Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Siebtes Kapitel

Oliver bleibt widerspenstig.

Noah Claypole rannte, so schnell er konnte, die Straße entlang und hielt kein einziges Mal an, um Atem zu holen, bis er am Tor des Armenhauses ankam. Nachdem er dort ein wenig verschnauft hatte, um für einen theatralischen Auftritt voller Tränen, Schluchzer und Entsetzen Kraft zu sammeln, klopfte er laut an das Pförtchen im Tor und zeigte dem betagten Armenhäusler, der öffnete, ein so klägliches Gesicht, dass sogar dieser, der die meiste Zeit nichts als klägliche Gesichter zu sehen bekam, erstaunt zurückfuhr.

»Nanu, was hat der Junge bloß?«, entfuhr es dem alten Armenhäusler.

»Mr. Bumble! Mr. Bumble!«, rief Noah mit gut gespieltem Schrecken und so lauter und aufgeregter Stimme, dass sie Mr. Bumble, der sich zufällig in der Nähe befand, nicht bloß ans Ohr drang, sondern ihn auch derart beunruhigte, dass er ohne Dreispitz in den Hof stürmte, was ein ebenso seltsamer wie bemerkenswerter Vorgang war, da er zeigt, wie selbst ein Büttel, von einem plötzlichen und starken Drang getrieben, vorübergehend vom Verlust seiner Selbstbeherrschung heimgesucht werden und seine persönliche Würde vergessen kann.

»Oh, Mr. Bumble, Sir!«, sagte Noah. »Oliver, Sir … Oliver ist …«

»Was? Was?«, unterbrach Mr. Bumble mit einem freudigen Aufleuchten in seinen metallenen Augen. »Doch nicht fortgelaufen, er ist doch wohl nicht fortgelaufen, oder, Noah?«

»Nein, Sir, nein. Nicht fortgelaufen, Sir, aber er ist bösartich geworden«, erwiderte Noah. »Er hat versucht, mich zu morden, Sir, und dann wollte er noch Charlotte morden, und auch die Frau Meisterin. Oh, mir tut alles weh! Was für Schmerzen, Sir!« Und dabei drehte und wand er seinen Leib wie ein Aal in zahlreichen Windungen, um Mr. Bumble zu verstehen zu geben, dass er durch den brutalen und mörderischen Angriff Oliver Twists schwere innere Verletzungen und Schäden davongetragen habe, wegen derer er im selbigen Augenblick die größten Qualen leide.

Als Noah bemerkte, dass die von ihm überbrachte Nachricht Mr. Bumble völlig lähmte, verlieh er ihr noch zusätzlich Wirkung, indem er seine fürchterlichen Wunden zehnmal lauter als zuvor beklagte, und als er sah, wie ein Herr in weißer Weste den Hof überquerte, wurde sein Gejammer noch dramatischer, denn er hielt es zu Recht für förderlich, die Aufmerksamkeit des besagten Herrn zu erregen und dessen Empörung hervorzurufen.

Die Aufmerksamkeit des Herrn war sehr bald erregt, denn dieser hatte noch keine drei Schritte getan, als er sich verärgert umwandte und sich erkundigte, warum die kleine Kanaille ein derartiges Spektakel veranstalte und Mr. Bumble sie nicht in den Genuss von etwas kommen ließe, was ihre – wie er es nannte – geräuschvollen Äußerungen zu einem unfreiwilligen Vorgang mache.

»Das ist ein armer Junge aus der Freischule, Sir«, erwiderte Mr. Bumble, »der um ein Haar – es hat nicht viel gefehlt, Sir – vom jungen Twist ermordet worden wäre.«

»Donnerschlag!«, rief der Herr in der weißen Weste und blieb abrupt stehen. »Ich hab’s gewusst! Ich hatte von Anfang an eine so seltsame Vorahnung, dass diese dreiste kleine Bestie am Galgen enden wird!«

»Er hat ebenso versucht, das Dienstmädchen zu ermorden, Sir«, sagte Mr. Bumble mit aschfahlem Gesicht.

»Und die Frau Meisterin«, warf Mr. Claypole ein.

»Und seinen Lehrherrn auch, nicht wahr, Noah?«, fügte Mr. Bumble hinzu.

»Nein, der ist außer Haus, sonst hätte er ihn auch gemordet«, entgegnete Noah, »das hat er gesagt.«

»Aha, das hat er also gesagt, mein Junge?«, erkundigte sich der Herr in der weißen Weste.

»Jawohl, Sir«, antwortete Noah. »Und bitte, Sir, die Frau Meisterin lässt fragen, ob Mr. Bumble sofort mitkommen und ihn verprügeln kann, da der Herr doch außer Haus ist.«

»Gewiss, mein Junge, gewiss«, sagte der Herr in der weißen Weste, lächelte wohlwollend und tätschelte Noah den Kopf, der den seinen um fast zwei Zoll überragte. »Du bist ein guter Junge … ein sehr guter Junge. Hier hast du einen Penny. Bumble, begebt Euch unverzüglich mit Eurem Stock zu Sowerberrys und seht, was Ihr ausrichten könnt. Schont ihn nicht, Bumble.«

»Ganz bestimmt nicht, Sir«, entgegnete der Büttel und prüfte das mit Pechdraht umwickelte Ende seines Stocks, das dem Zwecke der amtlichen Züchtigung diente.

»Sagt Sowerberry, auch er brauche ihn nicht zu schonen. Ohne blaue Flecken wird der Junge keine Vernunft annehmen«, erklärte der Herr in der weißen Weste.

»Ich werde mich um die Angelegenheit kümmern, Sir«, antwortete der Büttel. Und da sich Dreispitz und Stock inzwischen zur Zufriedenheit ihres Besitzers an ihren angestammten Plätzen befanden, begaben sich Mr. Bumble und Noah Claypole schnellstmöglich zur Werkstatt des Leichenbestatters.

Dort hatte sich die Lage keineswegs gebessert, da Sowerberry noch nicht zurückgekehrt war und Oliver weiterhin mit unverminderter Kraft gegen die Kellertür trat. Die Berichte über seine Wildheit, die Mrs. Sowerberry und Charlotte abgaben, waren derart erschreckend, dass Mr. Bumble es für ratsam hielt, erst einmal zu verhandeln, bevor er die Tür öffnete. In dieser Absicht versetzte er zum Auftakt der Tür von außen einen Tritt und rief dann, indem er den Mund ans Schlüsselloch legte, mit tiefer und dröhnender Stimme:

»Oliver!«

»Lasst mich sofort hier raus!«, schrie Oliver von drinnen.

»Erkennst du meine Stimme, Oliver?«, fragte Mr. Bumble.

»Ja«, antwortete Oliver.

»Fürchtest du sie gar nicht? Zitterst du nicht, wenn du mich hörst?«, fragte Mr. Bumble.

»Nein!«, entgegnete Oliver kühn.

Diese Antwort, die so anders war als die, welche er hervorzulocken erwartet hatte und für gewöhnlich erhielt, erschütterte Mr. Bumble über alle Maßen. Er trat vom Schlüsselloch zurück, richtete sich zu voller Größe auf und schaute die drei, die neben ihm standen, sprachlos vor Staunen an.

»Oh, wisst Ihr, Mr. Bumble, er muss verrückt geworden sein«, sagte Mrs. Sowerberry. »Kein Junge, der noch halbwegs bei Verstand ist, würde es wagen, so zu Euch zu sprechen.«

»Das ist keine Verrücktheit, Madam«, entgegnete Mr. Bumble, nach einigen Augenblicken tiefen Nachdenkens. »Das ist das Fleisch.«

»Was?«, rief Mrs. Sowerberry.

»Fleisch, Madam, das Fleisch«, sagte Bumble mit ernstem Nachdruck. »Ihr habt ihn überfüttert, Madam. Ihr habt wider die Natur Geist und Seele in ihm geweckt, was einem Menschen seiner Art nicht zuträglich ist, wie die Herren Vorstände, die allesamt lebenskluge Männer sind, Ihnen bestätigen werden, Mrs. Sowerberry. Was sollen Armenhäusler mit Geist oder Seele? Es reicht völlig, wenn wir ihnen ihre Leiber lassen. Hättet Ihr den Jungen mit Haferschleim verköstigt, Madam, wäre das nie passiert.«

»Lieber Himmel!«, rief Mrs. Sowerberry und hob die Augen fromm zur Küchendecke. »Das kommt davon, wenn man großherzig ist!«

Die Großherzigkeit Mrs. Sowerberrys gegenüber Oliver hatte darin bestanden, ihm all die schäbigen Küchenabfälle zu überlassen, die niemand mehr essen mochte, daher war also auch viel Demut und Selbstverleugnung im Spiel, als sie Mr. Bumbles schwerwiegende Anklage ohne Widerrede auf sich sitzen ließ, obwohl sie sich dieses Vergehens, um ihr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, weder in Gedanken, Wort noch Tat schuldig gemacht hatte.

»Ah«, sagte Mr. Bumble, als die Dame ihre Augen wieder senkte, »das einzige, was man meines Wissens nach jetzt tun kann, ist, ihn einen Tag oder länger im Keller zu lassen, bis der Hunger ihn schwächt, und ihn dann rauszuholen und während seiner gesamten Lehrzeit allein mit Haferschleim zu ernähren. Er stammt aus einer üblen Familie. Leicht erregbare Gemüter, Mrs. Sowerberry! Sowohl die Pflegerin als auch der Doktor haben erzählt, die Mutter habe sich bis hierher unter solchen Schwierigkeiten und Schmerzen durchgeschlagen, die jede anständige Frau schon Wochen zuvor getötet hätten.«

Als Mr. Bumbles Erörterungen so weit gediehen waren, begann Oliver, der gerade genug hören konnte, um zu verstehen, dass erneut Anspielungen auf seine Mutter gemacht wurden, wieder so ungestüm zu treten, dass alles andere übertönt wurde. In diesem Moment kehrte Sowerberry heim, und als ihm Olivers Missetat von den Damen in der Absicht, seinen Zorn zu erregen, mit vielen Übertreibungen hinterbracht worden war, sperrte er im Handumdrehen die Kellertür auf und zerrte seinen aufsässigen Lehrjungen am Kragen heraus.

Olivers Kleidung war während der Prügel, die er bezogen hatte, in Fetzen gegangen, sein Gesicht geschwollen und zerkratzt, und das Haar hing ihm wirr in die Stirn. Doch die Zornesröte war noch nicht verschwunden, und als er aus seinem Verlies gezogen wurde, warf er Noah unerschrocken finstere Blicke zu und schien keineswegs eingeschüchtert.

»Na, du bist mir ja vielleicht ein sauberes Bürschchen«, sagte Sowerberry, wobei er Oliver schüttelte und ihm eine Ohrfeige verpasste.

»Er hat meine Mutter beschimpft«, entgegnete Oliver.

»Ha, und wenn schon, du undankbarer kleiner Halunke?«, sagte Mrs. Sowerberry. »Sie hat verdient, was er sagt, und Schlimmeres.«

»Hat sie nicht«, rief Oliver.

»Hat sie wohl«, sagte Mrs. Sowerberry.

»Das ist eine Lüge!«, rief Oliver.

Mrs. Sowerberry brach in einen Strom von Tränen aus.

Dieser Tränenstrom ließ Sowerberry keine Wahl. Hätte er auch nur einen Augenblick gezögert, Oliver strengstens zu züchtigen, dann würde er, wie es jedem lebensklugen Leser sofort klar ist, und nach allem, was wir aus bisher bekannten Fällen ehelichen Zwistes wissen, als Unmensch, als gefühlloser Gatte, als schimpfliche Kreatur, als gemeines Zerrbild eines Mannes und anderes Schmeichelhaftes mehr, zu dessen Aufzählung der Platz in diesem Kapitel nicht ausreicht, gegolten haben.

 

Um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man sagen, dass er, soweit es in seiner Macht – die nicht allzu weit reichte – stand, dem Jungen freundlich gesonnen war, vielleicht, weil es ihm nützte, vielleicht, weil seine Frau ihn nicht leiden konnte. Der Tränenstrom ließ ihm jedoch keinen Ausweg, also verabreichte er Oliver unverzüglich eine Tracht Prügel, die selbst Mrs. Sowerberry zufriedenstellte und die darauffolgende Anwendung von Mr. Bumbles Amtsstock eigentlich überflüssig machte. Für den Rest des Tages wurde Oliver in die hintere Küche gesperrt, in Gesellschaft einer Pumpe und eines Stückchens Brot. Am Abend schaute Mrs. Sowerberry, nachdem sie vor der Tür verschiedene Bemerkungen gemacht hatte, die dem Andenken seiner Mutter keineswegs zur Ehre gereichten, in den Verschlag und schickte ihn, unter dem Hohn und Spott von Noah und Charlotte, treppauf in seine trostlose Bettstatt.

Erst als Oliver in der Stille und dem Schweigen der düsteren Werkstatt des Sargmachers allein geblieben war, ließ er seinen Gefühlen, die durch die tagsüber erfahrene Behandlung in dem noch kindlichen Jungen verständlicherweise aufgewühlt worden waren, freien Lauf. Er hatte sich ihre Schmähungen mit verächtlicher Miene angehört und die Schläge ertragen, ohne einen Muckser von sich zu geben, denn er verspürte in seinem Herzen einen Stolz schwellen, der jeden Schrei unterdrückt haben würde, auch wenn sie ihn bei lebendigem Leibe geröstet hätten. Aber jetzt, wo niemand da war, der ihn hören oder sehen konnte, ging er auf dem Boden in die Knie, verbarg das Gesicht in den Händen und weinte solche Tränen, wie sie, Gott gebe es zur Ehre unserer Natur, nur wenige so junge Menschen jemals Grund haben mögen, vor Ihm zu vergießen.

Lange Zeit verharrte Oliver reglos in dieser Haltung. Als er sich wieder erhob, war die Kerze auf dem Ständer schon weit herabgebrannt. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut und angespannt gelauscht hatte, schob er sachte die Riegel an der Tür zurück und blickte hinaus.

Es war eine kalte und dunkle Nacht. Die Sterne schienen den Augen des Jungen weiter von der Erde entfernt, als er es je zuvor gesehen hatte, es regte sich kein Lüftchen und die düsteren Schatten, die die Bäume auf den Boden warfen, gemahnten in ihrer Reglosigkeit an Grab und Tod. Leise schloss er die Tür wieder und setzte sich, nachdem er das schwindende Licht der Kerze dazu genutzt hatte, die wenigen Kleidungsstücke, die er besaß, in ein Bündel zu schnüren, auf eine Werkbank, um auf den Morgen zu warten.

Beim ersten Lichtstrahl, der sich durch die Spalten der Läden zwängte, stand Oliver auf und entriegelte erneut die Tür. Ein ängstlicher Blick in die Runde, ein Moment des Zögerns, dann hatte er sie hinter sich geschlossen und befand sich draußen auf der Straße.

Er schaute nach rechts und nach links, unschlüssig, wohin er fliehen sollte. Ihm fiel ein, dass er gesehen hatte, wie die Fuhrwerke sich auf ihrem Weg aus dem Ort hinaus den Hügel hinaufmühten. Also schlug er dieselbe Richtung ein, und als er auf einen schmalen Pfad stieß, der über die Felder führte und, wie er wusste, nach einer Weile wieder auf die Straße mündete, bog er dort ein und lief schnell weiter.

Diesen Pfad, dessen entsann sich Oliver noch gut, war er neben Mr. Bumble hergetrabt, als der ihn damals vom Heim ins Armenhaus gebracht hatte. Sein Weg führte ihn jetzt direkt an diesem Heim vorbei. Bei dem Gedanken daran klopfte sein Herz, und er wollte beinahe schon wieder umkehren. Doch hatte er bereits eine längere Strecke zurückgelegt und würde dadurch viel Zeit verlieren. Außerdem war es noch so früh am Tag, dass für ihn kaum Gefahr bestand, gesehen zu werden, also ging er weiter.

Er erreichte das Heim. Nichts deutete darauf hin, dass seine Bewohner zu so früher Stunde schon auf den Beinen waren. Oliver hielt an und spähte in den Garten. Ein Junge rupfte in einem der kleinen Beete Unkraut. Als Oliver stehen blieb, hob er sein blasses Gesicht, und Oliver erkannte die Züge eines früheren Gefährten. Er war froh, ihn zu sehen, ehe er fortging, denn obwohl jünger als er selbst, war er sein Freund und Spielkamerad gewesen. Viele, viele Male hatten sie gemeinsam Schläge, Arrest und Hunger ertragen.

»Leise, Dick!«, mahnte Oliver, als der Junge ans Tor gerannt kam und seine dünnen Arme durch die Gitterstäbe steckte, um ihn zu begrüßen. »Ist schon wer auf?«

»Niemand außer mir«, antwortete der Knabe.

»Du darfst keinem sagen, dass du mich gesehen hast, Dick«, sagte Oliver. »Ich laufe fort. Sie schlagen und quälen mich, Dick, ich werde mein Glück irgendwo weit weg suchen. Ich weiß nicht, wo. Wie blass du bist!«

»Ich habe gehört, wie der Doktor ihnen gesagt hat, dass ich bald sterben werde«, erwiderte der Junge mit schwachem Lächeln. »Wie schön, dich zu sehen, mein Freund, aber du darfst nicht länger bleiben!«

»Nur, um von dir Abschied zu nehmen«, sagte Oliver, »doch werden wir uns wiedersehen, Dick, ich weiß es. Und du wirst gesund und glücklich sein!«

»Hoffentlich! Aber wohl erst, wenn ich tot bin, vorher nicht. Ich weiß, dass der Doktor recht hat, Oliver, denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und von lieben Gesichtern, die ich nie sehe, wenn ich wach bin. Gib mir einen Abschiedskuss«, sagte der Kleine, kletterte am niedrigen Tor empor und schlang seine Ärmchen um Olivers Hals. »Auf Wiedersehen, mein Freund! Gott segne dich!«

Der Segen kam von den Lippen eines kleinen Kindes, doch es war der erste, den Oliver je empfangen hatte, und bei allem Kummer und Leid, allen Nöten und Wechselfällen seines künftigen Lebens hat er ihn nie vergessen.

Achtes Kapitel

Oliver geht nach London. Unterwegs begegnet er einem sonderbaren jungen Herrn.

Oliver erreichte den Zauntritt, an dem der Feldweg endete und wieder auf die Landstraße stieß. Es war jetzt acht Uhr. Obwohl er sich fast fünf Meilen vom Ort entfernt hatte, bewegte er sich, aus Furcht, verfolgt und eingeholt zu werden, bis zum Mittag abwechselnd rennend und sich hinter Hecken versteckend fort. Dann machte er bei einem Meilenstein Rast und dachte zum ersten Mal darüber nach, wohin er am besten gehen und ein neues Leben anfangen sollte.

Der Stein, neben dem er sich niedergesetzt hatte, trug in großen Buchstaben den Hinweis, dass es von dieser Stelle nur siebzig Meilen bis nach London seien. Dieser Name brachte den Jungen auf neue Gedanken. London! Diese ungeheuer große Stadt! Niemand, nicht einmal Mr. Bumble, würde ihn dort jemals finden können! Auch hatte er die alten Männer im Armenhaus oft sagen hören, dass kein aufgeweckter Bursche in London Not leiden müsse und dass es in dieser riesigen Stadt Mittel und Wege gebe, sein Leben zu bestreiten, von denen jene, die auf dem Lande aufgewachsen sind, keine Vorstellung besäßen. Das war der richtige Ort für einen heimatlosen Jungen, der auf der Straße sterben musste, wenn ihm keiner half. Als ihm diese Dinge durch den Kopf gingen, sprang er auf und setzte seinen Weg fort.

Er hatte die Entfernung zwischen sich und London um weitere vier volle Meilen verringert, bevor ihm in den Sinn kam, wie viel er noch durchstehen müsse, ehe er hoffen durfte, den Ort seiner Bestimmung zu erreichen. Als sich ihm diese Gedanken aufdrängten, verlangsamte er seinen Schritt ein wenig und sann nach, welche Mittel er habe, um dorthin zu gelangen. In seinem Bündel befanden sich ein Stück trockenes Brot, ein derbes Hemd und zwei Paar Strümpfe. Zudem hatte er noch einen Penny in seiner Tasche stecken – ein Geschenk Sowerberrys nach einer Beerdigung, bei der er seine Sache noch besser als sonst gemacht hatte. »Ein sauberes Hemd«, dachte Oliver, »ist eine feine Sache, sehr sogar, ebenso die zwei Paar gestopften Strümpfe und der Penny, doch für einen Weg von fünfundsechzig Meilen im Winter sind sie von geringem Nutzen.« Aber obwohl Olivers Gedanken, wie die der meisten anderen Leute, eifrig bestrebt und bemüht waren, ihm seine Schwierigkeiten vor Augen zu führen, versagten sie doch vollkommen dabei, ihm irgendeinen gangbaren Weg aufzuzeigen, wie er sie überwinden könne. Als er sich eine Weile vergeblich den Kopf zerbrochen hatte, schulterte er sein kleines Bündel und stapfte weiter.

An diesem Tag wanderte Oliver zwanzig Meilen, und die ganze Zeit zehrte er von nichts anderem als von dem Stück trockenen Brotes und einigen Schluck Wasser, die er an den Türen der Bauernhöfe entlang der Straße erbettelte. Als die Nacht hereinbrach, bog er auf eine Wiese, kroch unter einen Heuschober und beschloss, dort bis zum Morgen liegenzubleiben. Zuerst fürchtete er sich, denn der Wind heulte schaurig über die kahlen Felder. Er fror, war hungrig und fühlte sich einsamer als je zuvor. Da ihn sein Marsch jedoch sehr erschöpft hatte, fiel er bald in tiefen Schlaf und vergaß all seine Sorgen.

Als er am nächsten Morgen aufstand, war er kalt und steif und so hungrig, dass er sich genötigt sah, den Penny im ersten Dorf, in das er kam, gegen einen kleinen Laib Brot einzutauschen. Er hatte nicht mehr als zwölf Meilen zurückgelegt, als erneut die Nacht hereinbrach, denn seine Füße waren wund und seine Beine so schwach, dass sie unter ihm wegsackten. Eine weitere Nacht verstrich an der nasskalten Luft, was seinen Zustand zusehends verschlimmerte, und als er am nächsten Morgen seine Reise fortsetzen wollte, konnte er kaum noch vorwärtskriechen.

Oliver wartete am Fuß eines steilen Hügels, bis eine Postkutsche kam, und bettelte die Fahrgäste auf den Außensitzen an, doch nur wenige von ihnen schenkten ihm überhaupt Beachtung, und selbst diese bedeuteten ihm, er solle warten, bis sie auf der Hügelkuppe angekommen wären, dann solle er ihnen mal zeigen, wie weit er für einen Halfpenny rennen könne. Der arme Oliver versuchte, eine kurze Strecke mit der Kutsche Schritt zu halten, schaffte es der Erschöpfung und seiner wunden Füße wegen aber nicht. Als die Außenfahrgäste das sahen, steckten sie ihre Halfpence wieder in die Tasche und erklärten, er sei ein fauler junger Hund und würde keinen Lohn verdienen. Dann ratterte die Kutsche davon und ließ nur eine Staubwolke zurück.

In manchen Dörfern waren große Schrifttafeln mit Hinweisen angebracht, die allen Personen, die in diesem Bezirk bettelten, mit dem Gefängnis drohten. Sie flößten Oliver große Furcht ein, und er war froh, dort so schnell wie möglich wieder wegzukommen. In anderen Dörfern stand er in den Höfen der Gasthäuser und schaute jeden, der vorbeiging, traurig an. Dieser Tätigkeit wurde zumeist von der Wirtin ein Ende gesetzt, indem sie die müßiggehenden Stallknechte der Poststation anwies, den fremden Jungen fortzujagen, denn sie war überzeugt, er sei nur hergekommen, um etwas zu stehlen. Bettelte er an einem Bauernhof, drohten sie ihm in neun von zehn Fällen, den Hund auf ihn zu hetzen, und ließ er sich in einem Laden blicken, riefen sie nach dem Büttel, was Oliver vor Furcht mit den Zähnen klappern ließ, die ohnehin über viele Stunden oft das einzige waren, was seinen Mund füllte.

Und tatsächlich wären Olivers Leiden, hätte es nicht einen gutherzigen Schlagbaumwärter und eine wohlwollende alte Dame gegeben, auf dieselbe Art verkürzt worden, wie die seiner Mutter ein Ende gefunden hatten, mit anderen Worten, er wäre ziemlich sicher auf dem King’s Highway nach London tot umgefallen. Aber der Schlagbaumwärter reichte ihm ein aus Brot und Käse bestehendes Mahl, und die alte Dame, die einen Enkel besaß, der Schiffbruch erlitten hatte und barfuß einen weit entfernten Winkel der Erde durchstreifte, erbarmte sich des armen Waisenkindes und gab ihm, so viel sie zu geben vermochte – ja mehr sogar – und mit so gütigen und freundlichen Worten und Tränen voller Zuneigung und Mitgefühl, die tiefer in Olivers Seele sanken als aller Kummer, den er je erlitten hatte.

In der Frühe des siebten Morgens, nachdem er seinen Geburtsort verlassen hatte, humpelte Oliver in das kleine Städtchen Barnet. Die Fensterläden waren geschlossen, die Straßen leer, und noch keine Menschenseele hatte sich an ihr Tagwerk gemacht. Die Sonne ging in ihrer ganzen Pracht auf, aber das Licht diente nur dazu, dem Jungen seine Einsamkeit und Verzweiflung vor Augen zu führen, als er sich staubbedeckt und mit wunden Füßen auf eine kalte Stufe vor einer Haustür niedersetzte.

Nach und nach wurden die Fensterläden geöffnet, die Rollvorhänge hochgezogen, und die ersten Leute kamen und gingen. Manche blieben stehen, um Oliver einige Augenblicke anzustieren, oder drehten im Vorbeigehen den Kopf nach ihm um, aber niemand half ihm oder fühlte sich bemüßigt zu fragen, wie er hergekommen sei. Ihm fehlte der Mut zu betteln. Er hockte einfach da.

 

So kauerte er eine Weile auf der Stufe und staunte über die große Zahl von Wirtshäusern (jedes zweite Haus in Barnet, ob groß oder klein, war eine Schenke), blickte teilnahmslos den durchfahrenden Kutschen nach und dachte, wie seltsam es sei, dass sie in wenigen Stunden mühelos das schafften, was ihn zu vollbringen eine ganze Woche voller Ausdauer und Entschlossenheit, die weit über sein Alter hinausgingen, gekostet hatte. Da bemerkte er, wie ein Junge, der wenige Minuten zuvor achtlos an ihm vorübergegangen war, kehrtmachte und ihn von der anderen Straßenseite aus eingehend musterte. Er schenkte dem erst wenig Beachtung, aber der Junge betrachtete ihn weiterhin so unverwandt und aufmerksam, dass Oliver den Kopf hob und den festen Blick erwiderte. Daraufhin kam der Junge herüber, ging auf Oliver zu und sagte:

»Hallo, Kollege, was’n los?«

Der Bursche, der sich derart bei dem jungen Wanderer erkundigte, war ungefähr in dessen Alter, aber von solch sonderbarem Äußeren, wie Oliver es nie zuvor gesehen hatte. Zwar zierten ihn, wie jeden anderen Jungen, Stupsnase, flache Stirn und ein gewöhnliches Gesicht, und er war auch so schmutzig, wie man es sich von einem Halbwüchsigen nur wünschen konnte, doch besaß er das Benehmen und Gebaren eines Mannes. Er war für sein Alter ein wenig kurz geraten, hatte krumme Beine, und seine kleinen Augen blickten boshaft und stechend. Der Hut saß ihm so locker auf dem Kopf, dass er jeden Augenblick herunterzufallen drohte, was auch des öfteren geschehen wäre, hätte sein Träger nicht den Dreh herausgehabt, von Zeit zu Zeit mit dem Kopf zu rucken, was den Hut wieder auf seinen angestammten Platz beförderte. Er trug den Gehrock eines Erwachsenen, der ihm fast bis zu den Fersen reichte. Die Ärmelaufschläge hatte er bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, um die Hände freizubekommen, offenbar allein zu dem Zwecke, sie sogleich wieder in die Taschen seiner Kordhosen zu versenken, denn dort befanden sie sich. Alles in allem war er der großspurigste und protzigste junge Herr, der je seine vier Fuß sechs Zoll – oder etwas weniger – in Schaftstiefeln gestanden hatte.

»Hallo, Kollege, was’n los?«, sagte der sonderbare junge Herr zu Oliver.

»Ich bin sehr hungrig und müde«, erwiderte Oliver, mit Tränen in den Augen, als er sprach. »Ich habe einen weiten Weg hinter mir. Ich bin sieben Tage lang gegangen.«

»Sieben Tage lang gelatscht!«, rief der junge Herr. »Ah, verstehe, auf Befehl der Bullen, was? Aber«, fügte er hinzu, als er Olivers erstaunten Blick bemerkte, »du weiß wohl gar nich, was’n Bulle is, mein kleiner Ganeff?«

Oliver erwiderte schüchtern, er kenne den fraglichen Begriff nur als Bezeichnung für ein großes Tier mit Hörnern.

»Herrlich, wie grün!«, rief der junge Herr. »Na, ein Bulle is’n Polizist, und wenn du auf Befehl der Bullen marschierst, dann nich geradaus, sondern immer nur aufwärts, und du komms nie wieder runter. Noch nie inner Mühle gewesen?«

»Was für eine Mühle?«, erkundigte sich Oliver.

»Was für ne Mühle! Na, die Tretmühle, die is so klein, die hat im kleinsten Kittchen Platz, und je schlechter der Wind für die Leute steht, desto besser für die Mühle, denn steht er günstig, findet se keine Müllerburschen. Aber los, du brauchs was zwischen die Zähne, und du solls es bekommen. Bei mir herrscht zwar Ebbe, hab bloß ’n Shilling und’n Halfpenny, aber die werd ich schon lockermachen, um damit zu blechen. Dann schwing dich mal auf deine Stelzen. Na los, lass uns gehen!«

Nachdem er Oliver geholfen hatte, aufzustehen, nahm ihn der junge Herr in einen nahe gelegenen Kramladen mit, wo er reichlich aufgeschnittenen Schinken und ein halbes Vierpfundbrot, oder, wie er es nannte, »für vier Pence Kleie« erwarb. Der Schinken wurde durch den findigen Kunstgriff, ein Loch in den Laib zu bohren, daraus ein paar Brocken hervorzuklauben und stattdessen den Schinken hineinzustopfen, vor Staub geschützt und sauber gehalten. Das Brot unter den Arm geklemmt kehrte der junge Herr in ein kleines Wirtshaus ein und schritt geradewegs zu einer Schankstube auf der rückwärtigen Seite der Lokalität. Hier wurde auf Geheiß des geheimnisvollen jungen Mannes ein Krug Bier gebracht, und Oliver machte sich nach Aufforderung seines neuen Freundes an ein ausgiebiges und herzhaftes Mahl, in dessen Verlauf ihn der fremde Junge von Zeit zu Zeit aufmerksam beäugte.

»Willste nach London?«, fragte der fremde Junge, als Oliver schließlich fertig war.

»Ja.«

»Schon’n Quartier?«

»Nein.«

»Geld?«

»Nein.«

Der fremde Junge pfiff und steckte seine Hände so tief in die Taschen, wie es die weiten Ärmel zuließen.

»Wohnst du in London?«, erkundigte sich Oliver.

»Ja, wenn ich zu Hause bin«, entgegnete der Junge. »Wahrscheinlich suchste für heute nacht noch’n Schlafplatz, was?«

»Ja, das stimmt«, antwortete Oliver. »Seit ich unterwegs bin, habe ich keine Nacht ein Dach über dem Kopf gehabt.«

»Lass dir deshalb mal keine grauen Haare wachsen«, sagte der junge Herr, »ich muss heut nacht noch nach London, und ich kenn ’n ehrbarn alten Herrn, der dort wohnt und dir gratis Quartier verschafft und nix dafür verlangt, jedenfalls nich, wenn irgend’n Gentleman, den er kennt, dich vorstellt. Und kennt er mich etwa? Oh nein! Nich im geringsten! Kein bisschen. Überhaupt nich!«

Der junge Herr grinste, als wolle er andeuten, dass die letzten Gesprächsbrocken scherzhaft und ironisch gemeint waren, und während er das tat, leerte er den Bierkrug.

Dieses unerwartete Angebot eines Obdachs war zu verlockend, um ihm widerstehen zu können, besonders da ihm umgehend die Versicherung folgte, der bereits erwähnte alte Herr würde Oliver zweifelsohne und unverzüglich eine gute Stellung verschaffen. Das führte zu einem freundschaftlichen und vertraulichen Zwiegespräch, bei dem Oliver erfuhr, dass der Name seines Freundes Jack Dawkins war und dieser der besondere Liebling und Schützling des besagten älteren Herrn sei.

Mr. Dawkins’ Erscheinung sprach nicht allzu sehr für die Segnungen, die die Förderung seines Gönners jenen zuteil werden ließen, die er unter seine Fittiche nahm. Da er jedoch eine eher weitschweifige und liederliche Art der Rede pflegte und obendrein bekannte, dass er bei seinen guten Freunden besser unter dem Spitznamen Artful Dodger – was »Der gerissene Schwindler« bedeutet – bekannt sei, schloss Oliver, dass die moralischen Unterweisungen seines Wohltäters an jenem, weil er einen so frivolen und lasterhaften Lebenswandel pflegte, bisher verschwendet gewesen waren. Unter diesem Eindruck beschloss er insgeheim, sich bei dem alten Herrn so bald wie möglich in ein gutes Licht zu setzen, und, falls sich der Dodger als unverbesserlich erweisen solle, was er beinahe fürchtete, die Ehre seiner Bekanntschaft nicht weiter in Anspruch zu nehmen.

Da John Dawkins London nicht vor Einbruch der Nacht betreten wollte, war es schon fast elf Uhr, als sie den Schlagbaum bei Islington erreichten. Vom Angel gingen sie zur St. John’s Road hinüber, bogen in die kleine Straße, die am Sadler’s Wells Theatre endet, kamen durch Exmouth Street und Coppice Row zu dem kleinen Platz neben dem Armenhaus, überquerten den altehrwürdigen Grund, der einst den Namen Hockley-in-the-Hole trug, liefen durch die Little Saffron Hill und schließlich durch die Saffron-Hill-the-Great, wo der Dodger ein scharfes Tempo anschlug und Oliver mahnte, ihm dicht auf den Fersen zu bleiben.

Obwohl Olivers Aufmerksamkeit ganz davon beansprucht wurde, seinen Führer nicht aus den Augen zu verlieren, konnte er doch nicht widerstehen, unterwegs ein paar hastige Blicke nach links und rechts zu werfen. Noch nie hatte er eine schmutzigere und erbärmlichere Gegend gesehen. Die Gasse war eng und matschig und die Luft von ekelerregendem Gestank geschwängert. Es gab zahlreiche kleine Läden, doch die einzigen Waren im Angebot schienen scharenweise Kinder zu sein, die selbst zu dieser nachtschlafenden Zeit durch die Türen rein- und rauskrochen oder drinnen schrien. Die einzigen Orte, die inmitten dieser allgegenwärtigen Fäulnis offenbar gediehen, waren die Wirtshäuser, in denen Iren der untersten Schichten aus Leibeskräften zankten. Überdachte Gänge und Höfe, die hier und da von der Hauptstraße abzweigten, gaben den Blick auf kleine verschachtelte Häuserzeilen frei, wo betrunkene Männer und Frauen sich regelrecht im Dreck suhlten, und aus verschiedenen Eingängen tauchten verstohlen große, finster aussehende Gestalten auf, allem Anschein nach auf dem Weg zu Geschäften, die offenbar weder harmlos noch allzu wohltätiger Natur waren.