Buch lesen: «John Henry Newman»

Schriftart:

Charles Stephen Dessain

JOHN HENRY
NEWMAN

Wegbereiter der Erneuerung der Kirche

Herausgegeben und mit einem Vorwort versehen von Werner Becker

Aus dem Englischen übersetzt von Hans Joachim Meyer


Das Buch erschien 1980 erstmals im St. Benno-Verlag GmbH, Leipzig. Die aktuelle Ausgabe wurde der neuen deutschen Rechtschreibung angepasst.

John Henry Kardinal Newman wurde am 19. September 2010 von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen, am 13. Oktober 2019 wird er durch Papst Franziskus zur Ehre der Altäre erhoben, d. h. heiliggesprochen.

Titel der Originalausgabe:

JOHN HENRY NEWMAN

Originally published by Adam and Black Limited, London

Text © 1966, 1971 by Charles Stephen Dessain of the Birmingham Oratory

JOHN HENRY NEWMAN

Wegbereiter der Erneuerung der Kirche

© Media Maria Verlag, Illertissen 2019

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-9479310-8-8

eISBN 978-3-9479317-8-1

www.media-maria.de

Inhalt

Vorwort

Kurze Lebensskizze Newmans

Zur Wirkungsgeschichte Newmans

Newman und die moderne katholische Theologie

Die Newman-Renaissance

Newman und das Konzil

Newman und die nachkonziliare katholische Theologie

Newman und die ökumenische Öffnung der Kirche

Papst Paul VI. und Newman

Die Ansprache Papst Pauls Vl. vom 25. April 1975

Einleitung

Die ersten dreißig Jahre (1801–1832)

Die wiedergewonnene christliche Wahrheit

Der Anführer der Erneuerungsbewegung in Oxford (1833–1838)

Newmans Einfluss auf dem Höhepunkt

Verzicht auf die Führung: von Littlemore nach Rom (1838–1845)

Das englische Oratorium und die irische Universität (1841–1858)

Die Verteidigung der Laien: die Apologia (1859–1864)

Katholischer Extremismus in Erziehung und Lehre (1864–1875)

Entwurf einer Zustimmungslehre

Letzte Mühen (1875–1890)

Anhang

Quellenverzeichnis

Bibliografie

Vorwort

Dieses Buch will dem Leser eine Begegnung mit dem englischen Kardinal Newman vermitteln, dessen Name unverlierbar zur Geschichte der Erneuerung der katholischen Kirche gehört, die wir heute erleben. Er gilt als ihr »genialer Vorläufer«1. Sein Leben füllt fast das ganze 19. Jahrhundert aus. 1801 wurde er geboren und in der anglikanischen Kirche getauft, 1890 starb er als Kardinal.

Er hat einmal vorausgesagt, dass seine Stunde erst nach hundert Jahren kommen werde, und dies hat sich erfüllt, als Papst Johannes XXIII. die katholischen Bischöfe der ganzen Welt zum Konzil nach Rom rief (1962–1965).

Während des Konzils gehörte er zu den meist zitierten Theologen der Vergangenheit, und wenig später nannte Heinrich Fries ihn sogar »das Gewissen des Konzils«. Papst Johannes beruft sich gleich in seiner ersten Enzyklika zur Ankündigung des Konzils (29. Juni 1959) auf den »hochberühmten englischen Schriftsteller« fast wie auf einen Kirchenlehrer.2

Bei einem 1975 aufgrund einer Anregung von Papst Paul VI. in Rom veranstalteten Newman-Kongress, auf den wir hier noch zurückkommen werden, stellte ein Referent, P. Edward E. Kelly SJ, die Frage, ob Newman im heutigen Kontext der von ihm so genannten »Rahner-Küng-Epoche« der katholischen Theologie noch aktuell sei.3 Dieses Vorwort möchte neben der Absicht, einen ersten Zugang zu der Persönlichkeit Newmans zu vermitteln, der Beantwortung dieser Frage dienen.

Ganz unabhängig davon, wie die Antwort ausfällt: Newman steht als »prophetischer Denker«4 in der Reihe der »Meister einer Theologie des Herzens« wie Augustinus, Bonaventura, Franz von Sales, Kardinal de Bérulle, Thomas von Aquin und Pascal5, die mit ihrem Leben und Denken ebenso an unser personales Einfühlungsvermögen appellieren wie an unsere Bereitschaft, geschichtlich zu denken.

Nicht nur in der katholischen Kirche werden die Väter des Glaubens wieder mehr und mehr beachtet. Zu den Kirchenvätern der frühen Zeit, die die katholische Kirche ausdrücklich zu »Kirchenlehrern« erklärt hat, treten Männer aus der jüngeren Vergangenheit6, und gerade John Henry Newman ist für die durch das II. Vatikanische Konzil erneuerte katholische Theologie der »Kirchenlehrer der Neuzeit«7.

Wenn der Verfasser dieses Buches, der englische Oratorianer C. S. Dessain, in seiner »Einführung« Newman in seine Zeit und Umwelt hineinstellt, so zeigt sich allerdings sogleich, wie fremd und fern uns heute das bürgerliche Zeitalter der Königin Victoria von England ist. Führte nicht die Oxforder Universität ein »insulares« Dasein? Kannten nicht ihre Professoren das Festland nur aus ihren Studienreisen? Lohnt es sich, die verwickelten Verhältnisse der Staatskirche und der anderen christlichen Kirchen und Kirchengemeinschaften Englands so bis ins Einzelne kennenzulernen, wie es in diesem Buch angeboten wird? Auch wer so fragt, dem wird schon im ersten Kapitel die Begegnung mit einer groß angelegten Persönlichkeit ermöglicht, die die Geschichte der Kirche bis in unsere Zeit hinein geprägt hat und prägt.

Dessains Newman-Buch ist der Abschluss einer Lebensarbeit8, die ganz im Dienst des großen Kardinals gestanden hat. Er ist ein sicherer und zuverlässiger Führer durch sein Leben und Werk.

Als Newman starb, galt es für seine Brüder im Oratorium zu Birmingham, ein großes Erbe zu bewahren. Seit 1846 hatte Newman in der Gemeinschaft von Priestern gelebt, die er nach der Regel des vom heiligen Philipp Neri vor mehr als 400 Jahren in Rom begründeten Oratoriums zusammengerufen hatte. Vorher, in seiner anglikanischen Zeit, wirkte er in Oxford als Seelsorger der ihm als Tutor anvertrauten Studenten. Hier verkündigte er das Wort Gottes in sorgfältig aufgezeichneten Predigten (über 300 von ihnen blieben uns erhalten), hier und in Birmingham schrieb er seine Bücher und die unendlich vielen Briefe.

Viele glückliche Umstände mussten zusammentreffen, damit im Newman-Archiv in Birmingham das gesamte Lebenswerk eines großen Schriftstellers gesammelt und gehütet werden konnte, und dazu gehört auch die Gewohnheit aus der Zeit der Romantik, Briefe aufzubewahren, und erst recht die selbstvergessene Hingabe der Nachlassverwalter bis hin zu Charles Stephen Dessain, dem Herausgeber seiner Briefe und Tagebücher in 31 großen Bänden. Erst in jüngster Zeit wurden im Auftrag amerikanischer Universitäten nicht weniger als 63 000 Mikrofilme von den Buch- und Briefseiten Newmans hergestellt.

Umso höher ist die Meisterschaft des Verfassers einzuschätzen, aus all diesen vielen Einzelheiten ein treffendes und überzeugendes Bild Newmans vor uns zu entwerfen. Man hat Newman den »autobiografischsten unter allen Menschen« genannt (H. Bremond). Auch das Werk, das ihn, in »königlichem Englisch« geschrieben, berühmt gemacht hat, ist eine Autobiografie: die Apologia Pro Vita Sua, eine Geschichte seiner religiösen Überzeugungen, die man mit den Bekenntnissen des Augustinus und Rousseaus verglichen hat. Newman dachte, ja er meditierte meist mit der Feder in der Hand9 – also für uns mit, die wir uns von seinen Gedanken befruchten lassen. Es sind Gedanken eines Gottsuchers, für den es »nur zwei Wesen« von »absoluter« Gewissheit und von »einleuchtender Selbstverständlichkeit« gibt, »Gott und die Seele«10, der aber zugleich auf die Menschen zuging und für jede neue Stufe der Lebenserfahrung und Welterfahrung gerüstet war. Gott war ja für ihn der Schöpfer der Welt und der Menschen, und aus der Kontemplation der Wahrheit Gottes kam ihm die Kraft, in seine Zeit zu wirken. Er war ein Genie der Freundschaft, und mit seinen Freunden verbündete er sich zu einem geistigen Kampf für die Würde des Menschen, die Freiheit des Gewissens, für die Wahrheit und die Liebe.

Kurze Lebensskizze Newmans

Der junge Newman hat, wie Dessain im ersten Kapitel seines Buches berichtet, mit fünfzehn Jahren eine für sein Leben entscheidende Bekehrung erlebt. Wir sehen ihn dann als Studenten in Oxford, wo sich der Ernst seiner Entscheidung für Gott und für Christus, der in der Bibel zu uns redet, bewähren musste. Hier fand er Lehrer und Freunde, aber auch seinen eigenen Weg der Vorliebe für die frühe Zeit des Christentums, in der bedeutenden Männern wie Clemens von Alexandrien, Athanasius und Augustinus eine Synthese der klassischen Kultur mit dem Christentum gelungen war. Er wurde zum Kritiker des Rationalismus, der damals in die philosophische und theologische Atmosphäre der Oxforder Universität eingedrungen war. Bald fasste er den Entschluss, die Priesterweihe in seiner Kirche zu erstreben, gleichzeitig blieb er aber als Tutor von Studenten des Oriel College dem ganzen Umkreis der damaligen Wissenschaften verpflichtet. Seine Predigten hielt er in einer ihm anvertrauten Vorstadtgemeinde von Oxford, aber auch von der Kanzel der Universitätskirche. In der Darstellung von Dessain sind den Predigten Newmans viele Seiten gewidmet. Hierin zeigt sich eine Entwicklung seines religiösen Denkens von einem mehr subjektiven, »evangelikalen« Christentum hin zu der Entdeckung der Bedeutung der Kirche als Trägerin der Offenbarungsreligion.11

Es war seine Erfahrung in der Seelsorge für die gläubigen Menschen, die ihn erkennen ließ, dass der Calvinismus, der damals die evangelikale Richtung innerhalb der anglikanischen Kirche beherrschte, »kein Schlüssel zu den Phänomenen der menschlichen Natur« war.12 Er entdeckte auf einem sehr persönlichen Weg die Bedeutung der Kirche des sich in Christus offenbarenden Gottes für die Heilsgeschichte der Menschheit.

In der Rückschau erscheint diese Hinwendung zur Kirche, die er als junger Priester um das Jahr 1825 erfuhr, wie eine zweite Bekehrung. Einflussreiche Freunde wie John Keble und E. B. Pusey gehörten der hochkirchlichen Richtung ihrer Kirche an.

Auf einer Reise nach Sizilien und Italien reifte in ihm der Gedanke einer besonderen Sendung, die in England auf ihn warte, für die Erneuerung und Reform der anglikanischen Kirche einzutreten. So wurde er bald der führende Kopf einer von Oxford ausgehenden Bewegung (Oxford Movement), die unter dem Namen Oxford-Bewegung bekannt ist. Er war der Hauptverfasser der Broschürenreihe (Tract I–XC), durch die diese Bewegung weite Kreise erfasst hat. Dessain beschreibt die Konflikte, besonders mit der Universität Oxford und den anglikanischen Bischöfen, die sich daraus im Lauf der Zeit für Newman ergaben. Hatte Newman in seinem ersten Traktat die Verbürgerlichung der anglikanischen Kirche, gemessen an dem Geist des »ursprünglichen« Christentums der ersten Jahrhunderte, angeprangert, warf er später den Bischöfen vor, die dogmatischen Grundlagen des Christentums preisgegeben zu haben.13 Im hohen Alter schrieb er einmal an einen Biologen: »Der Hauptgrund meines Übertritts war, dass die Anglikaner selbst daran glauben, unser Herr habe eine Kirche eingesetzt. Hat er es getan oder nicht? Wenn ja, dann muss es eine lehrende Kirche gewesen sein. Was sonst? Nun, die Church of England war keine lehrende Kirche – sie war ein mit sich selbst entzweites Haus.«14 Und das habe ihn schließlich zur katholischen Kirche geführt, die ihren Anspruch auf Lehrautorität auf den Beistand des der Kirche verheißenen Heiligen Geistes stützt. Diese Bemerkung wollte aber nicht eine Kurzformel für die Motive seiner Konversion sein, die Dessain im Einzelnen darstellt.

Der Vorwurf, dass die katholische Kirche im Wort Gottes nicht begründete Zusätze, ja Korruptionen im Lauf ihrer Geschichte aufgenommen habe, bereitete ihm schon früh eine echte Gewissensnot. Seine Antwort war eines seiner bedeutendsten Werke, über »Die Entwicklung der christlichen Lehre«, das die Kriterien zur Unterscheidung einer echten Dogmenentwicklung enthält, wie Dessain dies näherhin ausführt.

Dem Übertritt Newmans zur katholischen Kirche am 9. Oktober 1845 ging eine Zeit ernsten Ringens voraus – er verbrachte einige Jahre zusammen mit jungen Studenten fastend und betend in klösterlicher Abgeschiedenheit in seinem Pfarrdorf Littlemore.

Die Kapitel des Buches, die von der katholischen Zeit Newmans handeln, zeigen uns neue Seiten seiner vielschichtigen Persönlichkeit. Am Tag seiner Konversion schrieb er dreißig Briefe, um seine Freunde davon zu benachrichtigen. Mit seinen Studenten, die zur gleichen Zeit sich der katholischen Kirche angeschlossen hatten, wollte er zusammenbleiben. Mit einigen von ihnen fuhr er bald nach Rom, um Klarheit über seine zukünftige Aufgabe in der katholischen Kirche zu finden. Später schrieb er einmal, damals habe mit ihm die kleine katholische Minderheit in England eine Kriegsmaschine erworben, mit der sie nichts Rechtes anzufangen wusste. Er fühlte, dass einige fürchteten, sie könnte auch »nach hinten losgehen«.15

Newman überlegte ernsthaft, ob er sich mit seinen Studenten einem Orden anschließen sollte. Bezeichnend ist dabei seine Erkenntnis: »Wenn ich Jesuit werde, so würde niemand wissen, ob meine Worte noch meine eigenen Worte wären oder ob ich sozusagen noch die Fortsetzung meines eigenen Ichs sein würde.«16

In Rom stieß er auf das Oratorium, das sein Gründer, der heilige Philipp Neri, als eine Gemeinschaft von Priestern und Laien ohne Ordensgelübde gegründet hatte. Hier gab es bei aller Bindung an das Leben in der Gemeinschaft die Freiheit, sich dem Menschen als Seelsorger zuzuwenden, und zugleich die Freiheit, die eine wissenschaftliche Arbeit verlangt.17

Die erste Bewährung der kleinen Gruppe von Konvertiten, denen sich bald auch der anglikanische Jugendseelsorger F. W. Faber mit einem Teil seiner jungen Gemeinde anschloss, geschah durch die Übernahme einer Arbeiterpfarrei in der Industriestadt Birmingham. Bald darauf trennte sich Newman von einem Teil seiner Mitbrüder und errichtete für sie ein Oratorium in London, das unter der Leitung von Faber bald einen eigenen Stil seiner Tätigkeit ausbildete. Dessain schildert die Konfliktsituation, die sich aus dieser Zellteilung ergab.

»Newman war mit ganzem Herzen Oratorianer, sein Denken und Empfinden als Oratorianer, seine Tätigkeit als Gründer und Superior« der Gemeinschaft aus Priestern und Laien in Birmingham »gehören wesentlich zu seiner Gestalt« und sind der Hintergrund seiner gesamten Wirksamkeit.18 1850 entließ Papst Pius IX. die katholische Kirche Englands aus der Obhut der Kongregation für die Missionsländer (Congregatio de Propaganda Fide, kurz Propaganda Fide genannt) und richtete für England eine bischöfliche Hierarchie ein. Von ihr erhielt Newman den Auftrag zur Gründung einer katholischen Universität in Dublin, für die der irische Episkopat die Verantwortung übernahm (1852–1858). Dessain schildert, durch welche Umstände diese Aufgabe in seinem Leben eine Episode blieb, und ebenso das Scheitern anderer Pläne dieser Zeit, darunter die Übersetzung der Bibel in modernes Englisch und seine Weihe zum Bischof. Wiederholt wurde Newman in Rom denunziert, ohne dass er sich verteidigen konnte, besonders nachdem er als Herausgeber einer Zeitschrift (The Rambler) für das Recht der Laien eintrat, auch in Fragen der kirchlichen Lehre »konsultiert« zu werden.

Hatte Newman früher als Anglikaner seine ernsten Bedenken gegen das humanistische Bildungsideal des Liberalismus angemeldet, so kämpfte er jetzt für das Recht der »zweckfreien Bildung« (liberal education) und damit eines damals zeitgemäßen christlichen Humanismus. Für seine Universität hatte er »eine freie Wissenschaft unter dem Dach der Theologie« gefordert. Sein Verhältnis zu H. E. Manning, der zehn Jahre nach seiner Konversion Erzbischof von Westminster (London) geworden war, wurde immer angespannter. Die Jahre 1858 bis 1864 sind für ihn eine Zeit der Frustration und Resignation, die er einmal so begründet: »Weil Hannibals Elefanten nicht lernen konnten, auf der Stelle zu treten.«19

Erst 1864 ging er mit seiner Autobiografie wieder an die Öffentlichkeit, weil von anglikanischer Seite die innere Wahrhaftigkeit seiner Konversion zugleich mit der Wahrheitsliebe des katholischen Klerus überhaupt in einem Zeitschriftenartikel in Zweifel gezogen worden war. Durch die rückhaltlose Offenlegung seiner Motive, die ihn zuerst zur Oxford-Bewegung und dann zur katholischen Kirche geführt hatten, gewann er die Sympathie der englischen Öffentlichkeit zurück. Die Katholiken waren stolz auf ihn, aber in seinem Verhältnis zu den kirchlichen Behörden blieb er, wie er sagt, »unter der Wolke«.

Ein neuer Konflikt entstand für Newman zur Zeit der Vorbereitung und Durchführung des I. Vatikanischen Konzils (1869–1870). Eine offizielle Teilnahme daran hatte Newman mit der Bemerkung abgelehnt: »Ich bin kein Theologe.«20 Die sehr differenzierte Stellungnahme Newmans zum Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes wird von Dessain ausführlich dargestellt. Mit diesem Zeitpunkt beginnt ein besonders aktueller Teil des Buches von Dessain. Die Kirche drohte nach der Meinung Newmans im Zusammenhang mit den restaurativen Tendenzen des 19. Jahrhunderts unter die Herrschaft einer »fanatischen Partei« zu kommen. In einem erst kürzlich veröffentlichten Brief von 1867 schreibt Newman sogar: »Erzbischof Manning und ich gehören zwei verschiedenen Religionen an.«21

Newman ließ sich jedoch in seiner Treue zur Kirche nicht beirren. 1868 wurde mit seiner Zustimmung eine Neuausgabe seiner Predigten aus der anglikanischen Zeit veranstaltet, die noch stärker biblisch orientiert waren als die späteren katholischen Predigten. Dadurch trat die Einheit von Leben und Werk immer deutlicher hervor.

Als fast 70-Jähriger schrieb er sein größtes Werk über die Glaubensbegründung, er nannte es Entwurf einer Zustimmungslehre. Hier setzte er das personale Denken dem bloßen Denken in Begriffen entgegen, dem nach seiner Meinung die herrschende Neuscholastik verfallen war, und dem Glaubensbegriff dieser Schule (Glaube als Fürwahrhalten von Sätzen) den lebendigen, personalen Glauben. Das Buch war eine Antwort auf die Glaubensschwierigkeiten seiner Freunde, denen er sich jahrzehntelang in vielen Briefen und Gesprächen gestellt hatte. Zugleich sollte es aber auch eine verantwortliche und stichhaltige Begründung des Glaubens für die einfachen Menschen bieten, die nicht auf eine intellektuelle Auseinandersetzung vorbereitet waren.

Inzwischen war das I. Vatikanische Konzil zu Ende gegangen, und es gab wie bei jedem Konzil große Schwierigkeiten seiner Durchführung und Rezeption sowohl bei den Theologen wie in den Gemeinden. Wenn Papst Pius IX. auch viel weniger erreicht hatte, als er wollte, so war doch die Stellung des Papsttums dadurch gestärkt worden.22 Politiker sahen die Untertanentreue der Katholiken durch die Definition der Unfehlbarkeit des Papstes gefährdet. In Deutschland wurde das Konzil von Bismarck zum Anlass eines »Kulturkampfes« gegen die Katholiken genommen, und in England trat Ministerpräsident Gladstone in Reden und Broschüren gegen das Konzil auf, das ihm nur in der einseitigen Interpretation Kardinal Mannings bekannt war. Newman war inzwischen 74 Jahre alt und er hatte nicht gedacht, dass noch einmal ein Ruf von außen ihn zur Feder greifen lassen würde. Nun entstand 1875 eines seiner bedeutendsten polemischen Werke in der Form eines »Briefes an den Herzog von Norfolk«.23 Sein Thema war die Lehre vom Gewissen als Grundprinzip der Religion, näherhin von der Gewissensfreiheit des Katholiken auch gegenüber dem Papst, nicht ohne Einordnung in das Ganze, wie Dessain ausführt, aber jedenfalls in dem Sinn, dass die Katholiken nicht »Sklaven sind in geistiger und moralischer Beziehung«, wie man ihnen vorwarf.24 Nicht zuerst der Papst, sondern das Gewissen ist, wie Newman sagt, der ursprüngliche Stellvertreter Christi.

Newman blieb auch im Alter in Kontakt mit seinen vielen Korrespondenten. Die große Neuausgabe seines gesamten Werkes machte stetige Fortschritte, sodass die Einheit seiner anglikanischen und seiner katholischen Lebenszeit jedem Zweifel enthoben war. Die Jahre 1878 und 1879 brachten zwei unerwartete Höhepunkte seiner äußeren Geltung, eine Anerkennung für ihn durch seine Universität Oxford durch die Ernennung zum Ehrenmitglied des Trinity College in Oxford und durch seine Erhebung zum Kardinal. Er reiste nach Rom und erreichte, dass er ausnahmsweise in seinem Oratorium in Birmingham wohnen bleiben konnte. Seine Kräfte waren aber so erschöpft, dass ein Arzt ihn auf der beschwerlichen Reise begleiten musste.

Ein Jahrzehnt stand ihm noch als letzte Lebenszeit bevor. In dieser Zeit füllte sich die Zahl des auf fünf Priester zusammengeschmolzenen Oratoriums wieder auf und die damals eingetretenen Novizen bestimmten das Bild des Oratoriums von Birmingham noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Newman blieb bis an sein Lebensende Praepositus des Oratoriums.25 1890 ging sein Leben zu Ende, und es begann die Epoche einer für viele unerwartet großen Nachwirkung.

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