Oliver Twist oder Der Werdegang eines Jungen aus dem Armenhaus

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Aus der Reihe: Reclam Taschenbuch
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Wie diese Greueltat Mr. Bumble mit aller Macht vor Augen trat, schlug er mit seinem Stock fest auf den Ladentisch und lief vor Empörung rot an.

»Also wirklich«, rief der Leichenbestatter, »das hätte ich ja nie-hie-mals …«

»Niemals, Sir!«, stieß der Büttel hervor. »Ihr nicht, und auch sonst niemand, aber jetzt ist sie tot, und wir müssen sie beerdigen, so lautet die Vorschrift, und je eher die Sache erledigt wird, desto besser.«

Bei diesen Worten setzte sich Mr. Bumble den Dreispitz im Eifer seiner amtlichen Erregung verkehrt herum auf und stürmte aus der Werkstatt.

»Tja, Oliver, er war so aufgebracht, dass er nicht einmal nach dir gefragt hat«, bemerkte Mr. Sowerberry, der dem Büttel nachschaute, wie er schnellen Schrittes die Straße hinabeilte.

»Ja, Sir«, entgegnete Oliver, der sich während der Unterredung mit Bedacht verborgen gehalten hatte und noch bei der Erinnerung an den Klang von Mr. Bumbles Stimme von Kopf bis Fuß bebte. Er hätte sich jedoch die Mühe sparen können, sich den Blicken Mr. Bumbles zu entziehen, denn dieser Beamte, auf den die Prophezeiung des Herrn in der weißen Weste tiefen Eindruck gemacht hatte, war der Meinung, das Thema sei, solange Oliver sich auf Probe beim Leichenbestatter befand, besser zu meiden, bis dieser für sieben Jahre fest gebunden und die Gefahr, dass er wieder der Gemeinde zur Last falle, ein für alle Mal gesetzlich gebannt sei.

»Gut«, sagte Mr. Sowerberry und nahm seinen Hut, »je eher wir dieses Geschäft hinter uns bringen, desto besser. Noah, gib auf die Werkstatt acht. Oliver, setz deine Mütze auf und komm mit.« Oliver gehorchte und folgte seinem Herrn bei dessen beruflichem Einsatz.

Sie gingen eine Weile durch das am dichtesten bevölkerte Viertel der Stadt, wo das Gedränge am größten war, bogen dann in eine enge Gasse, die schmutziger und elender war als alle anderen, durch die sie bisher gekommen waren, und hielten an, um sich nach dem Haus umzusehen, dem ihre Suche galt. Die Gebäude ragten zu beiden Seiten groß und hoch empor, waren aber sehr alt und wurden von Leuten der ärmsten Schicht bewohnt, wie die heruntergekommenen Fassaden zur Genüge verrieten, auch ohne dass es des gleichzeitigen Zeugnisses, das von dem verwahrlosten Aussehen der wenigen Männer und Frauen abgelegt wurde, die mit untergeschlagenen Armen und gebeugten Leibern vereinzelt umherschlichen, bedurft hätte. Viele der Häuser besaßen Ladenfronten, die jedoch fest verrammelt waren und verfielen, denn nur die oberen Stockwerke wurden bewohnt. Einige durch Alter und Verfall baufällig gewordene Gebäude wurden durch riesige hölzerne Balken, die gegen die Wände gestützt und fest auf der Straße verankert waren, am Einsturz gehindert. Doch selbst diese erbärmlichen Bruchbuden schienen von einigen unbehausten armen Teufeln als nächtliches Lager auserkoren worden zu sein, denn viele der groben Holzplanken, die Türen und Fenster ersetzten, waren herausgerissen worden, um eine Öffnung zu schaffen, groß genug, um einem menschlichen Körper Durchlass zu gewähren. In der Gosse stand das dreckige Abwasser. Sogar die Ratten, die hier und da verwesend im Moder lagen, sahen vor Hunger ganz elend aus.

Weder Klingelzug noch Klopfer befanden sich an der offenen Tür, vor der Oliver und sein Lehrherr stehen blieben, deshalb ertastete sich der Leichenbestatter vorsichtig den Weg durch den dunklen Gang, befahl Oliver, sich dicht hinter ihm zu halten und keine Angst zu haben, und stieg zum ersten Treppenabsatz empor, wo sie auf eine Tür stießen, an die Sowerberry mit seinen Knöcheln klopfte.

Ein junges Mädchen von dreizehn oder vierzehn Jahren öffnete. Mit einem Blick ins Innere des Zimmers sah der Leichenbestatter genug, um zu wissen, dass es sich um die Behausung handelte, zu der er bestellt worden war. Er trat ein, Oliver folgte ihm.

Im Zimmer brannte kein Feuer, aber ein Mann kauerte wie entrückt am leeren Ofen. Auch eine alte Frau hatte sich einen Hocker an den kalten Herd gezogen und saß neben ihm. In der anderen Ecke drängten sich ein paar zerlumpte Kinder, und in einer kleinen Nische gegenüber der Tür lag etwas unter einer alten Decke auf dem Boden. Oliver erschauderte, als sein Blick auf diese Stelle fiel, und er drückte sich unwillkürlich enger an seinen Herrn, denn obwohl die Decke darüber lag, spürte der Junge, dass es ein Leichnam war.

Der Mann hatte ein hageres, sehr bleiches Gesicht, Haare und Bart waren grau, die Augen blutunterlaufen. Das Gesicht der alten Frau war voller Runzeln, die beiden ihr noch verbliebenen Zähne standen über die Unterlippe vor, ihre Augen waren hell und stechend. Oliver fürchtete sich, sie oder den Mann anzuschauen. Sie schienen so sehr den Ratten zu gleichen, die er draußen gesehen hatte.

»Keiner rührt sie an«, rief der Mann und fuhr mit einem Ruck hoch, als der Leichenbestatter sich der Nische näherte. »Zurück! Weg da, schert Euch zum Teufel, zurück, wenn Euch Euer Leben lieb ist!«

»Aber nicht doch, guter Mann«, sagte der Leichenbestatter, der mit Elend in all seinen Erscheinungsformen wohlvertraut war. »Aber nicht doch!«

»Ich sag Euch«, rief der Mann, ballte seine Hände und stampfte wild auf den Boden, »ich sag Euch, ich werde nicht zulassen, dass sie unter die Erde kommt. Dort fände sie keine Ruhe. Die Würmer würden sie nur quälen, statt sie zu fressen, sie ist ja nur noch Haut und Knochen.«

Der Leichenbestatter erwiderte nichts auf diese Raserei, sondern holte ein Band aus seiner Tasche hervor und kniete für einen Augenblick neben dem Leichnam nieder.

»Ach!«, schluchzte der Mann, brach in Tränen aus und sank zu Füßen der toten Frau auf die Knie. »Kniet nieder, kniet nieder, kniet alle vor ihr nieder und hört meine Worte! Ich sag euch, man hat sie verhungern lassen. Ich wusste nicht, wie schlimm es mit ihr stand, bis das Fieber über sie kam, da stachen ihr dann die Knochen durch die Haut. Wir hatten weder Feuer noch Kerzen, sie starb im Finstern … im Finstern. Sie konnte nicht einmal die Gesichter ihrer Kinder sehen, obwohl wir hörten, wie sie keuchend ihre Namen rief. Ich hab auf der Straße für sie gebettelt, dafür hat man mich ins Gefängnis gesteckt. Als ich zurückkam, lag sie im Sterben, und mir brach das Herz, denn man hat sie verhungern lassen. Ich schwöre bei Gott, Er weiß es! Man hat sie verhungern lassen!«

Er griff sich mit den Händen ins Haar und wälzte sich mit einem lauten Schrei auf dem Boden, seine Augen starrten ins Leere, und Schaum trat ihm vor die Lippen.

Die verstörten Kinder weinten bitterlich, doch die alte Frau, die bis dahin so ruhig geblieben war, als sei sie taub für alles, was um sie herum geschah, brachte sie drohend zum Schweigen, und nachdem sie dem Mann, der ausgestreckt auf dem Boden liegen blieb, das Halstuch gelockert hatte, wankte sie zum Leichenbestatter.

»Sie war meine Tochter«, sagte die alte Frau, wobei sie mit ihrem Kopf Richtung Leichnam nickte und mit einem irren Blick sprach, der an diesem Ort sogar noch schauerlicher wirkte als die Anwesenheit des Todes. »O mein Gott! Es ist doch komisch, dass ich, die sie geboren hat und schon damals eine erwachsene Frau war, noch am Leben und wohlauf bin, und sie liegt da, so kalt und steif! O mein Gott … allein der Gedanke … zum Totlachen, zum Totlachen!«

Während das arme Geschöpf in seiner unheimlichen Fröhlichkeit noch vor sich hin murmelte und kicherte, wandte sich der Leichenbestatter zum Gehen.

»Halt, halt!«, rief die alte Frau mit heiserem Krächzen. »Wird sie morgen oder übermorgen oder heute abend beerdigt? Ich hab sie doch zur Aufbahrung eingekleidet und muss ja mitgehen, versteht Ihr. Schickt mir einen großen Mantel, einen schön warmen, denn es ist bitterkalt. Wir brauchen auch noch Kuchen und Wein, bevor wir gehen! Ach, lasst gut sein, schickt ein wenig Brot … nur einen Laib Brot und einen Becher Wasser. Bekommen wir ein wenig Brot, guter Mann?«, fragte sie beschwörend und packte den Leichenbestatter am Rock, als er sich erneut Richtung Tür bewegte.

»Ja, ja«, erwiderte der Leichenbestatter, »natürlich. Von allem und jedem!«

Er befreite sich aus dem Griff der Alten und eilte, Oliver hinter sich herziehend, schnell davon.

Am nächsten Tag (die Familie war inzwischen – von Mr. Bumble höchstpersönlich – mit einem halben Vierpfundbrot und einem Stück Käse versorgt worden) kehrten Oliver und sein Lehrherr zu der armseligen Behausung zurück, wo bereits Mr. Bumble in Begleitung von vier Männern aus dem Armenhaus, die als Träger dienen sollten, eingetroffen war. Sie warfen einen verschlissenen schwarzen Mantel über die Lumpen der alten Frau und des Mannes, und nachdem man den schmucklosen Sarg zugeschraubt hatte, hoben ihn die Träger auf die Schultern und gingen damit auf die Straße hinunter.

»Ihr müsst jetzt einen Schritt zulegen, Madam!«, flüsterte Sowerberry der Alten ins Ohr. »Wir sind spät dran, und es gehört sich nicht, den Geistlichen warten zu lassen. Vorwärts, Männer … so schnell ihr könnt!«

Derart angewiesen, trabten die Träger mit ihrer leichten Last los, und die beiden Trauernden blieben ihnen so gut sie vermochten auf den Fersen. Mr. Bumble und Mr. Sowerberry schritten in schnellem Tempo voran, und Oliver, dessen Beine nicht so lang waren wie die seines Herrn, rannte neben ihnen her.

Es bestand jedoch keine so dringliche Notwendigkeit zur Eile, wie Mr. Sowerberry angenommen hatte, denn als sie den abgelegenen Winkel des Friedhofs erreichten, wo die Nesseln wucherten und die Armengräber ausgehoben wurden, war der Geistliche noch nicht eingetroffen, und der Küster, der in der Sakristei am Feuer saß, schien es keineswegs für unwahrscheinlich zu halten, dass noch eine Stunde oder so vergehen könne, bevor er käme. Also stellten sie die Bahre am Rand des Grabes ab, und die beiden Trauernden standen geduldig wartend im aufgeweichten Lehm, während ein kalter Nieselregen niederging und die zerlumpten Jungen, die das Schauspiel auf den Friedhof gelockt hatte, zwischen den Grabsteinen lärmend Versteck spielten oder sich zur Abwechslung damit vergnügten, über den Sarg hin und her zu springen. Mr. Sowerberry und Mr. Bumble, die persönlich mit dem Küster befreundet waren, setzten sich zu ihm ans Feuer und lasen Zeitung.

 

Nachdem etwas mehr als eine Stunde verstrichen war, sah man endlich Mr. Bumble, Mr. Sowerberry und den Küster Richtung Grab laufen. Unmittelbar darauf erschien der Geistliche, der sich unterwegs das Chorhemd überstreifte. Sodann verdrosch Mr. Bumble, um den Schein zu wahren, ein oder zwei der Jungen, und Hochwürden reichte, nachdem er so viel von der Totenmesse gelesen hatte, wie sich in vier Minuten unterbringen ließ, dem Küster sein Chorhemd und ging wieder fort.

»Los, Bill«, sagte Sowerberry zum Totengräber, »schütt’s zu!«

Das stellte keine allzu schwere Arbeit dar, denn das Grab war so gefüllt, dass sich über dem obersten Sarg nur noch ein paar Fuß Luft befanden. Der Totengräber schaufelte Erde hinein, stampfte sie mit den Füßen ein wenig fest, schulterte seinen Spaten und ging davon, gefolgt von den Jungen, die sich laut murrend beschwerten, weil der Spaß so schnell vorbei war.

»Kommt, mein Freund«, sagte Bumble und klopfte dem Mann auf die Schulter, »sie wollen den Friedhof schließen.«

Der Mann, der vollkommen regungslos stehengeblieben war, seit er seinen Platz am Grab eingenommen hatte, fuhr zusammen, hob den Kopf und starrte den Menschen, der zu ihm gesprochen hatte, ausdruckslos an, tat ein paar Schritte nach vorne und fiel ohnmächtig zu Boden. Die irrsinnige Alte war zu sehr damit beschäftigt, den Verlust ihres Mantels (den ihr der Leichenbestatter wieder abgenommen hatte) zu beklagen, um dem Mann irgendwelche Beachtung zu schenken, weshalb man eine Kanne kaltes Wasser über ihn schüttete. Als der Mann zu sich kam, geleiteten sie ihn vorsichtshalber vom Friedhof, schlossen das Tor und zerstreuten sich in alle Richtungen.

»Nun, Oliver«, fragte Mr. Sowerberry auf dem Heimweg, »wie hat es dir gefallen?«

»Ganz gut, Sir, danke«, erwiderte Oliver recht zögerlich. »Eigentlich überhaupt nicht, Sir.«

»Ach, du wirst dich mit der Zeit daran gewöhnen«, meinte Sowerberry. »Halb so schlimm, wenn du erst einmal daran gewöhnt bist, mein Junge.«

Oliver überlegte, ob Mr. Sowerberry wohl sehr lange gebraucht habe, um sich daran zu gewöhnen, hielt es aber für besser, diese Frage nicht zu stellen, also ging er mit zur Werkstatt zurück und bedachte dabei alles, was er gesehen und gehört hatte.

Sechstes Kapitel

Oliver schreitet, von Noahs Spott angestachelt, zur Tat und versetzt ihn dabei nicht wenig in Erstaunen.

Mit Ablauf der einmonatigen Probezeit wurde Oliver in aller Form als Lehrjunge übernommen. Es herrschte damals gerade eine recht ungesunde Jahreszeit, was für das Geschäft bedeutete, dass Särge hoch im Kurs standen und Oliver innerhalb weniger Wochen viel Erfahrung sammelte. Der Erfolg von Mr. Sowerberrys klugem Plan übertraf seine kühnsten Erwartungen. Selbst die ältesten Einwohner konnten sich nicht erinnern, wann die Masern jemals so heftig und tödlich unter den Kindern gewütet hätten. So gab es zahlreiche trübselige Leichenzüge, die der kleine Oliver mit einem Trauerflor am Hut, der ihm bis ans Knie reichte, zum unbeschreiblichen Entzücken und zur Rührung aller Mütter der Stadt anführte.

Da Oliver seinen Lehrherrn auch bei den meisten Begräbnissen der Erwachsenen begleitete, damit er den Gleichmut im Benehmen und die vollkommene Beherrschung seiner Gefühlsregungen erlangen möge, die einen vollendeten Leichenbestatter erst ausmachen, bekam er oft Gelegenheit, die erstaunliche Schicksalsergebenheit und Seelenstärke zu beobachten, mit der gewisse unbeugsame Menschen ihre Prüfungen und Verluste ertrugen.

Erhielt Sowerberry beispielsweise den Auftrag zur Bestattung einer reichen alten Dame oder eines wohlhabenden Herrn, die eine große Anzahl Neffen und Nichten besaßen, so waren diese während derer vorangegangenen Krankheit völlig untröstlich gewesen und hatten ihren Gram selbst in aller Öffentlichkeit nicht bezwingen können, doch auf der Beerdigung gaben sie sich untereinander so unbekümmert, fröhlich und zufrieden, wie man sich nur denken kann, sie unterhielten sich so ungezwungen und heiter, als ob nichts geschehen wäre, was sie hätte betrüben können. Auch Ehemänner trugen den Verlust ihrer Gattinnen mit ausgesprochen heldenhafter Gelassenheit. Frauen wiederum legten ihrer verstorbenen Gatten wegen Witwentracht an, als ob sie, weit davon entfernt, sich in der Trauerkleidung zu grämen, dazu entschlossen wären, darin so schick und reizend wie nur möglich auszusehen. Es ließ sich auch beobachten, dass feine Damen und Herren, die noch während der Beerdigung große Seelenpein litten, sich bereits auf dem Heimweg wieder gut erholten und vollends davon genesen waren, bevor die Teestunde sich dem Ende zuneigte. All das war sehr erbaulich und lehrreich anzuschauen, und Oliver betrachtete es mit großer Bewunderung.

Obwohl ich der Verfasser seiner Lebensgeschichte bin, wage ich nicht mit absoluter Gewissheit zu behaupten, ob Oliver Twist sich durch das Beispiel dieser guten Leute seinem Schicksal ergeben hatte, ich kann aber versichern, dass er während vieler Monate klaglos die Schikanen und Misshandlungen durch Noah Claypole ertrug, der ihm schlimmer zusetzte als zuvor, jetzt, wo seine Eifersucht geweckt war, als er sah, wie der Neue zu schwarzem Stock und Trauerflor am Hut befördert wurde, während er, der alte Lehrjunge, weiter mit Wollmütze und Lederhose der Armenschüler herumlief. Charlotte behandelte ihn schlecht, weil Noah es tat, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil Mr. Sowerberry ihm freundschaftlich begegnete. Zwischen diesen dreien auf der einen und jeder Menge Beerdigungen auf der anderen Seite befand sich Oliver also keineswegs in solch kommoder Lage wie das hungrige Ferkel, als es versehentlich in die Kornkammer einer Brauerei gesperrt wurde.

Und jetzt komme ich zu einem höchst wichtigen Abschnitt in Olivers Geschichte, denn ich muss einen Vorfall verzeichnen, der vielleicht unbedeutend und nebensächlich erscheint, auf Umwegen aber all seine zukünftigen Aussichten und Erlebnisse von Grund auf veränderte.

Eines Tages, als Oliver und Noah zur üblichen Mittagszeit in die Küche hinabgestiegen waren, um sich an einem kleinen Stück Hammelbraten – anderthalb Pfund vom schlechtesten Nackenstück – gütlich zu tun, mussten sie, da Charlotte fortgerufen wurde, eine Weile warten, und Noah Claypole vermeinte, hungrig und boshaft wie er war, diese Zeit zu keinem besseren Zweck nutzen zu können, als den jungen Oliver Twist zu triezen und ihm das Leben schwer zu machen.

Zu diesem unschuldigen Zeitvertreib entschlossen, legte Noah seine Füße aufs Tischtuch, zog Oliver an den Haaren, zwickte ihm ins Ohr und gab seiner Meinung Ausdruck, er sei ein »Duckmäuser«, und verkündete außerdem seine Absicht, Olivers Hinrichtung am Galgen beizuwohnen, wann immer dieses begrüßenswerte Ereignis auch stattfinden mochte, und erging sich in weiteren kleinen Sticheleien, wie ein gemeiner und gehässiger Armenschüler, der er ja auch war. Da aber keine dieser Schmähungen die erwünschte Wirkung erzielte, Oliver zum Weinen zu bringen, versuchte Noah es mit noch größerer Schalkhaftigkeit, und tat bei diesem Versuch, was viele kleine Geister von weit höherem Ansehen als Noah bis heute zuweilen tun, wenn sie amüsant sein wollen. Er wurde persönlich.

»Armenhäusler«, sagte Noah, »wie geht’s deiner Mutter?«

»Sie ist tot«, antwortete Oliver, »sprich nicht von ihr.«

Oliver errötete, als er das sagte, sein Atem ging schneller, und um Mund und Nase zuckte es verdächtig, was Mr. Claypole für die Vorboten eines unmittelbar bevorstehenden Weinkrampfes hielt. In dieser Hoffnung setzte er nach.

»Woran isse denn gestorben, Armenhäusler?«, fragte Noah.

»An gebrochenem Herzen, wie mir die alte Pflegerin erzählt hat«, erwiderte Oliver, mehr zu sich selbst sprechend als Noah antwortend. »Ich glaub, ich verstehe, was das bedeutet.«

»Trallala, wer’s glaubt, wird selig, Armenhäusler«, rief Noah, als Oliver eine Träne über die Wange lief. »Was heulste denn auf einmal?«

»Nicht wegen dir«, erwiderte Oliver, der sich rasch die Träne wegwischte. »Bild dir das bloß nicht ein.«

»Ach, nich wegen mir, was?«, höhnte Noah.

»Nein, nicht wegen dir«, erwiderte Oliver scharf. »Das reicht jetzt, sprich besser nicht mehr von ihr, sieh dich vor!«

»Sieh dich vor!«, rief Noah. »Das ist gut! Sieh dich vor! Werd bloß nicht frech, Armenhäusler. Herr im Himmel, ich weiß schon, was deine Mutter für eine war!«

Dabei nickte Noah vielsagend mit dem Kopf und rümpfte seine kleine rote Nase mit so viel Muskelkraft, wie er zu diesem Zwecke aufzubringen vermochte.

»Weißt du, Armenhäusler«, fuhr Noah, durch Olivers Schweigen ermutigt, fort und sprach dabei im hämischen Ton geheuchelten Mitleids, dem aufreizendsten aller Tonfälle. »Weißt du, Armenhäusler, das lässt sich nu nich mehr ändern, und du hätts es auch damals nicht ändern könn, und es tut mir ehrlich leid, uns allen, und wir bedauern dich auch tüchtich. Aber du musst wissen, Armenhäusler, dass deine Mutter ein ganz liederliches Weibsstück war.«

»Was sagst du da?«, fragte Oliver und blickte rasch auf.

»Ein ganz liederliches Weibsstück, Armenhäusler«, erwiderte Noah unverfroren. »Und es is wirklich besser, dasse damals gestorben is, sonst wär se inzwischen im Zuchthaus, inner Verbannung oder am Galgen gelandet, was am wahrscheinlichsten is.«

Hochrot vor Zorn sprang Oliver auf, stieß Tisch und Stuhl um, packte Noah an der Kehle und schüttelte ihn in seiner Raserei so heftig, bis diesem die Zähne im Mund klapperten, dann legte er all seine Kraft in einen einzigen mächtigen Hieb und streckte ihn zu Boden.

Noch einen Augenblick zuvor schien der Junge das stille, schwache und entmutigte Geschöpf gewesen zu sein, das unbarmherzige Behandlung aus ihm gemacht hatte. Aber endlich waren seine Lebensgeister erwacht, die schimpfliche Beleidigung seiner verstorbenen Mutter hatte sein Blut in Wallung gebracht. Dort stand er, wie verwandelt, mit geschwellter Brust und aufrechter Haltung, mit lebhaft glänzenden Augen, und funkelte seinen feigen Peiniger an, der nun geduckt zu seinen Füßen lag, und trotzte ihm mit einer Stärke, die er nie zuvor gekannt hatte.

»Er will mich morden!«, kreischte Noah. »Charlotte! Frau Meisterin! Der neue Junge will mich morden! Hilfe! Hilfe! Oliver is verrückt geworden! Char-lot-te!«

Noahs Hilferufe wurden von einem lauten Aufschrei Charlottes und einem noch lauteren Mrs. Sowerberrys beantwortet. Erstere stürmte durch eine Seitentür in die Küche, während letztere auf der Treppe innehielt, um sich erst zu vergewissern, ob auch keine Lebensgefahr damit verbunden war, sich weiter hinabzubegeben.

»Oh, du kleiner Schuft!«, schrie Charlotte, ergriff Oliver mit ihrer ganzen Kraft, die der eines körperlich ertüchtigten, durchschnittlich starken Mannes gleichkam. »Oh, du kleiner un-dank-ba-rer, blut-rüns-ti-ger, ab-scheu-li-cher Ha-lun-ke!«

Und nach jeder Silbe versetzte sie Oliver mit voller Wucht einen Schlag, den sie jeweils, zum Ergötzen der Anwesenden, mit einem Schrei begleitete.

Charlottes Faust war alles andere als harmlos, doch aus Furcht, sie könne Olivers Wut nicht bezwingen, stürzte Mrs. Sowerberry in die Küche und eilte zu Hilfe, indem sie ihn mit der einen Hand festhielt, während sie ihm mit der anderen das Gesicht zerkratzte. Als die Dinge derart günstig standen, erhob sich Noah vom Boden und bearbeitete Olivers Rücken mit den Fäusten.

Diese Leibesübungen erwiesen sich dann doch als zu kraftraubend, um sie allzu lange zu betreiben. Als alle drei erschöpft waren und nicht mehr schlagen und kratzen konnten, schleiften sie Oliver, der sich sträubte und zeterte, aber kein bisschen eingeschüchtert war, in den Gerümpelkeller und sperrten ihn dort ein. Als dies vollbracht war, sank Mrs. Sowerberry in einen Stuhl und brach in Tränen aus.

»Himmel, die Gute wird ohnmächtig!«, rief Charlotte. »Ein Glas Wasser, Noah, mein Schatz, mach schnell.«

»Oh, Charlotte!«, sagte Mrs. Sowerberry, so gut sie es mit kurzem Atem und durchnässt vom Wasser, das Noah ihr reichlich über Kopf und Schulter gegossen hatte, eben vermochte. »Oh, Charlotte, wir können froh sein, dass wir nicht alle in unseren Betten ermordet wurden!«

 

»Ja, wirklich froh, Madam«, kam die Antwort. »Ich hoffe nur, das wird unsern Herrn lehren, nie mehr eines dieser schrecklichen Geschöpfe ins Haus zu holen, denen es von der Wiege an bestimmt ist, Räuber und Mörder zu werden. Armer Noah! Er war schon fast tot, als ich reinkam.«

»Armer Kerl!«, sagte Mrs. Sowerberry und schaute voller Mitleid auf den Armenschüler.

Noah, dessen oberster Westenknopf sich ungefähr auf Höhe von Olivers Scheitel befand, rieb sich, während ihm so viel Zuneigung zuteil wurde, mit den Innenseiten der Handgelenke die Augen und brachte ein paar rührselige Tränen und Schluchzer hervor.

»Was sollen wir bloß tun?«, rief Mrs. Sowerberry. »Der Meister ist nicht daheim, es ist kein Mann im Hause, und der Junge wird die Tür in zehn Minuten eingetreten haben.« Olivers ungestüme Tritte gegen das fragliche Stückchen Holz machten diese Einschätzung sehr wahrscheinlich.

»O Gott, o Gott, ich weiß nicht, Madam«, sagte Charlotte, »wir sollten wohl besser die Polizei rufen.«

»Oder die Sohldaten«, schlug Mr. Claypole vor.

»Nein, nein«, sagte Mrs. Sowerberry, der Olivers alter Freund in den Sinn gekommen war. »Lauf zu Mr. Bumble, Noah, und sag ihm, er soll schnurstracks herkommen, ohne auch nur eine Minute zu verlieren. Lass deine Mütze, beeil dich! Drück dir unterwegs ein Messer auf dein blaues Auge, damit es abschwillt.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, lief Noah los, so schnell er konnte, und die Leute, die draußen unterwegs waren, staunten nicht schlecht, einen Armenschüler ohne Mütze auf dem Kopf und mit einem Klappmesser am Auge durch das Gewimmel auf den Straßen rennen zu sehen.