaltung – sie kümmert sich um die Psychologie des Landes, um seine Wirtschaft, um seine Politik und um seine inneren Angelegenheiten. shung ist eigentlich die Arbeitsgrundlage. lam bedeutet „Pfad“. shunglam ist also sozusagen die Hauptstraße, ein grundlegender Prozess der Arbeit zur Erleuchtung hin. Mit anderen Worten, es ist der spezielle Mahayana-Weg, die große Straße, auf der jeder vorankommt, ein breiter Weg, besonders breit und besonders offen. changchup bedeutet „Erleuchtung“, shung bedeutet „weit“ oder „grundlegend“ und lam bedeutet „Pfad“. Der Titel des Kommentars lautet also: „Der grundlegende Pfad zur Erleuchtung“.

Der Haupttext basiert auf Atishas Unterweisungen über Lojong und geht auf die Kadampa-Schule des tibetischen Buddhismus zurück, die sich etwa um die Zeit Marpas und Milarepas entwickelt hat, als sich die klösterliche Tradition Tibets etablierte und tiefe Wurzeln fasste. Die Kagyüpa erhielten diese Unterweisungen über die richtige Praxis des Mahayana-Buddhismus von Gampopa, der ein Schüler sowohl Milarepas als auch diverser Kadampa-Lehrer war. Es gibt zwei Kadampa-Schulen, die so genannte „komtemplative Kadampa-Schule“ und die „intellektuelle Kadampa-Schule“. Das, was wir hier behandeln, bezieht sich auf die kontemplative Tradition der Kadampa. Die Gelugpa spezialisierten sich hingegen auf die Dialektik und verstanden die Kadampa-Tradition eher von einem philosophischen Ansatz her.

Der Begriff kadam hat für uns eine interessante Bedeutung. ka bedeutet „Auftrag“, etwa so, wie wenn ein General vor seinen Truppen eine anfeuernde Rede hält oder ein König seinen Ministern einen Auftrag erteilt. Wir könnten auch „Logos“ sagen oder „Wort“, wie in der christlichen Tradition, in der es heißt: „Am Anfang war das Wort.“ Diese Art von Wort ist ein grundlegend heiliger Auftrag, der erste, der jemals ausgesprochen wurde. In unserem Fall bezieht sich ka auf eine Vorstellung von absoluter Wahrheit und darauf, dass es sich vom Standpunkt eines Individuums aus um etwas Praktisches handelt, mit dem man etwas anfangen kann. dam bedeutet „mündliche Lehre“, „persönliche Lehre“, das heißt ein Handbuch über den richtigen Umgang mit dem Leben. ka und dam zusammen bedeutet also, dass jegliches ka, jeder Auftrag oder jede Botschaft als praktische und handhabbare mündliche Lehre betrachtet wird. Man betrachtet sie als praktische Arbeitsgrundlage für Schüler, die sich mit Kontemplation und meditativen Disziplinen befassen. Das ist die grundlegende Bedeutung von kadam.

Die wenigen Listen, die hier präsentiert werden, sind sehr einfach; daran ist nichts besonders Philosophisches. Sie enthalten lediglich das, was einer der großen Kagyü-Lehrer als „Großmutters Fingerzeig“ bezeichnet hat. Wenn die Großmutter sagt: „Das ist der Platz, wo ich immer hinging und Wildgemüse sammelte“, benützt sie üblicherweise ihren Finger, anstatt den Platz auf ein Blatt Papier zu zeichnen oder eine Landkarte zu Hilfe zu nehmen. Wir gehen hier also so vor wie die Großmutter.

Was mich selbst betrifft, so hatte ich bereits eine Menge Philosophie studiert, als Jamgon Kongtrul mir das erste Mal empfahl, dieses Buch, Changchup Shunglam, zu lesen und durchzuarbeiten, und ich war erleichtert darüber, dass der Buddhismus so einfach war und man tatsächlich etwas damit anfangen konnte. Man kann ihn wirklich praktizieren. Man kann einfach diesem Buch folgen und tun, was es sagt, und das ist außerordentlich wirkungsvoll und eine wahre Befreiung. Und dieses Gefühl von Einfachheit hält an. Es ist so kostbar und direkt. Ich finde gar keine Worte, um es zu beschreiben. Dieses Buch ist ein wenig rau, wie ein Reibeisen, aber gleichzeitig ist es so tröstlich, solch eine Schrift zu lesen. Es ist eines der Charakteristika von Jamgon Kongtrul, dass er in seinen Schriften seinen Ton völlig verändern kann, als wäre er ein ganz anderer Autor. Wann immer er über ein bestimmtes Thema schreibt, passt er seine Art des Schreibens ganz diesem jeweiligen Thema an. Es ist sein grundlegendes Gewahrsein in der Beziehung zu seiner Leserschaft, das diese großen Unterschiede möglich macht.

Jamgon Kongtruls Kommentar zu den Kadampa-Slogans ist eines der besten Bücher, die ich in den ersten Phasen meiner Begeisterung für das Klosterleben studierte. Ich war dabei, ein einfacher, kleiner Mönch zu werden. Ich studierte diese Texte und ich war dabei, eine guter kleiner Buddhist und ein kontemplativer Typ zu werden. Dieser Faden zieht sich durch mein ganzes Leben. Trotz aller Komplikationen in meinem Leben und der vielen organisatorischen Probleme fühle ich mich immer noch als ein grundsätzlich einfacher, romantischer Buddhist, der eine sehr tiefe Beziehung zu den Lehrern und den Lehren hat.

Die Dharma-Schriften sind wie Tropfen flüssigen Goldes. Jedes Mal, wenn man solch ein Buch liest, erhält man erneut die Bestätigung, dass der Dharma etwas sehr Einfaches und Direktes an sich hat. Das macht mich ungeheuer glücklich und ich schlafe gut. Die Präsentation der Lehren kann eine gewisse Scharfkantigkeit haben, denn es geht ja um das Zerschneiden von Vorurteilen und anderen Ego-Kämpfen. Aber zugleich findet man im Mahayana-Buddhismus auch immer wieder den soft spot, die zarte Stelle der Hingabe und Einfachheit, die man niemals vergessen kann. Das ist sehr wichtig. Ich will hier nicht dramatisch sein; sollte es so ankommen, wäre dies bedauerlich. Aber ich habe nun einmal ein ganz besonders positives Gefühl, was Jamgon Kongtrul und seine Art, diese Lehren zu vermitteln, betrifft.

 

Punkt eins

Die Vorbereitungen, die eine

Grundlage für die Dharma-Praxis

bilden

1

1 Als Erstes schule dich in den Vorbereitungen

Beim Praktizieren der Slogans und auch ganz allgemein im Alltag sollten Sie sich ständig folgender Punkte bewusst sein:

1. der Kostbarkeit des menschlichen Lebens und insbesondere des glücklichen Umstands, dass Sie in einer Umgebung leben, die es Ihnen ermöglicht, die Lehren des Buddha-Dharma zu hören;

2. der Realität des Todes und dass er ganz plötzlich und ohne Vorwarnung kommen kann;

3. der Falle des Karmas – dass alles, was Sie tun, sei es tugendhaft oder nicht, Sie immer mehr in die Ketten von Ursache und Wirkung fesselt; und

4. der Intensität und Unvermeidlichkeit des Leidens, Ihres Leidens und des Leidens aller anderen fühlenden Wesen.

Dies nennt man „die Haltung der vier Mahnungen einnehmen“.

Mit dieser Einstellung als Grundlage sollten Sie sich voller Hingabe an Ihren Guru wenden und, angeregt von seinem oder ihrem Beispiel, dabei eine Atmosphäre der geistigen Gesundheit in sich selbst erzeugen. Geloben Sie, die Wurzeln der Unwissenheit und des Leidens auszurotten. Das ist sehr eng mit der Idee von Maitri, Herzenswärme oder liebevoller Zuneigung, verbunden. In der traditionellen Analogie des spirituellen Pfads ist das einzige reine Liebesobjekt eine Person, die uns den Weg zeigen kann. Sie können eine liebevolle Beziehung zu Ihren Eltern, Verwandten etc. haben, aber da gibt es dennoch Probleme – Ihre Neurose ist auch mit im Spiel. Eine reine Liebesbeziehung ist nur mit dem spirituellen Lehrer beziehungsweise der Lehrerin möglich. Deshalb wird dieses ideale sympathetische Objekt als Ausgangspunkt verwendet, als eine Möglichkeit, eine Beziehung jenseits der eigenen Neurose zu entwickeln. Vor allem im Mahayana ist der Lehrer für Sie jemand, der Sie aus der Depression heraus und von der Euphorie herunter holt – so etwas wie ein beruhigendes Prinzip. Vom Mahayana-Blickwinkel aus ist der Lehrer insbesondere deshalb wichtig.

Dieser Slogan macht den Unterschied zwischen Samsara (Epitome des Schmerzes, des Gefangenseins und der gestörten geistigen Gesundheit) und dem Wurzel-Guru (Verkörperung der Offenheit, Freiheit und geistiger Gesundheit) als Grundlage für jegliche Praxis deutlich. In dieser Hinsicht ist er sehr stark von der Vajrayana-Tradition beeinflusst.

Punkt zwei

Die zentrale Praxis,

die Schulung in Bodhicitta

2

Absolutes und relatives Bodhicitta

Absolutes Bodhicitta und die Paramita Großzügigkeit

Das eigentliche oder absolute1 Bodhicitta-Prinzip basiert auf der Entwicklung der Paramita Großzügigkeit, symbolisiert durch ein Wunsch erfüllendes Juwel. Das tibetische Wort für Großzügigkeit, jinpa, bedeutet „geben“, „öffnen“ oder „teilen“. Großzügigkeit beinhaltet also die Idee, nicht zurückzuhalten, sondern ständig zu geben. Großzügigkeit ist aus sich selbst heraus existierende Offenheit, vollständige Offenheit. Man ist nicht mehr damit beschäftigt, die eigenen Vorstellungen oder Projekte zu päppeln.

Und es gibt kein besseres Mittel, um sich zu öffnen, als wenn man mit sich selbst und anderen Freundschaft schließt.

Entsprechend der Tradition gibt es drei Arten von Großzügigkeit. Die erste ist die gewöhnliche Großzügigkeit, die darin besteht, dass man materielle Güter hergibt oder eine angenehme Situation für andere schafft. Die zweite ist das Geschenk der Furchtlosigkeit. Man beruhigt andere, gibt ihnen ein Gefühl der Sicherheit und macht ihnen deutlich, dass sie sich nicht völlig ausgeliefert und vom Schicksal geschlagen fühlen müssen. Man hilft ihnen zu erkennen, dass es grundlegende Gutheit und die spirituelle Praxis gibt und dass jeder die Möglichkeit hat, sein Leben auszuhalten. Das ist das Geschenk der Furchtlosigkeit. Die dritte Art der Großzügigkeit ist das Geschenk des Dharma. Man zeigt anderen, dass es einen Pfad gibt, der aus Disziplin, Meditation und Intellekt oder Wissen besteht. Mit Hilfe der drei Arten von Großzügigkeit kann man den Geist anderer Menschen öffnen. So lassen sich Enge, Elend und Kleinherzigkeit in eine viel weiträumigere Sicht der Dinge verwandeln.

Dies ist die grundlegende Vision des Mahayana – dass die Menschen größer, weiträumiger denken. Wir können es uns leisten, uns zu öffnen, uns auf den Rest der Welt mit einem Gefühl enormer Großzügigkeit, enormer Gutheit und enormen Reichtums einzulassen. Je mehr wir geben, desto mehr bekommen wir – obwohl das, was wir vielleicht bekommen mögen, nicht der Grund für das Geben sein sollte. Es ist eher so, dass wir uns umso inspirierter fühlen, immer weiter zu geben, je mehr wir geben. Und das Bekommen wiederum ergibt sich ganz natürlich, automatisch, zu jeder Zeit.

Das Gegenteil von Großzügigkeit ist Geiz, Festhalten – deshalb, weil man eine Armutsmentalität hat, um es auf den Punkt zu bringen. Das Grundprinzip der Slogans des absoluten Bodhicitta ist das Ruhen im achten Bewusstsein oder alaya, anstatt den diskursiven Gedanken zu folgen. alaya ist ein Sanskrit-Wort und bedeutet „Basis“ oder manchmal auch „Wohnsitz“ oder „Heim“, wie etwa in Himalaya, „Wohnsitz des Schnees“. Damit ist die Vorstellung von weiter Ausdehnung verbunden. Es ist der fundamentale Zustand des Bewusstseins, bevor es sich in „Ich“ und „andere“ oder in die diversen Emotionen aufgespalten hat. Es ist der Boden, auf dem die Erfahrungen verarbeitet werden – wo sie existieren. Um in der Natur des Alaya zu ruhen, müssen Sie Ihre Armutsmentalität hinter sich lassen und erkennen, dass Ihr Alaya genauso gut ist wie jedermanns Alaya. Sie haben das Gefühl, reich zu sein und sich selbst zu genügen. Sie können das wirklich und Sie können es sich auch leisten zu geben. Die Slogans des absoluten Bodhicitta (2 – 6) enthalten die grundlegenden Bezugspunkte, mittels derer wir uns mit dem absoluten Bodhicitta vertraut machen.

Das absolute Bodhicitta entspricht dem absoluten Shunyata-Prinzip. Wenn wir von einem absoluten Shunyata-Prinzip sprechen, müssen wir auch das Prinzip des absoluten Mitgefühls verstehen. Shunyata ist wörtlich mit „Offenheit“ oder „Leerheit“ zu übersetzen. Grundsätzlich bedeutet Shunyata das Verstehen der Nichtexistenz. Wenn Sie beginnen die Nichtexistenz zu verstehen, können Sie es sich leisten, mitfühlender zu sein, eine größere Bereitschaft zum Geben zu haben. Eine Schwierigkeit liegt darin, dass wir üblicherweise an unserem Hoheitsgebiet festhalten möchten und uns auf diesen Standort fixieren. Doch wenn wir das tun, haben wir keine Möglichkeit mehr zu geben. Shunyata verstehen bedeutet einzusehen, dass man keinen Standort finden kann, dass wir grundlegend frei, unaggressiv und offen sind. Wir erkennen, dass wir selbst in Wirklichkeit nichtexistent sind. Wir sind nicht – oder eher: Nein2. Dann können wir geben. An diesem Punkt haben wir viel zu gewinnen und nichts zu verlieren. Das ist etwas sehr Grundlegendes.

Mitgefühl beruht auf einem gewissen Gefühl einer „weichen Stelle“ in uns. Es ist, als hätten wir eine kleine Pustel an unserem Körper, die sehr wund ist – so wund, dass wir sie nicht reiben oder kratzen mögen. Beim Duschen geben wir Acht, nicht zu viel Seife damit in Berührung zu bringen, weil das wehtut. Ein wunder Punkt oder eine weiche Stelle, die schmerzt, wenn man daran reibt oder heißes oder kaltes Wasser darauf tut.

Diese wunde Stelle an unserem Körper ist eine Analogie für Mitgefühl. Warum? Weil wir sogar inmitten gewaltiger Aggression, Empfindungslosigkeit oder Faulheit immer eine weiche Stelle haben, einen Punkt, den wir kultivieren können – oder den wir zumindest nicht verletzen wollen. Jedes menschliche Wesen hat diese Art von grundlegender weicher Stelle und die Tiere ebenfalls. Auch wenn wir völlig außer uns sind, dumpf, aggressiv, auf dem Egotrip oder was sonst noch, so gibt es doch immer diese weiche Stelle in uns. Eine offene Wunde wäre eine noch anschaulichere Analogie. Sie ist immer da. Diese offene Wunde ist im Allgemeinen sehr unerfreulich und problematisch. Wir mögen sie nicht. Wir möchten knüppelhart sein. Wir möchten kämpfen, um stark dazustehen, um nicht einen einzigen Aspekt unserer selbst verteidigen zu müssen. Wir möchten unseren Feind angreifen, jetzt sofort, mit bloßen Händen. Wir möchten alle und jeden ganz und gar in der Hand haben, sodass wir nichts zu verstecken brauchen. Wenn dann jemand auf die Idee kommt zurückzuschlagen, werden wir nicht verwundet. Doch hoffentlich schlägt keiner auf diese wunde Stelle, diese Wunde, die wir in uns tragen. Unser grundlegendes Make-up, die grundlegenden Bestandteile in unserem Geist basieren auf Mitgefühl und Aggression zugleich. Doch wie verwirrt wir auch sein mögen, was für ein kosmisches Monster wir sein mögen – immer gibt es eine offene Wunde, eine wunde Stelle in uns. Es wird immer eine wunde Stelle geben.

Manche Leute interpretieren diese wunde Stelle oder offene Wunde als „religiöse Überzeugung“ oder „mystische Erfahrung“. Aber lassen wir das lieber sein. Sie hat nichts mit Buddhismus zu tun, auch nichts mit Christentum und mehr noch: nichts mit irgendetwas anderem überhaupt. Es ist einfach nur eine offene Wunde, eine ganz einfache offene Wunde. Das ist schön – wenigstens sind wir irgendwo zugänglich. Wir sind nicht ständig von oben bis unten in eine Rüstung gehüllt. Wir haben irgendwo eine weiche, zarte Stelle, eine offene Wunde. So eine Erleichterung! Der Erde sei Dank!

Dank dieser speziellen wunden Stelle können wir uns verlieben, selbst wenn wir ein kosmisches Monster sind – Mussolini, Mao Tse-tung oder Hitler. Wir können Schönheit, Kunst, Dichtung oder Musik wertschätzen. Der Rest von uns mag mit einer eisenbeschlagenen Rüstung bedeckt sein, doch eine wunde Stelle ist immer da – und das ist fantastisch. Diese wunde Stelle nennt man „Embryo-Mitgefühl“, potenzielles Mitgefühl. Wenigstens haben wir eine Art Lücke, eine gewisse Diskrepanz in unserem Seinszustand, die es ermöglicht, dass grundlegende Gesundheit durchscheint.

Unsere Ebene geistiger Gesundheit kann recht primitiv sein. Unsere wunde Stelle kann einfach nur eine Liebe für Knödel oder Spagetti sein. Doch das reicht schon. Wir haben eine gewisse Öffnung. Es spielt keine Rolle, auf was sich die Liebe richtet, solange nur eine wunde Stelle, eine offene Wunde da ist. Das ist gut. Das ist die Stelle, wo alle Keime eindringen und uns befruchten können, uns in Besitz nehmen und unser System beeinflussen können. Auf dieselbe Weise kommt es zur mitfühlenden Einstellung.

Und nicht nur das, es gibt auch eine innere Wunde, die man Tathagatagarbha oder „Buddha-Natur“ nennt. Tathagatagarbha ist wie ein Herz, das von Weisheit und Mitgefühl verletzt und zerstückelt ist. Wenn die äußere und die innere Wunde zusammentreffen und miteinander zu kommunizieren beginnen, erkennen wir, dass unser ganzes Wesen aus einer einzigen wunden Stelle besteht, die man „Bodhisattva-Fieber“ nennt. Diese Verletzlichkeit ist Mitgefühl. Wir wissen überhaupt nicht mehr, wie wir uns verteidigen sollen. Eine gigantische kosmische Wunde hat sich überall ausgebreitet – eine innere Wunde und eine äußere Wunde zugleich. Beide sind sie empfindlich gegenüber kalter Luft und kleinen Störungen der Atmosphäre und das beginnt sich äußerlich und innerlich auszuwirken. Er ist die lebendige Flamme der Liebe, wenn Sie es so nennen wollen. Wir sollten allerdings sehr vorsichtig mit unseren Aussagen über die Liebe sein. Was ist Liebe? Kennen wir Liebe? Es ist ein vages Wort. Im vorliegenden Fall nennen wir es nicht einmal Liebe. Niemand kann sich vor der Pubertät eine Vorstellung von Sexualität oder Liebesaffären machen. Und solange wir nicht zu einem Verständnis durchgedrungen sind, was es mit unserer weichen Stelle auf sich hat, können wir nur über Leidenschaft reden. Es könnte allzu grandios klingen, von Mitgefühl zu sprechen. Es klingt fantastisch, aber genau genommen nicht so fantastisch wie Liebe. Liebe klingt sehr gewichtig. Mitgefühl hingegen ist eine Art von Leidenschaft3, und damit kann man leicht umgehen.

Da ist also ein Riss in unserer Haut, eine Wunde. In gewisser Hinsicht ist Mitgefühl eine sehr raue Behandlung; doch andererseits ist es auch sehr sanft. Die Absicht ist sanft, aber die Praxis ist rau. Wenn Sie die Absicht und die Praxis miteinander verbinden, werden Sie „geraut“, aber Sie werden auch „gesanftet“, sozusagen – beides zusammen. Das macht Sie zu einem Bodhisattva. Sie müssen diese Prozedur durchlaufen. Sie müssen in die Mischmaschine springen. Es ist wichtig, dass Sie das tun. Einfach in die Mischmaschine springen und mit dieser Situation umgehen. Dann werden Sie bemerken, dass Sie in der Mischmaschine schwimmen. Sie finden vielleicht sogar ein bisschen Vergnügen daran, nachdem Sie gut verarbeitet worden sind. Ein echtes Verständnis des absoluten Bodhicitta erwächst also nur aus dem Mitgefühl. Mit anderen Worten, eine lediglich logische, professionelle oder wissenschaftliche Schlussfolgerung bringt uns nicht so weit. Die fünf Slogans des absoluten Bodhicitta beschreiben Schritte zu einer mitfühlenden inneren Einstellung.

 

Viele von Ihnen sind offensichtlich – und das ist sehr schockierend – nicht sonderlich mitfühlend. Sie retten Ihre Oma nicht vor dem Ertrinken und Sie bewahren Ihren Schoßhund nicht davor, getötet zu werden. Deshalb müssen wir uns mit dem Thema „Mitgefühl“ befassen. Mitgefühl ist ein sehr, sehr großes Thema, ein ganz außerordentlich großes Thema, und dazu gehört auch, wie man wirklich mitfühlend ist. Genau genommen ist das absolute Bodhicitta die Vorbereitung für das relative Bodhicitta. Bevor wir Mitgefühl entwickeln können, müssen wir verstehen, wie wir in der richtigen Weise sein sollen. Wie Sie Ihre Oma lieben sollen und wie Sie Ihren Floh oder Ihren Moskito lieben sollen – wie Sie das tun sollen, kommt später. Der relative Aspekt des Mitgefühls kommt viel später. Solange wir das absolute Bodhicitta nicht verstehen, haben wir keine Arbeitsgrundlage dafür, mitfühlend und liebevoll zu irgendjemandem zu sein. Wir werden bestenfalls ein Mitglied beim Roten Kreuz, gehen anderen auf die Nerven und produzieren zusätzlichen Müll.

Entsprechend der Mahayana-Tradition heißt es, dass wir das zweifache Bodhicitta wecken können – das relative Bodhicitta und das absolute Bodhicitta. Wir können beide wecken. Wenn wir Bodhicitta geweckt haben, können wir weitergehen und es nach dem Beispiel des Bodhisattva praktisch umsetzen. Wir können aktive Bodhisattvas sein.

Um das absolute oder eigentliche Bodhicitta zu wecken, müssen wir uns auf Shamatha und Vipashyana einlassen. Wenn wir die grundlegende Genauigkeit des Shamatha und das völlige Gewahrsein des Vipashyana entwickelt haben, fügen wir beide zusammen, sodass sie unsere gesamte Existenz durchdringen – unsere Verhaltensmuster, unser Alltagsleben, alles. Auf diese Weise sind Achtsamkeit und Gewahrsein sowohl während der Meditation als auch während der Nachmeditation ständig präsent. Ob wir schlafen oder wach sind, essen oder herumlaufen – immer sind Genauigkeit und Gewahrsein damit verbunden. Das ist eine wundervolle Erfahrung.

Außer dieser wundervollen Erfahrung entwickeln wir auch ein Gefühl der Freundlichkeit allem gegenüber. Die frühere Ebene der Irritation und Aggression wurde sozusagen mittels Achtsamkeit und Gewahrsein verarbeitet. Stattdessen haben wir nun eine Ahnung von grundlegender Gutheit, in den Kadampa-Texten als die natürliche Fähigkeit des Alaya beschrieben. Es ist wichtig, dass wir diesen Punkt verstehen. Alaya ist der fundamentale Zustand der Existenz oder des Bewusstseins, bevor es sich in „Ich“ und „andere“ oder in die diversen Emotionen aufspaltet. Und sein grundlegender Stil oder sein natürlicher Stil ist Gutheit. Er ist überaus wohltuend. Es gibt einen grundlegenden Zustand der Existenz, der grundsätzlich gut ist und auf den wir uns verlassen können. Da gibt es Raum zum Entspannen, Raum, um uns zu öffnen. Wir können mit uns selbst und mit anderen Freundschaft schließen. Das ist die fundamentale gute Eigenschaft oder grundlegende Gutheit und es ist die Basis der Entwicklungsmöglichkeit des absoluten Bodhicitta.

Sind wir erst einmal von der Genauigkeit des Shamatha und der Wachheit des Vipashyana inspiriert worden, stellen wir fest, dass es Raum gibt und damit die Möglichkeit totaler Naivität im positiven Sinn. Das tibetische Wort für Naivität ist pak-yang, „sorglos“ oder „gelöst“. Mit unserer grundlegenden Gutheit können wir sorglos sein. Wir brauchen nicht mit allen Mitteln untersuchen und überprüfen, ob es nicht vielleicht Moskitos oder deren Eier in unserem Alaya gibt. Man kann die grundlegende Gutheit des Alaya kultivieren und sich mit ihm verbinden, ganz natürlich und uneingeschränkt, in einer pak-yang-Weise. Wir können ein Gefühl der Entspannung und Befreiung von unseren Qualen entwickeln – und überhaupt von allem Diesem-und-Jenem.

Relatives Bodhicitta und die Paramita Disziplin

Das führt uns zur nächsten Stufe. Anstatt uns bei der theoretischen, konzeptuellen Ebene aufzuhalten, wenden wir uns auch hier wieder der praktischsten Ebene zu. Im Mahayana geht es vor allem darum, wie wir uns selbst aufwecken können. Wir beginnen zu verstehen, dass wir gar nicht so gefährlich sind, wie wir dachten. Wir entwickeln ein Gefühl der Herzenswärme, Maitri, und nachdem wir Maitri entwickelt haben, befassen wir uns mit Karuna, Mitgefühl.

Die Entwicklung des relativen Bodhicitta ist mit der Paramita Disziplin verbunden. Es heißt, dass man ohne Disziplin einem Menschen gleicht, der ohne Beine zu gehen versucht. Ohne Disziplin ist die Befreiung nicht möglich. Im Tibetischen heißt Disziplin tsültrim; tsül bedeutet „richtig“ und trim bedeutet „Disziplin“ oder wörtlich „die Regeln beachten“. Man kann also trim auch mit „Regel“ oder „Recht“ übersetzen. Diese grundlegende Vorstellung von tsültrim geht über das Geben allein hinaus; es bedeutet „gutes Verhalten“. Außerdem beinhaltet es einen Sinn für Leidenschaftslosigkeit und den Verzicht auf ein persönliches Territorium. All das ist sehr eng mit dem relativen Bodhicitta verbunden.

Relatives Bodhicitta erwächst aus der einfachen und fundamentalen Erkenntnis, dass man in jeder Situation ein weiches Herz haben kann. Selbst die bösartigsten Tiere haben ein weiches Herz – sie kümmern sich um ihre Jungen und sie kümmern sich auch um sich selbst. Mit Hilfe unseres Trainings in Shamatha und Vipashyana lernen wir unsere grundlegende Gutheit verstehen und wie sie es uns ermöglicht loszulassen. Wir beginnen, uns in der Natur des Alaya niederzulassen, ohne Sorgen, sehr naiv und normal, sogar irgendwie beiläufig. Wenn wir uns loslassen, entsteht dadurch in uns das Gefühl einer guten Existenz. Man könnte das als die ganz gewöhnliche und triviale Vorstellung von Lassen-wir’s-uns-gut-Gehen auffassen. Doch wenn wir den Wunsch haben, gut mit uns selbst umzugehen, rührt das nicht daher, dass wir etwas zu erreichen versuchen; wir versuchen einfach nur wir selbst zu sein. An diesem Punkt haben wir das natürliche Gefühl, dass wir es uns leisten können, uns selbst Freiheit zu gewähren. Wir können es uns leisten, uns zu entspannen. Wir können es uns leisten, uns selbst besser zu behandeln, uns mehr zu vertrauen und uns wohl zu fühlen. Die grundlegende Gutheit des Alaya ist immer da. Dieses Gefühl von Gesundheit und Heiterkeit und Naivität ist es, das uns zur Verwirklichung des relativen Bodhicitta führt.

Relatives Bodhicitta hat damit zu tun, dass wir lernen, einander und uns selbst zu lieben. Das scheint der Angelpunkt zu sein. Es fällt uns sehr schwer, lieben zu lernen. Es wäre uns möglich zu lieben, wenn man uns ein Objekt der Faszination oder irgendeine Art von Traum oder Versprechen präsentieren würde. Aber es fällt uns sehr schwer zu lieben, wenn das einfach nur bedeutet, Liebe zu geben, ohne irgendeine Gegenleistung zu erwarten. Das ist wirklich sehr schwierig. Wenn wir uns dazu entschließen, jemanden zu lieben, erwarten wir im Allgemeinen, dass diese Person unsere Wünsche erfüllt und sich unserer Heldenverehrung entsprechend verhält. Werden unsere Erwartungen erfüllt, verlieben wir uns. Also ist unsere Liebe in den meisten unserer Liebesaffären ganz und gar bedingt. Es ist eher ein Handel als echte Liebe. Wir haben keine Ahnung, wie man ein Gefühl der Wärme vermittelt. Wenn wir beginnen jemandem ein Gefühl der Wärme zu geben, macht uns das sehr nervös. Und wenn unser Objekt der Liebe versucht, uns aufzuheitern, kommt das einer Beleidigung gleich.