Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Elftes Kapitel

Handelt von dem Polizeirichter Mr. Fang und gibt eine kleine Kostprobe davon, wie er Gerechtigkeit walten lässt.

Die Straftat war in dem Bezirk, ja sogar in unmittelbarer Nachbarschaft einer äußerst berüchtigten Wache der städtischen Polizei verübt worden. Die Menge musste sich damit begnügen, Oliver bloß durch zwei oder drei Straßen und über einen Platz namens Mutton Hill begleiten zu können, als er auch schon unter einem niedrigen Torbogen und durch ein schmutziges Gässchen hindurch zum Hintereingang dieser Armenapotheke der Schnelljustiz geführt wurde. Sie betraten einen kleinen gepflasterten Hof, wo sie auf einen stämmigen Mann trafen, der im Gesicht einen dicken Schnurrbart und in der Hand ein dickes Schlüsselbund trug.

»Worum geht’s?«, fragte der Mann gleichgültig.

»Ein kleiner Langfinger«, antwortete der Mann, der Oliver am Schlafittchen hatte.

»Seid Ihr der Bestohlene, Sir?«, erkundigte sich der Mann mit den Schlüsseln.

»Ja, der bin ich«, erwiderte der alte Herr, »aber ich bin mir nicht sicher, ob dieser Junge tatsächlich mein Schnupftuch entwendet hat. Ich … ich möchte die Sache eigentlich nicht weiterverfolgen.«

»Jetzt müsst Ihr sie auch zur Verhandlung bringen, Sir«, sagte der Mann. »Der Herr Richter wird jeden Augenblick frei sein. Rein mit dir, du kleiner Galgenstrick.«

Letzteres war eine Aufforderung an Oliver, durch eine Tür zu treten, die der Mann aufgeschlossen hatte, während er noch sprach, und die in eine kleine gemauerte Zelle führte. Dort wurde Oliver durchsucht und, als man nichts fand, eingesperrt.

Die Zelle glich in Größe und Form dem Lichtschacht eines Kellers, war jedoch nicht so hell. Sie befand sich an diesem Montagmorgen in einem unerträglich dreckigen Zustand, da sie bis Samstagnacht mit sechs Betrunkenen belegt gewesen war, die jetzt anderswo einsaßen. Aber das ist noch gar nichts. Auf unseren Polizeiwachen werden jede Nacht Männer und Frauen aufgrund der nichtigsten Anschuldigungen – man achte auf den genauen Wortsinn – in Kerker gesperrt, gegen die jene, die in Newgate mit den schlimmsten Verbrechern belegt werden, die angeklagt, für schuldig befunden und zum Tode verurteilt wurden, wahre Paläste sind. Jeder, der das bezweifelt, mag sich ruhig persönlich davon überzeugen.

Als die Tür ins Schloss fiel, blickte der alte Herr beinahe ebenso kläglich drein wie Oliver. Mit einem Seufzer wandte er sich dem Buch zu, das die unschuldige Ursache der ganzen Aufregung gewesen war.

»Da ist etwas in dem Gesicht des Jungen«, sagte der alte Herr, als er langsam fortging und sich mit dem Einband des Buches nachdenklich ans Kinn klopfte, »etwas, das mich berührt und anzieht. Ist er vielleicht gar unschuldig? Er sieht so aus … Herrje!« Der alte Herr blieb wie angewurzelt stehen, blickte zum Himmel empor und rief: »Bei meiner Seel! Woher kenne ich diesen Gesichtsausdruck bloß?«

Nachdem er eine Weile überlegt hatte, ging der alte Herr, noch immer nachdenklich dreinschauend, in ein kleines, zum Hof gelegenes Vorzimmer. Dort zog er sich in eine Ecke zurück und beschwor vor seinem geistigen Auge ein ganzes Amphitheater an Gesichtern, die viele Jahre lang hinter einem dunklen Vorhang verborgen gewesen waren. »Nein«, sagte der alte Herr kopfschüttelnd, »es muss Einbildung sein.«

Er ging noch einmal alle durch. Er rief sie sich vor Augen, doch war es nicht leicht, den Schleier, der sie so lange verhüllt hatte, zu lüften. Da gab es Gesichter von Freunden und Feinden, und von vielen, die beinahe Fremde waren und aufdringlich aus der Menge hervorstarrten, es gab Gesichter von blühenden jungen Mädchen, die jetzt alte Frauen waren, es gab Gesichter, die das Grab verwandelt und verschüttet hatte, die aber der Geist, der mächtiger ist als das Grab, wieder in einstige Frische und Schönheit kleidete, er verlieh den Augen wieder ihren Glanz und dem Lächeln seine Heiterkeit, er ließ die Seele durch die irdene Hülle strahlen und raunte von Anmut, die über die Gruft hinaus besteht: nur verwandelt, um erhöht, und der Erde nur abhanden gekommen, um als Licht zu scheinen und den Pfad zum Himmel mild und sanft zu erleuchten.

Aber der alte Herr konnte sich keines Angesichts erinnern, das irgendeine Spur von Olivers Gesichtszügen verriet. So stieß er einen Seufzer aus über die Erinnerungen, die er wachgerufen hatte, und begrub sie, da er zu seinem Glück ein zerstreuter alter Herr war, wieder in den Seiten des verstaubten Buchs.

Eine Berührung an der Schulter und die Aufforderung des Mannes mit den Schlüsseln, ihm in die Amtsstube zu folgen, brachte ihn zu sich. Hastig schloss er das Buch und wurde umgehend in die ehrfurchtgebietende Gegenwart des berühmten Mr. Fang geführt.

Die Amtsstube war ein nach vorne gelegener Saal mit getäfelten Wänden. Mr. Fang saß am oberen Ende hinter einer Schranke, und an einer Seite neben der Tür befand sich eine Art hölzerner Verschlag, in den man den armen kleinen Oliver, der angesichts des furchterregenden Ortes am ganzen Leibe zitterte, inzwischen gesteckt hatte.

Mr. Fang war ein hagerer, steifer, halsstarriger Mann mittlerer Größe, mit nur wenig Haaren, die allein an Hinterkopf und Schläfen wuchsen. Sein Gesicht war finster und stark gerötet. Sollte er wirklich nicht die Gewohnheit pflegen, mehr zu trinken als gut für ihn war, hätte er sein Gesicht wegen Verleumdung verklagen und eine erhebliche Summe Schadensersatz einstreichen können.

Der alte Herr verbeugte sich respektvoll, trat an das Pult des Polizeirichters und sagte, wobei er den Worten die Tat folgen ließ: »Hier sind mein Name und meine Adresse, Sir.« Dann zog er sich ein oder zwei Schritte zurück und wartete mit einem weiteren höflichen und vornehmen Neigen des Kopfes darauf, befragt zu werden.

Nun verhielt es sich so, dass Mr. Fang gerade den Leitartikel einer Morgenzeitung studierte, der sich mit einem kürzlich von ihm gefällten Urteil befasste und ihn zum dreihundertundfünfzigsten Mal der speziellen und besonderen Aufmerksamkeit des Justizministers empfahl. Er war gereizter Stimmung und blickte grimmig auf.

»Wer seid Ihr?«, fragte Mr. Fang.

Der alte Herr wies ein wenig erstaunt auf seine Karte.

»Wachtmeister!«, rief Mr. Fang, der die Karte mit der Zeitung verächtlich beiseitefegte. »Wer ist dieser Bursche?«

»Mein Name, Sir«, sagte der alte Herr und sprach im Tonfall eines echten Gentlemans, »mein Name, Sir, ist Brownlow. Es sei mir gestattet, mich nach dem Namen des Polizeirichters zu erkundigen, der eine ehrbare Person unter dem Schutz seines Amtes grundlos und ohne Not beleidigt.« Während er das sagte, schaute sich Mr. Brownlow in der Amtsstube um, als suche er jemanden, der ihm die gewünschte Auskunft geben würde.

»Wachtmeister!«, rief Mr. Fang und stieß die Zeitung fort. »Was liegt gegen diesen Kerl vor?«

»Gar nichts, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister. »Er ist Kläger gegen diesen Jungen, Euer Ehren.«

Seine Ehren wusste das sehr wohl, doch war es eine gute Gelegenheit zum Schikanieren, und eine billige dazu.

»Kläger gegen diesen Jungen, soso«, sagte Fang und musterte Mr. Brownlow verächtlich von Kopf bis Fuß. »Vereidigt ihn!«

»Bevor ich vereidigt werde, möchte ich darum bitten, noch etwas sagen zu dürfen«, erklärte Mr. Brownlow, »und zwar, dass ich, ohne es selbst erlebt zu haben, niemals geglaubt hätte …«

»Haltet den Mund, Sir!«, fuhr ihn Mr. Fang gebieterisch an.

»Das werde ich nicht, Sir!«, entgegnete der alte Herr.

»Haltet sofort den Mund, oder ich lasse Euch aus der Amtsstube entfernen!«, sagte Mr. Fang. »Ihr seid ein unverschämter und anmaßender Geselle. Wie könnt Ihr es wagen, einen Polizeirichter zu drangsalieren!«

»Also wirklich!«, rief der alte Herr und lief rot an.

»Vereidigt diese Person«, sagte Fang zu dem Schreiber. »Ich will kein Wort mehr hören. Vereidigt ihn.«

Mr. Brownlows Empörung war riesengroß, aber da er wohl bedachte, dass es dem Jungen vielleicht nur schaden würde, wenn er sich Luft machte, hielt er seine Gefühle im Zaum und willigte ein, sich umgehend vereidigen zu lassen.

»Also«, sagte Fang, »was liegt gegen diesen Jungen vor? Was habt Ihr dazu zu sagen, Sir?«

»Ich hielt mich gerade an einer Bücherbude auf …«, begann Mr. Brownlow.

»Haltet den Mund, Sir!«, unterbrach Mr. Fang. »Der Polizist! Wo ist der Polizist? Da, vereidigt diesen Polizisten. Gut, was ist vorgefallen?«

Der Polizist berichtete mit gebührender Unterwürfigkeit, wie er die Verhaftung vorgenommen, Oliver durchsucht und nichts gefunden habe, und das sei alles, was er wisse.

»Gibt es irgendwelche Zeugen?«, erkundigte sich Mr. Fang.

»Nein, Euer Ehren«, antwortete der Polizist.

Mr. Fang saß einige Minuten schweigend da, wandte sich dann an den Kläger und sagte aufbrausend:

»Wollt Ihr nun Eure Klage gegen diesen Jungen vorbringen, Bursche, oder nicht? Ihr steht unter Eid. Wenn Ihr die Aussage verweigert, werde ich Euch wegen Missachtung des Gerichts verurteilen, das werde ich, beim …«

Bei wem oder was sollte niemand erfahren, denn Schreiber und Wärter husteten just in diesem Moment sehr vernehmlich, und Erstgenannter ließ ein dickes Buch zu Boden fallen – rein zufällig, versteht sich –, so dass man die Worte nicht verstehen konnte.

Ungeachtet vieler Unterbrechungen und wiederholter Beleidigungen brachte Mr. Brownlow es fertig, seinen Fall vorzutragen. Er berichtete, er sei in der Überraschung des Augenblicks dem Jungen nachgelaufen, weil er ihn habe davonrennen sehen, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, der Polizeirichter möge, falls er den Jungen nicht für den Dieb selbst, aber doch für einen Komplizen halte, mit ihm so gnädig verfahren, wie es das Gesetz zulasse.

 

»Er hat sich bereits eine Verletzung zugezogen«, sagte der alte Herr abschließend. »Und ich fürchte«, fügte er mit großem Nachdruck hinzu und schaute zu der Schranke, »ich fürchte wirklich, dass er ernsthaft krank ist.«

»Oh ja, das fürchte ich auch!«, rief Mr. Fang höhnisch. »Na komm schon, lass die Mätzchen, du kleiner Strolch, das zieht bei mir nicht. Wie heißt du?«

Oliver versuchte zu antworten, aber ihm versagte die Stimme. Er war leichenblass, und alles um ihn herum schien sich zu drehen.

»Dein Name, du verstockter Lausebengel!«, herrschte ihn Mr. Fang an. »Wachtmeister, sein Name?«

Das galt einem gutmütigen alten Burschen in gestreifter Weste, der an der Schranke stand. Er beugte sich zu Oliver hinab und wiederholte die Frage; da er jedoch feststellte, dass Oliver sie tatsächlich nicht verstand, und da er wusste, eine ausbleibende Antwort würde den Polizeirichter nur noch mehr erzürnen und das Urteil verschärfen, verlegte er sich beherzt aufs Raten.

»Er sagt, sein Name sei Tom White, Euer Ehren«, sprach dieser gütige Diebesfänger.

»Aha, er will wohl nicht laut reden, was?«, sagte Fang. »Also gut, wo wohnt er?«

»Wo er kann, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, der abermals vorgab, von Oliver Antwort zu erhalten.

»Hat er Eltern?«, begehrte Mr. Fang zu wissen.

»Er sagt, sie seien gestorben, als er noch ganz klein war, Euer Ehren«, erwiderte der Wachtmeister, die Antwort wieder auf gut Glück erfindend.

An diesem Punkt des Verhörs hob Oliver den Kopf, schaute sich flehenden Blickes um und murmelte kaum vernehmlich die Bitte um einen Schluck Wasser.

»Dummes Zeug!«, rief Mr. Fang. »Versuch nicht, mich zum Narren zu halten.«

»Ich glaube, er ist tatsächlich krank, Euer Ehren«, wandte der Wachtmeister ein.

»Das weiß ich besser«, sagte Mr. Fang.

»Passt auf, Herr Wachtmeister«, rief der alte Herr und hob unwillkürlich die Hände, »er fällt um!«

»Weg da, Wachtmeister«, schrie Fang, »lasst ihn fallen, wenn er will.«

Oliver machte von dieser freundlichen Erlaubnis Gebrauch und sackte ohnmächtig zu Boden. Die Männer in der Amtsstube sahen einander an, aber keiner wagte, sich zu rühren.

»Ich wusste, dass er sich bloß verstellt«, meinte Fang, als hätte Oliver den unstrittigen Beweis dieser Tatsache geliefert. »Lasst ihn dort liegen, er wird es bald satt haben.«

»Wie gedenkt Ihr mit dem Fall zu verfahren, Sir?«, erkundigte sich der Schreiber mit leiser Stimme.

»Das Urteil ergeht sofort«, erwiderte Mr. Fang. »Drei Monate Haft … bei schwerster Arbeit, natürlich. Und jetzt räumt den Saal.«

Zu diesem Zwecke wurde die Tür geöffnet, und zwei Wärter machten sich gerade daran, den bewusstlosen Jungen in die Zelle zu tragen, als ein älterer Mann von gepflegter, aber ärmlicher Erscheinung, der mit einem alten schwarzen Anzug bekleidet war, hastig in die Amtsstube stürzte und ans Pult des Richters trat.

»Halt! Halt! Schafft ihn nicht fort! Um Himmels willen, wartet einen Augenblick!«, rief der Neuankömmling atemlos vor Eile.

Obwohl der befehlshabende Genius einer Amtsstube wie dieser eine unmittelbare und willkürliche Herrschaft über die Freiheiten, den guten Namen, die Stellung, ja beinahe das Leben der Untertanen Ihrer Majestät, insbesondere der ärmeren Schichten, ausübt, und obwohl in diesen Mauern Tag für Tag absonderliche Winkelzüge vollführt werden, die Engel vor Tränen erblinden lassen, dringt davon nichts an die Öffentlichkeit, außer durch die Berichte der Tagespresse. Mr. Fang war folglich nicht wenig entrüstet, einen ungebetenen Gast unter solch ungebührlicher Ruhestörung eintreten zu sehen.

»Was soll das? Wer ist das? Werft diesen Mann hinaus. Räumt die Amtsstube!«, schrie Mr. Fang.

»Ich werde reden!«, rief der Mann. »Ich lasse mich nicht rauswerfen. Ich habe alles gesehen. Mir gehört die Bücherbude. Ich verlange, vereidigt zu werden. Ich lasse mich nicht abwimmeln. Mr. Fang, Ihr müsst mich anhören. Ihr dürft mich nicht abweisen, Sir!«

Der Mann hatte recht. Sein Auftreten war kühn und entschlossen, und die Sache wurde nun zu ernst, um sie noch vertuschen zu können.

»Vereidigt diesen Burschen«, knurrte Fang widerwillig. »Nun, was habt Ihr vorzubringen, Mann?«

»Folgendes«, sagte der Buchhändler, »ich habe drei Jungen gesehen, zwei andere und den Angeklagten hier, die auf der anderen Straßenseite herumlungerten, als dieser Herr am Lesen war. Der Diebstahl wurde von einem der anderen Jungen begangen. Ich habe es beobachtet und gesehen, wie dieser Junge hier völlig überrascht und bestürzt darüber war.«

Inzwischen wieder ein wenig zu Atem gekommen, fuhr der wackere Buchhändler damit fort, die genauen Umstände der Straftat etwas zusammenhängender zu schildern.

»Warum seid Ihr nicht gleich hergekommen?«, fragte Fang nach einer Pause.

»Ich konnte niemanden finden, der auf meine Bude aufpasst«, antwortete der Mann, »denn alle, die hätten helfen können, waren an der Verfolgungsjagd beteiligt. Erst vor fünf Minuten habe ich jemanden gefunden und bin sofort den ganzen Weg hierher gerannt.«

»Der Kläger hat also gelesen?«, wollte Fang nach einer weiteren Pause wissen.

»Ja«, erwiderte der Mann. »Er hat das Buch noch in der Hand.«

»Aha, dieses Buch also?«, fragte Fang. »Ist es bezahlt?«

»Nein, ist es nicht«, entgegnete der Mann lächelnd.

»Ach du meine Güte, das habe ich ganz vergessen!«, rief der zerstreute alte Herr gänzlich unbefangen.

»Ein feiner Herr, der hier einen armen Jungen beschuldigt!«, sagte Fang in dem komischen Bemühen, menschlich zu wirken. »Ich stelle fest, Sir, dass Ihr unter höchst verdächtigen und ehrenrührigen Umständen in den Besitz des Buches gekommen seid, und Ihr könnt Euch sehr glücklich schätzen, dass der Eigentümer dieses Gegenstands von einer Anklage absieht. Lasst Euch das eine Lehre sein, mein Herr, sonst wird Euch das Gesetz bald doch noch ereilen. Der Junge kommt auf freien Fuß. Und jetzt alle raus hier.«

»Gott verd…!«, platzte der alte Herr mit all dem Zorn heraus, den er so lange unterdrückt hatte. »Gott verd…! Ich werde …«

»Räumt den Saal!«, ordnete der Polizeirichter an. »Wachtmeister, hört Ihr schlecht? Räumt den Saal!«

Dem Befehl wurde Folge geleistet, und der aufgebrachte Mr. Brownlow, der vor Zorn und Empörung geradezu raste, wurde, das Buch in der einen und den Bambusstock in der anderen Hand, umgehend hinausbefördert. Als er den Hof betrat, löste sich seine ganze Erregung augenblicklich in Luft auf. Der kleine Oliver Twist lag mit dem Rücken auf dem Pflaster, das Hemd aufgeknöpft und die Schläfen mit Wasser besprenkelt. Sein Gesicht war leichenblass, und ein Schüttelfrost ließ ihn am ganzen Leib erzittern.

»Armer Junge, armer Junge!«, rief Mr. Brownlow und beugte sich über ihn. »Kann bitte jemand eine Kutsche rufen? Schnell!«

Die Kutsche wurde besorgt, und nachdem sie Oliver vorsichtig auf einen Sitz gelegt hatten, stieg der alte Herr ein und setzte sich daneben.

»Darf ich Euch begleiten?«, fragte der Buchhändler und schaute hinein.

»Du meine Güte, natürlich, mein lieber Freund«, sagte Mr. Brownlow rasch. »Euch habe ich ganz vergessen. Lieber Himmel! Und noch immer habe ich dieses unglückselige Buch! Steigt ein. Armer Kerl! Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

Der Buchhändler bestieg die Kutsche, und schon fuhren sie los.

Zwölftes Kapitel

In dem für Oliver besser gesorgt wird als jemals zuvor und die Erzählung zu dem fröhlichen alten Herrn und seinen jungen Freunden zurückkehrt.

Die Kutsche ratterte davon, Mount Pleasant hinab und die Exmouth Street hinauf, und nahm beinahe denselben Weg, den Oliver gegangen war, als er London in Begleitung des Dodgers zum ersten Mal betreten hatte, bis sie schließlich, nachdem sie am Angel in Islington in eine andere Richtung abgebogen war, vor einem hübschen Haus in einer ruhigen schattigen Straße in Pentonville hielt. Hier wurde unverzüglich ein Lager bereitet, in das Mr. Brownlow seinen jungen Schützling behutsam und bequem betten ließ, und hier wurde er mit einer Fürsorge und Hingabe gepflegt, die keine Grenzen kannte.

Doch viele Tage lang blieb die Güte seiner neuen Freunde von Oliver unbemerkt. Die Sonne ging auf und unter, und wieder auf und unter, und das viele weitere Male, und der Junge lag noch immer ausgestreckt auf seinem Krankenlager und schwand unter der trockenen und verzehrenden Hitze des Fiebers dahin. Der Wurm verrichtet sein Zerstörungswerk am Leichnam nicht wirkungsvoller als dieses schwelende Feuer das seine am lebendigen Leib.

Matt, abgemagert und bleich erwachte er endlich aus etwas, das ein langer böser Traum gewesen zu sein schien. Seinen Kopf auf den Arm gestützt, richtete er sich mit Mühe im Bett auf und blickte sich bange um.

»Was ist das für ein Zimmer? Wohin hat man mich gebracht?«, fragte sich Oliver. »Das ist nicht der Ort, an dem ich eingeschlafen bin.«

Er sprach die Worte mit leiser Stimme, da er noch schwach und matt war, doch hat man sie sogleich vernommen, denn schnell wurde der Vorhang am Kopfende des Bettes zurückgezogen, von einer reinlich und adrett gekleideten mütterlichen alten Dame, die in einem Lehnstuhl gleich neben dem Krankenlager mit einer Näharbeit beschäftigt gewesen war.

»Still, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft. »Du musst ganz ruhig bleiben, sonst wirst du wieder krank. Und dir ist es sehr schlecht gegangen, schlimmer ging’s nicht, dem Tode nahe. Leg dich wieder hin, so ist’s brav!« Mit diesen Worten bettete die alte Dame Olivers Kopf auf das Kissen, strich ihm das Haar aus der Stirn und blickte ihm so liebevoll und gütig ins Gesicht, dass er mit seiner kleinen ausgedörrten Hand unwillkürlich nach der ihren griff und sie sich um den Nacken legte.

»Guter Gott!«, rief die alte Dame mit Tränen in den Augen. »Was für ein dankbarer kleiner Junge er doch ist. So ein liebes Kerlchen! Was würde seine Mutter wohl empfinden, wenn sie so wie ich bei ihm gesessen wäre und ihn jetzt sehen könnte?«

»Vielleicht sieht sie mich sogar«, flüsterte Oliver und faltete die Hände, »vielleicht hat sie wirklich an meinem Bett gesessen. Mir kam es fast so vor.«

»Das war das Fieber, mein Schatz«, sagte die alte Dame sanft.

»Wahrscheinlich«, erwiderte Oliver, »denn der Himmel ist weit weg, und dort sind sie zu glücklich, um ans Bett eines armen Jungen hinabzusteigen. Aber wenn sie wüsste, dass ich krank bin, würde sie sogar dort Mitleid mit mir haben, denn sie war selbst sehr krank gewesen, bevor sie starb. Doch sie kann ja nichts von mir wissen«, fuhr Oliver nach kurzem Schweigen fort. »Hätte sie gesehen, wie ich verletzt wurde, wäre sie sehr traurig gewesen, aber ihr Gesicht sah immer so lieb und glücklich aus, wenn ich von ihr geträumt habe.«

Darauf erwiderte die alte Dame nichts, sondern wischte sich zuerst ihre Augen, und dann noch ihre Brille, die auf der Tagesdecke lag, als würde auch diese weinen. Dann holte sie Oliver ein kühles Getränk, tätschelte ihm die Wange und hieß ihn, ganz still zu liegen, damit er nicht wieder krank würde.

Also verhielt Oliver sich vollkommen ruhig, teils weil er bestrebt war, der alten Dame in allen Dingen zu gehorchen, und teils weil er, um die Wahrheit zu sagen, von den wenigen gesprochenen Worten bereits völlig erschöpft war. Bald fiel er in einen sanften Schlummer, aus dem ihn der Schein einer Kerze weckte, die sich seinem Bett näherte und in deren Licht er einen Herrn erkannte, der eine sehr große und laut tickende goldene Taschenuhr in der Hand hielt, seinen Puls fühlte und verkündete, es ginge Oliver schon viel, viel besser.

»Es geht dir doch schon viel besser, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Herr.

»Ja, danke, Sir«, erwiderte Oliver.

»Genau wie ich mir gedacht habe«, sagte der Herr. »Und hungrig bist du sicher auch, nicht wahr?«

»Nein, Sir«, erwiderte Oliver.

»Ahem!«, machte der Herr. »Das dachte ich mir. Er ist nicht hungrig, Mrs. Bedwin«, sagte der Herr und machte ein schlaues Gesicht.

Die alte Dame neigte ehrerbietig den Kopf, als wolle sie damit sagen, dass sie den Doktor für einen sehr gescheiten Menschen hielt. Eine Ansicht, die der Doktor voll und ganz zu teilen schien.

 

»Du bist müde, nicht wahr, mein Junge?«, fragte der Doktor.

»Nein, Sir«, entgegnete Oliver.

»Nein«, wiederholte der Doktor mit wissender und zufriedener Miene, »du bist nicht müde. Und auch nicht durstig, nicht wahr?«

»Doch, Sir. Sehr sogar«, antwortete Oliver.

»Genau das habe ich erwartet, Mrs. Bedwin«, sagte der Doktor. »Es ist völlig normal, dass er Durst hat. Gebt ihm etwas Tee, Madam, und ein wenig trockenes Röstbrot ohne Butter. Es darf ihm nicht zu warm werden, Madam, aber achtet auch darauf, dass er nicht friert – wollt Ihr wohl die Güte haben?«

Die alte Dame machte einen Knicks. Nachdem der Doktor das kühle Getränk probiert und für gut befunden hatte, eilte er fort, wobei seine Stiefel auf der Treppe wichtig und behäbig knarrten.

Oliver döste bald wieder ein, und als er aufwachte, war es kurz vor zwölf. Die alte Dame wünschte ihm kurz darauf zärtlich eine gute Nacht und überließ ihn der Obhut einer dicken alten Frau, die soeben eingetroffen war und in ihrem kleinen Bündel ein schmales Gebetbüchlein und eine große Nachthaube mitgebracht hatte. Sie setzte letztere auf den Kopf und legte ersteres auf den Tisch, und nachdem die Alte Oliver mitgeteilt hatte, dass sie die Nacht bei ihm wachen werde, rückte sie ihren Stuhl dicht ans Feuer und nickte, von Räuspern und Stöhnen begleitet, immer wieder kurz ein, und zuweilen sackte ihr dabei auch das Kinn auf die Brust, was jedoch keine schlimmere Wirkung zeitigte, als dass sie aufwachte, sich kräftig die Nase rieb und sogleich wieder einschlief.

Und so schlich die Nacht dahin. Oliver lag eine Weile wach und zählte die kleinen Lichtkreise, die vom Binsenschirm des Nachtlichts an die Decke geworfen wurden, oder er verfolgte mit seinen schläfrigen Augen das verschlungene Muster der Wandtapete. Die Dunkelheit und die tiefe Stille des Zimmers wirkten sehr feierlich, und als sie den Jungen auf den Gedanken brachten, dass der Tod, der hier viele Tage und Nächte über ihm geschwebt hatte, auch jetzt noch das Gemach mit der Düsternis und dem Schrecken seiner furchtbaren Anwesenheit erfüllen könnte, drehte er sein Gesicht ins Kissen und schickte ein inbrünstiges Gebet gen Himmel.

Allmählich fiel er in jenen tiefen, ruhigen Schlaf, den allein die Genesung von einem jüngst überstandenen Leiden gewährt, ein ungestörter und friedvoller Schlummer, aus dem aufzuwachen als schmerzlich empfunden wird. Wäre das der Tod, wer wollte wohl wieder erwachen zu all den Kämpfen und Nöten des Lebens, zu all den Sorgen der Gegenwart, den Ängsten um die Zukunft und vor allem zu den drückenden Erinnerungen an das Vergangene!

Als Oliver die Augen öffnete, war schon seit Stunden helllichter Tag, und als er es tat, fühlte er sich froh und glücklich. Der Tiefpunkt seiner Krankheit war überwunden. Die Welt hatte ihn wieder.

Nach drei Tagen konnte er bereits von Kissen gestützt in einem Lehnstuhl sitzen, und da er noch zu schwach zum Gehen war, hatte Mrs. Bedwin ihn die Treppe hinabtragen lassen, in die kleine Hausmädchenkammer, die ihr gehörte. Dort setzte die gute alte Dame ihn an den Kamin, nahm ebenfalls Platz, und fing vor lauter Freude, den Jungen in einem so viel besseren Zustand zu sehen, sogleich heftig zu weinen an.

»Keine Sorge, mein Schatz«, sagte die alte Dame. »Ich muss mich nur mal richtig ausweinen. Siehst du, es ist schon vorbei, mir geht’s wieder gut.«

»Ihr seid sehr freundlich zu mir, Madam«, meinte Oliver.

»Na, lass mal gut sein, mein Schatz«, sagte die alte Dame, »das hat nichts mit deiner Brühe zu tun, und es wird höchste Zeit, dass du sie bekommst, denn der Doktor sagt, Mr. Brownlow würde dich heute morgen vielleicht besuchen kommen, also müssen wir unser Bestes tun, um gut auszusehen, denn je besser wir aussehen, umso mehr wird er sich freuen.« Und bei diesen Worten machte die alte Dame sich daran, in einer kleinen Kasserolle ein Schälchen Brühe zu erwärmen, die kräftig genug war, um, vorschriftsmäßig gestreckt, für dreihundertfünfzig Armenhäusler eine üppige Mahlzeit abzugeben, und das war noch vorsichtig geschätzt.

»Gefallen dir Gemälde, mein Schatz?«, fragte die alte Dame, die bemerkte, dass Oliver seinen Blick höchst aufmerksam auf ein Porträt gerichtet hielt, das genau gegenüber von seinem Stuhl an der Wand hing.

»Ich weiß nicht recht, Madam«, antwortete Oliver, ohne seine Augen von dem Bild abzuwenden. »Ich habe bisher erst so wenige gesehen, dass ich es nicht sagen kann. Was für ein schönes, sanftes Gesicht die Dame hat!«

»Ach!«, rief die alte Mrs. Bedwin. »Maler machen die Damen immer hübscher als sie sind, sonst bekämen sie keine Kundschaft, mein Kind. Der Mann, der den Apparat erfunden hat, mit dem man naturgetreue Abbilder anfertigt, hätte wissen sollen, dass so etwas kein Erfolg beschieden sein kann, es ist einfach viel zu ehrlich. Viel zu ehrlich!«, sagte die alte Dame und lachte herzhaft über ihren Scharfsinn.

»Stellt es … stellt es wirklich jemanden dar, Madam?«, fragte Oliver.

»Ja«, antwortete die alte Dame und schaute kurz von der Brühe auf, »es ist ein Porträt.«

»Von wem, Madam?«, wollte Oliver wissen.

»Tja, mein Schatz, das weiß ich nun wirklich nicht«, antwortete die alte Dame munter. »Es stellt wohl niemanden dar, den du oder ich kennen, nehme ich an. Es scheint dich ja sehr zu beschäftigen, mein Junge.«

»Es ist so wunderschön«, erwiderte Oliver.

»Ja, aber du fürchtest dich doch nicht etwa davor, oder?«, fragte die alte Dame, die mit großer Verwunderung bemerkte, mit welch ehrfürchtiger Scheu das Kind das Gemälde betrachtete.

»O nein, nein«, erwiderte Oliver rasch, »aber die Augen schauen so traurig und scheinen auf mich gerichtet zu sein. Es gibt mir einen Stich ins Herz«, fügte Oliver mit leiser Stimme hinzu, »als sei es lebendig, als wolle es zu mir sprechen und könne nicht.«

»Gott behüte!«, rief die alte Dame erschrocken aus. »Sag doch nicht solche Sachen, Kind. Du bist nach deiner Krankheit noch nervös und schwach. Ich will deinen Stuhl umdrehen, dann siehst du es nicht mehr. So!«, sagte die alte Dame und setzte ihre Worte sogleich in die Tat um. »Jetzt ist es dir wenigstens aus den Augen.«

Doch vor seinem geistigen Auge sah Oliver das Bild tatsächlich noch so deutlich, als hätte er seine Position nicht verändert, aber er hielt es für besser, die gute alte Dame nicht weiter zu beunruhigen, also lächelte er still, als sie ihn anschaute. Und Mrs. Bedwin, die zufrieden war, dass er sich wohler fühlte, salzte die Brühe und brockte ein paar Stückchen Röstbrot hinein, mit all der Aufmerksamkeit, die einer so wichtigen Beschäftigung gebührte. Oliver aß die Brühe mit außerordentlicher Geschwindigkeit und hatte kaum den letzten Löffel genommen, als es sachte an der Tür klopfte.

»Herein«, rief die alte Dame, und Mr. Brownlow kam ins Zimmer.

Der alte Herr trat in froher Erwartung herein, aber sobald er sich die Brille auf die Stirn geschoben und die Hände hinter den Schößen seines Morgenrocks verschränkt hatte, um Oliver eingehend zu mustern, schnitt er eine ganze Reihe merkwürdiger Gesichter. Oliver wirkte von der Krankheit noch sehr mitgenommen und hatte Schatten unter den Augen. Aus Ehrerbietung vor seinem Wohltäter machte er einen vergeblichen Versuch aufzustehen, der jedoch damit endete, dass er wieder in den Stuhl zurücksank, und wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, war es tatsächlich so, dass Mr. Brownlows Herz, das für sechs gewöhnliche alte Herrn von menschenfreundlicher Wesensart ausgereicht hätte, ihm durch einen hydraulischen Vorgang, den zu erklären wir philosophisch nicht genügend bewandert sind, eine Ladung Tränen in die Augen beförderte.

»Armer Kerl, armer Kerl!«, sagte Mr. Brownlow und räusperte sich. »Ich habe heute morgen so ein Kratzen im Hals, Mrs. Bedwin. Ich fürchte, ich habe mich erkältet.«

»Hoffentlich nicht, Sir«, meinte Mrs. Bedwin. »All Ihre Sachen sind sorgfältig getrocknet und gelüftet worden, Sir!«

»Ich weiß nicht, Bedwin, ich weiß nicht«, sagte Mr. Brownlow, »ich vermute fast, ich hatte gestern beim Mittagessen eine feuchte Serviette, aber lassen wir das. Wie fühlst du dich, mein Lieber?«