David Copperfield

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Als Mr. Peggotty gegen neun Uhr nach Hause kam, strickte die unglückliche Mrs. Gummidge in jämmerlicher Stimmung in ihrer Ecke. Peggotty hatte fröhlich ihre Arbeit getan, Ham ein paar große Wasserstiefel ausgebessert, und ich hatte ihnen, neben Emly sitzend, vorgelesen. Mrs. Gummidge hatte nur zuweilen geseufzt und seit dem Tee die Augen nicht aufgeschlagen.

»Nun, Stüerlüt,« sagte Mr. Peggotty und setzte sich. »Wie geit dat?«

Wir alle antworteten freundlich mit Wort oder Blick, nur Mrs. Gummidge schüttelte den Kopf über ihrem Strickstrumpf.

»Wo fehlts?« fragte Mr. Peggotty, »Kopf hoch, Mutting!« Mrs. Gummidge aber schien nicht imstande zu sein, sich aufzumuntern. Sie zog ein altes, schwarzseidenes Taschentuch hervor und wischte sich die Augen, anstatt es jedoch wieder in die Tasche zu stecken, behielt sie es in der Hand und wischte sich nochmals die Augen und legte es neben sich, um es immer bereit zu haben.

»Wo fehlts, Alte?« fragte Peggotty.

»Nichts,« entgegnete Mrs. Gummidge. »Du kommst aus dem ›guten Vorsatz‹, – Danl?«

»Nun, ja, ich machte einen Abstecher heute abends in den ›guten Vorsatz‹,« sagte Mr. Peggotty.

»Es tut mir leid, daß ich dich immer dorthin treibe,« sagte Mrs. Gummidge.

»Treiben! Bei mir brauchts kein Treiben,« erwiderte Peggotty lachend. »Ich geh nur zu gern hin.«

»Sehr gern,« sagte Mrs. Gummidge, schüttelte den Kopf und wischte sich die Augen. »Ja, ja, sehr gern. Es tut mir leid, daß ich dran schuld bin.«

Mr. Peggotty sagte weiter nichts, sondern bat bloß Mrs. Gummidge noch einmal, den Kopf hochzuhalten.

»Ich bin nicht, wie ich sein möchte,« sagte Mrs. Gummidge. »Ich fühle mein Unglück und das macht mich unangenehm. Ich wollte, es wäre anders, aber ich fühle nun einmal so. Ich wollte, ich könnt es vergessen, aber es geht nicht. Ich mache das ganze Haus ungemütlich. Ich habe schon den ganzen Tag lang deiner Schwester das Leben sauer gemacht und Master Davy dazu.«

Ich wurde sofort gerührt und rief in großem Seelenschmerz ein lautes »nein, sicher nicht, Mrs. Gummidge.«

»Es ist gar nicht recht von mir,« fuhr sie fort, »ich sollte lieber ins Armenhaus gehen und sterben. Wenn mich alles die Quere geht, und ich allen der Quere bin, so will ich auch der Quere in meine Heimat gehen. Danl, besser ich ginge ins Armenhaus und stürbe; dann seid ihr mich los.«

Mit diesen Worten begab sich Mrs. Gummidge zu Bett. Als sie fort war, sah uns Mr. Peggotty, der bei jedem Wort nur die tiefste Teilnahme gezeigt hatte, der Reihe nach an, nickte mit dem Kopf und flüsterte: »Sej hett an ehrn Olen dacht.«

Ich verstand nicht recht, an was für einen Alten Mrs. Gummidge gedacht haben sollte, bis mir Peggotty, als sie mich zu Bett brachte, erklärte, daß es der selige Mr. Gummidge wäre, und daß ihr Bruder es stets bei solchen Gelegenheiten als ausgemachte Wahrheit annähme und es stets einen rührenden Eindruck auf ihn machte.

Noch in der Hängematte hörte ich ihn zu Ham sagen: Sej hett an ehrn Olen dacht! Und wann immer sich Mrs. Gummidge in ähnlicher Stimmung befand, hatte er für sie immer dieselbe Entschuldigung und immer dasselbe aufrichtige Mitleid.

So gingen die vierzehn Tage rasch dahin ohne andere Veränderung, als den Wechsel von Ebbe und Flut, der auch die Stunden, wo Mr. Peggotty und Ham gingen und kamen, verschob.

Hatte Ham nichts zu tun, begleitete er uns manchmal an den Hafen und zeigte uns die Boote und Schiffe, und ein- oder zweimal ruderte er uns spazieren. Ich weiß nicht, wie es kommt, warum so oft gerade ein unbedeutsames Bild immer an einem Namen am längsten haften bleibt. Nie höre oder lese ich den Namen Yarmouth, ohne an einen gewissen Sonntagmorgen am Strande erinnert zu werden, wo die Glocken in der Kirche läuteten, die kleine Emly sich auf meinen Arm stützte, Ham nachlässig Steine ins Wasser warf, und die Sonne draußen über dem Meer mühselig durch den dicken Nebel drang, und die Schiffe sich uns so undeutlich zeigten, als wären sie ihre eignen Schatten.

Endlich kam der Tag der Heimreise. Die Trennung von Mr. Peggotty und Mrs. Gummidge konnte ich noch verwinden. Aber der Abschied von der kleinen Emly zerriß mir das Herz. Wir gingen Arm in Arm nach dem Wirtshaus, wo der Fuhrmann anspannte und unterwegs versprach ich ihr zu schreiben. Dieses Versprechen löste ich später mit einem Aufwand von Buchstaben ein, die größer waren als die, mit denen man Mietanzeigen zu schreiben pflegt. Wir fühlten uns ganz vernichtet durch den Abschied, und wenn ich je in meinem Leben in meinem Herzen eine unbeschreibliche Leere empfunden habe, so war es an jenem Tag.

Die ganze Zeit meines Besuchs über war ich undankbar gegen mein mütterliches Haus gewesen und hatte wenig oder nicht daran gedacht. Aber kaum wendete ich meine Stritte ihm wieder zu, so wies auch schon vorwurfsvoll mein jugendliches Gewissen mit standhaftem Finger dorthin, und ich fühlte trotz der Bangigkeit des Abschieds, daß es meine Heimat und Mutter, meine Trösterin und Freundin war. Je näher wir dem Ziele kamen und je vertrauter mir die Umgebung wurde, desto stärker wuchs meine Sehnsucht, in ihre Arme zu eilen. Peggotty, anstatt diesen Drang zu teilen, suchte ihn, wenn auch sanft, in mir eher zu hemmen, und sah verlegen und verstimmt drein.

Trotz der Langsamkeit und Launenhaftigkeit des Pferdes langten wir doch endlich in Krähenhorst-Blunderstone an. Ich sehe noch den kalten, grauen Nachmittag mit dem dunkeln, regnerischen Himmel vor mir.

Die Tür ging auf und ich erwartete, halb lachend, halb weinend vor Erregtheit meine Mutter zu sehen. Aber nicht sie, sondern eine mir fremde Dienerin trat heraus.

»Ach, Peggotty!« sagte ich traurig. »Ist sie noch nicht wieder zu Hause?«

»Ja, ja, Master Davy,« sagte Peggotty, »wart ein bißchen, Master Davy, und ich werde dir etwas sagen.«

Teils aus Aufregung, teils aus natürlichem Ungeschick machte Peggotty beim Heraussteigen aus dem Wagen die seltsamsten Manöver, aber ich fühlte mich zu entmutigt und betroffen, um ihr etwas darüber zu sagen. Als sie glücklich draußen war, nahm sie mich bei der Hand, führte mich zu meiner Verwunderung in die Küche und schloß die Tür.

»Peggotty,« sagte ich, heftig erschrocken, »was ist denn?«

»Du meine Güte, nichts ist, mein lieber Davy,« antwortete sie und setzte eine möglichst heitere Miene auf.

»Es ist etwas geschehen, ich weiß es, wo ist Mama?«

»Wo Mama ist, Davy?« wiederholte Peggotty.

»Ja. Warum ist sie uns nicht entgegengekommen? Und weshalb sind wir hier hereingegangen? Ach Peggotty!«

Meine Augen standen voll Tränen und mir war zum umsinken.

»Mein Gott, der gute Junge!« rief Peggotty und hielt mich aufrecht. »Was ist dir? Sprich, mein Herzblatt!«

»Sie ist doch nicht tot? Nicht tot? Peggotty?«

»Nein,« schrie Peggotty mit erstaunlicher Kraft in der Stimme. Dann setzte sie sich nieder, fing an zu keuchen und sagte, ich hätte sie fürchterlich erschreckt.

Um das wieder gutzumachen, fiel ich ihr um den Hals, stellte mich dann vor sie hin und sah sie mit banger Erwartung an.

»Ja, schau, Liebling, ich hätte dirs schon früher sagen sollen, aber ich fand keine Gelegenheit dazu. Ich hätte es längst tun sollen, aber ich konnte mich partuh« – das war immer der Stellvertreter in Peggottys Wörterheer für »durchaus« – »nicht dazu entschließen.«

»Weiter Peggotty,« sagte ich noch mehr erschreckt als vorher.

»Master Davy,« sagte Peggotty und knüpfte ihr Hutband mit zitternden Händen auf – sie war ganz außer Atem: –

»Was meinst du? Du hast einen Papa bekommen.«

Ich fuhr zusammen und wurde blaß. Ein Etwas – ich weiß nicht was –, das mit dem Grab auf dem Kirchhof und der Auferstehung der Toten zusammenhing, schien mich wie ein giftiger Hauch zu streifen.

»Einen neuen,« sagte Peggotty.

»Einen neuen?« wiederholte ich.

Peggotty schluckte, als ob ihr etwas Hartes im Halse stecken geblieben wäre, reichte mir die Hand und sagte:

»Komm, du mußt ihn sehen –«

»Ich will ihn nicht sehen.«

»– und deine Mama.«

Ich widerstand nicht länger, und wir gingen sogleich in das Empfangszimmer, wo sie mich verließ.

An der einen Seite des Kamins saß meine Mutter, an der andern Mr. Murdstone. Meine Mutter ließ ihre Arbeit sinken und stand rasch auf, aber, wie es mir schien, furchtsam.

»Liebe Klara,« sagte Mr. Murdstone, »denke daran! Beherrsche dich, immer beherrsche dich! Davy, mein Junge, wie geht es dir?«

Ich gab ihm die Hand. Nach einem Augenblick der Unentschlossenheit ging ich zu meiner Mutter und küßte sie; sie küßte mich wieder, klopfte mich sanft auf die Schulter und nahm wieder ihre Arbeit zur Hand. Ich konnte ihn nicht ansehen, ich konnte sie nicht ansehen, ich wußte bestimmt, daß er uns beide ansah, und ich ging ans Fenster und blickte hinaus auf ein paar Stauden, die ihre Köpfe in der Kälte hängen ließen.

Sobald ich mich wegdrücken konnte, schlich ich die Treppe hinauf. Mein liebes, altes Schlafzimmer war ganz anders geworden, und ich mußte weit hinten schlafen. Ich ging wieder hinunter, um irgend etwas zu finden, das sich nicht verändert hätte, so fremd schien mir alles, – und trat auf den Hof hinaus. Schnell schreckte ich zurück, denn die leere Hundehütte war jetzt von einem großen Hund bewohnt, der eine tiefe Stimme und schwarze Haare hatte, – wie er, – und grimmig an seiner Kette riß, um über mich herzufallen.

Viertes Kapitel

Wäre das Zimmer, wo damals mein Bett stand, ein fühlendes Wesen, möchte ich es heute – wer wohl jetzt darin schlafen mag – zum Zeugen anrufen, wie schwer mir das Herz war, als ich eintrat.

 

Wie ich die Treppe hinaufging, hörte ich den Hund hinter mir dreinbellen; und drinnen sah ich die Stube mit ebenso fremden Augen an wie sie mich. Ich setzte mich hin, die kleinen Hände gefaltet, und dachte nach.

Ich dachte an die seltsamsten Dinge, an die Form des Zimmers, an die Sprünge in der Decke, an die Tapeten an den Wänden, an die Rippen und Flecken im Fensterglas, hinter denen sich die Gegenstände draußen verzerrten und verschoben, an den Waschtisch, der auf drei Beinen wackelte, etwas Unzufriedenes hatte und mich an Mrs. Gummidge erinnerte.

Ich weinte die ganze Zeit über, dachte aber keinen Augenblick darüber nach, warum ich weinte. Ich empfand nur das Gefühl der Kälte und Niedergeschlagenheit. In meiner Einsamkeit fing ich an, mir auszumalen, wie schrecklich verliebt ich in die kleine Emly sei, und daß man mich von ihr gerissen habe, während sich hier niemand um mich kümmerte. Das machte mich derart unglücklich, daß ich mich in einen Zipfel der Bettdecke wickelte und mich in Schlaf weinte.

Hörte dann jemand sagen, »hier ist er,« und wachte auf mit glühheißem Kopf. Meine Mutter und Peggotty hatten mich aufgesucht, und eine von beiden mußte die Worte gesprochen haben.

»Davy,« sagte meine Mutter, »was fehlt dir?«

Ich fühlte es als etwas sehr Sonderbares, daß sie mich noch fragen konnte, und antwortete: »Nichts.« Ich legte mich aufs Gesicht, damit sie meine zitternden Lippen nicht sähe, die ihr bessere Auskunft gegeben hätten.

»Davy,« sagte meine Mutter. »Davy, mein Kind!«

Keine Worte hätten mich mehr rühren können, als daß sie mich ihr Kind nannte. Ich verbarg meine Tränen in den Kissen und drängte meine Mutter weg, als sie meinen Kopf aufheben wollte.

»Das ist dein Werk, Peggotty, du grausames Ding!« schrie meine Mutter. »Ich zweifle gar nicht daran. Wie kannst du es mit deinem Gewissen vereinbaren, meinen eignen Jungen gegen mich oder irgend jemand, den ich lieb habe, aufzuhetzen? Was soll das heißen, Peggotty?«

Die arme Peggotty erhob Hände und Augen zum Himmel und antwortete nur mit einer Art Paraphrase des Tischgebets, das ich nach dem Essen herzusagen pflegte: »Gott vergebe Ihnen, Mrs. Copperfield, was Sie in dieser Minute gesagt haben. Mögen Sie es niemals ernstlich bereuen!«

»Es ist zum Verrücktwerden!« rief meine Mutter, »noch dazu in meinen Flitterwochen, wo man denken sollte, mein erbittertster Feind müßte Erbarmen haben und mir nicht das bißchen Ruhe und Glück neiden. Davy, du nichtsnutziger Junge! Peggotty, du wildes Geschöpf! Ach Gott, ach Gott!« rief sie in ihrer kindischen Art. »Wie ist die Welt doch widerwärtig, grade wenn man so viel Angenehmes von ihr erwartet!«

Ich fühlte die Berührung einer Hand, der ich sogleich anmerkte, daß sie weder meiner Mutter noch Peggotty gehörte, und sprang rasch aus dem Bett. Es war Mr. Murdstones Hand, der meinen Arm faßte. Ich hörte, wie er sagte:

»Was ist das, liebe Klara, hast du vergessen? Festigkeit! meine Liebe!«

»Es tut mir recht leid, Edward,« sagte meine Mutter. »Ich habe mir alle Mühe gegeben, aber mir ist so unbehaglich.«

»Wirklich!« antwortete er. »Sobald schon. Das ist ja recht schlimm, Klara.«

»Es ist recht bitter, daß es mich jetzt so treffen muß,« sagte meine Mutter schmollend. »Sehr, sehr bitter, nicht wahr!«

Er zog sie an sich, flüsterte ihr etwas ins Ohr und küßte sie. Als ich sah, wie meine Mutter ihren Kopf an seine Schulter lehnte und ihren Arm um seinen Nacken schlang, da begriff ich damals so gut wie jetzt, daß er ihrem weichen Charakter jede beliebige Gestalt geben konnte.

»Geh hinunter, meine Liebe,« sagte er. »David und ich wollen auch hinunterkommen.«

»Meine Gute,« fuhr er mit einem finstern Gesicht zu Peggotty fort, als er meine Mutter an die Tür begleitet und mit einem Nicken und einem Lächeln verabschiedet hatte. »Sie kennen doch den Namen Ihrer Herrin!«

»Sie war lange genug meine Herrin, Sir,« antwortete Peggotty, »als daß ich ihn nicht kennen sollte.«

»Das ist richtig,« antwortete er, »aber mir schien es, wie ich die Treppe heraufkam, als ob Sie sie mit einem Namen anredeten, der nicht der ihrige ist. Sie wissen doch, daß sie meinen angenommen hat. Vergessen Sie das nicht.«

Mit einigen besorgten Blicken auf mich knixte Peggotty sich aus dem Zimmer heraus, ohne zu antworten. Sie begriff, daß sie gehen sollte, und fand keinen Vorwand, um dazubleiben. Als wir beide allein waren, machte er die Türe zu, setzte sich auf einen Stuhl, stellte mich vor sich hin, während er mich immer noch am Arm festhielt, und sah mir unverwandt in die Augen. Ich fühlte meinen Blick fest an ihn gebannt. Wenn ich mir vorstelle, wie wir uns da mals Auge in Auge gegenüberstanden, kommt es mir vor, als hörte ich wieder mein Herz schneller und lauter schlagen.

»David,« sagte er und preßte seine Lippen ganz dünn zusammen, »wenn ich einen eigensinnigen Gaul oder Hund vor mir habe, was glaubst du wohl, tue ich dann mit ihm?«

»Ich weiß nicht.«

»Ich prügle ihn!«

Ich hatte ihm mit einem atemlosen Geflüster geantwortet, aber in meinem Schweigen fühlte ich, daß mein Atem noch kürzer wurde.

»Ich haue ihn, daß er sich windet vor Schmerz. Ich sage mir, ich will den Burschen bezwingen, und wenns ihm alles Blut im Leibe kosten sollte. Was hast du im Gesicht?«

»Schmutz,« sagte ich.

Er wußte so gut wie ich, daß es Tränenspuren waren. Aber wenn er mich zwanzigmal gefragt hätte, jedesmal mit zwanzig Hieben, so glaube ich doch, mein Kinderherz wäre eher gebrochen, ehe ich ihm das eingestanden hätte.

»Du bist recht gescheit für dein Alter,« sagte er mit dem ernsten Lächeln, das ihm eigen war. »Und ich sehe, du hast mich ganz gut verstanden. Wasche dir das Gesicht und komme mit mir herunter.«

Er deutete auf den Waschtisch, der mir wie Mrs. Gummidge vorkam, und machte eine Bewegung mit dem Kopf, ich solle sofort gehorchen. Ich zweifelte damals nicht und jetzt noch viel weniger, daß er mich ohne das geringste Erbarmen zu Boden geschlagen haben würde, wenn ich gezögert hätte.

»Meine liebe Klara,« sagte er, als er mit mir in das Wohnzimmer trat, immer noch meinen Arm festhaltend, »ich hoffe, du wirst jetzt keinen Verdruß mehr haben. Wir werden unsre jugendlichen Launen schon ablegen und uns bessern.«

Gott helfe mir, ich hätte für mein ganzes Leben gebessert werden können, ich wäre ein ganz andrer Mensch geworden durch ein einziges freundliches Wort damals. Ein Wort der Ermutigung und Erklärung und des Mitgefühls für meine kindliche Unwissenheit, des Willkomms in der Heimat, eine Versicherung, daß das alte mütterliche Haus noch ganz dasselbe sei, hätten mich zu einem gehorsamen Sohn gemacht, anstatt daß ich jetzt Gehorsam heuchelte, – hätten mich ihn achten gelehrt anstatt hassen.

Mir kam es so vor, als ob es meiner Mutter leid täte, mich so scheu und fremd im Zimmer stehen zu sehen. Und daß sie mir mit sorgenvollen Blicken folgte, als ich nach meinem Stuhle schlich. Das Wort aber wurde nicht gesprochen, und die Zeit dazu war vorüber.

Wir speisten alle drei allein am Tisch. Er schien meine Mutter sehr gern zu haben, – ich fürchte fast, er war mir deshalb nicht weniger zuwider, – und sie war sehr zärtlich zu ihm. Aus seinen Reden merkte ich, daß eine ältere Schwester von ihm ankommen sollte und bei uns bleiben. Ich weiß nicht mehr, ob ich schon damals oder erst später erfuhr, daß er einen Geschäftsanteil an einer Weinhandlung in London besaß, – schon von Großvaters Zeiten her, – an der seine Schwester in gleicher Weise beteiligt war; jedenfalls kann ich es gleich hier bemerken.

Nach dem Essen, als wir vor dem Feuer saßen und ich darüber nachsann, wie ich zu Peggotty flüchten könnte, dabei aber nicht den Mut hatte, zu entschlüpfen, fuhr ein Wagen an der Gartentür vor, und er ging hinaus, um den Besuch zu empfangen.

Meine Mutter folgte ihm. Ich ging schüchtern hinter ihr drein, da drehte sie sich in der Stubentür um, drückte mich im Dunkeln ans Herz, wie früher, und flüsterte mir zu, ich solle meinen neuen Vater lieben und ihm gehorsam sein.

Sie tat das so hastig und geheimnisvoll, als ob es ein Unrecht wäre, aber mit großer Zärtlichkeit. Dann zog sie mich hinter sich her in den Garten, wo er stand. Dort ließ sie mich wieder los und legte ihren Arm in den seinen.

Miß Murdstone war angekommen, eine finster aussehende Dame, schwarz wie ihr Bruder, dem sie in Gesicht und Stimme sehr glich. Sie hatte starke, buschige Augenbrauen, die über ihrer großen Nase fast zusammenstießen, als wollten sie den Backenbart ersetzen, den ihr Geschlecht ihr versagt hatte.

Sie brachte ein paar unnachgiebige, schwarze Koffer mit, auf deren Deckeln mit harten Messingnägeln ihr Monogramm stand. Um den Kutscher zu bezahlen, holte sie ihr Geld aus einer harten, stählernen Börse. Sie trug die Börse in einem wahren Kerker von Strickbeutel, der ihr an einer schweren Kette am Arm hing und wie ein Gebiß schloß. Ich hatte bis dahin noch nie eine so durch und durch metallische Dame gesehen wie Miß Murdstone.

Sie wurde mit vielen Zeichen des Willkommens in die Stube geführt, und dort erkannte meine Mutter sie in aller Form als neue nahe Verwandte an.

Dann blickte mich Miß Murdstone an und sagte:

»Ist das dein Junge, Schwägerin?«

Meine Mutter bejahte.

»Im allgemeinen«, sagte Miß Murdstone, »kann ich Jungen nicht leiden. Wie gehts dir, Junge?«

Unter diesen ermutigenden Umständen antwortete ich, daß es mir gut ginge und ich dasselbe von ihr hoffte, aber mit so wenig Wärme, daß Miß Murdstone mich mit den zwei Worten abfertigte:

»Keine Manieren.«

Nachdem sie dies mit großer Bestimmtheit ausgesprochen, wünschte sie auf ihr Zimmer geführt zu werden, das von der Zeit an für mich zu einem Ort des Grauens und der Furcht wurde, weil die beiden schwarzen Koffer stets verschlossen dort standen und eine Menge kleiner Stahlfesseln und Kettchen, mit denen sich Miß Murdstone zu verschönern pflegte, in furchtgebietenden Reihen über dem Spiegel hingen.

Soviel ich herausbekommen konnte, war sie in der Absicht gekommen, Gutes zu stiften, und sie trug sich nicht mit dem Gedanken, jemals wieder wegzugehen. Schon am nächsten Morgen fing sie an, meiner Mutter zu »helfen«, und ging den ganzen Tag in der Vorratskammer aus und ein, um alles zurechtzusetzen und die alte Ordnung umzustürzen.

Ihre hervorstechendste Eigenschaft schien mir die zu sein, daß sie beständig argwöhnte die Dienstmädchen hielten irgendwo im Hause einen Mann verborgen. Von diesem Wahn besessen, tauchte sie zu den ungewöhnlichsten Zeiten in den Kohlenkeller und öffnete fast nie die Tür dunkler Schränke, ohne sie zugleich wieder zuzuschlagen, im Glauben, daß sie »ihn« erwischt hätte.

Obgleich durchaus nichts Luftiges sonst an Miß Murdstone war, glich sie doch in puncto Frühaufstehen einer Lerche. Sie war auf den Beinen, wie ich heute noch glaube, um nach dem Mann zu suchen, ehe sich noch irgend etwas im Hause regte. Peggotty huldigte der Ansicht, daß sie stets nur mit einem Auge schliefe. Ich konnte mich diesem Glauben nicht anschließen, seit ich selbst versucht und herausgefunden hatte, daß so etwas nicht möglich ist.

Schon am ersten Morgen nach ihrer Ankunft stand sie früh auf und klingelte beim ersten Hahnenschrei. Als meine Mutter zum Frühstück herunterkam, gab ihr Miß Murdstone eine Art Schnabelhieb auf die Wange – das war bei ihr die kußähnlichste Bewegung – und sagte: »Nun, liebe Klara, du weißt, ich bin hergekommen, um dir alles abzunehmen. Du bist viel zu hübsch und gedankenlos,« – meine Mutter errötete, lachte aber und schien diese Charakterisierung nicht übel zu nehmen – »als daß dir Pflichten auferlegt werden dürfen, die ich erfüllen kann. Wenn du so gut sein willst, mir die Schlüssel zu übergeben, meine Liebe, so will ich alles das in Zukunft selber besorgen.«

Von dieser Zeit an behielt Miß Murdstone die Schlüssel den Tag über in ihrem Beutel und die Nacht über unter ihrem Kopfkissen; meine Mutter hatte nicht mehr damit zu tun, als ich selbst.

Meine Mutter ließ sich ihre Herrschaft nicht rauben, ohne vorher einen leisen Versuch von Widerstand zu machen. Eines Abends, als Miß Murdstone ihrem Bruder gewisse Haushaltungspläne entwickelt hatte und er seine Zustimmung gab, fing meine Mutter plötzlich an zu weinen und sagte, man hätte sie doch wohl auch zu Rate ziehen können.

»Klara,« sagte Mr. Murdstone streng, »Klara, ich bin erstaunt über dich!«

»Du hast gut von erstaunt sein sprechen, Edward,« rief meine Mutter, »und von Festigkeit, aber das würdest du dir auch nicht gefallen lassen.«

 

Festigkeit, muß ich bemerken, war die große Eigenschaft, auf der beide, Mr. und Miß Murdstone, fußten. Ich weiß nicht, welchen Namen ich damals dafür gewählt hätte, aber ich begriff genau, daß es nur eine andre Bezeichnung für Tyrannei war und für eine gewisse finstere, anmaßende, teuflische Laune, die in den beiden steckte. Das Glaubensbekenntnis, würde ich jetzt mich ausdrücken, Mr. Murdstones lautete: Ich bin fest, niemand soll in der Welt so fest sein wie ich, niemand überhaupt fest, und alles soll sich vor meiner Festigkeit beugen. Miß Murdstone war die eine Ausnahme. Sie durfte fest sein, aber nur aus verwandtschaftlichen Rücksichten und in einem untergeordneten und tributpflichtigen Grad. Meine Mutter war die zweite Ausnahme. Sie konnte und durfte fest sein und mußte es, aber nur im Ertragen der Festigkeit der beiden andern.

»Es ist sehr hart,« sagte meine Mutter, »daß ich in meinem eignen Hause –«

»In meinem eignen Hause?!« wiederholte Mr. Murdstone. »Klara!«

»Unserm eignen Hause, meine ich,« stotterte meine Mutter ganz erschrocken, – »ich hoffe, du weißt, was ich meine, Edward, – es ist sehr hart, daß ich in deinem eignen Hause nicht ein Wort über häusliche Angelegenheiten sagen darf. Ich habe sicher sehr gut hausgehalten, ehe wir heirateten. Ich habe Beweise,« setzte sie schluchzend hinzu. »Frag nur Peggotty, ob es nicht recht gut ging, als man mir nicht dreinredete.«

»Edward,« sagte Miß Murdstone, »machen wir der Sache ein Ende. Ich reise morgen ab!«

»Jane Murdstone!« donnerte Mr. Murdstone, »wirst du schweigen! Was unterstehst du dich!«

Miß Murdstone zog ihr Taschentuch aus dem Kerker und hielt es vor die Augen.

»Klara,« fuhr er fort, »du setzest mich in Erstaunen! Ja. Ich fand Befriedigung in dem Gedanken, eine unerfahrene und harmlose Person zu heiraten und ihren Charakter zu bilden und ihr etwas von der Festigkeit und Entschiedenheit zu geben, die ihr fehlen. Aber wenn Jane Murdstone so gütig ist, mir darin beizustehen, und meinetwegen eine Stellung gleich der einer Haushälterin übernimmt und dafür so schlechten Dank erntet, –«

»O bitte, bitte, Edward!« rief meine Mutter. »Sag nicht, daß ich undankbar bin. Ich bin sicher nicht un dankbar, das hat mir noch niemand gesagt. Ich habe viele Fehler, aber nicht diesen. Bitte, sage das nicht, Liebling!«

»Wenn Jane Murdstone, sage ich,« fuhr er fort, nachdem er meine Mutter hatte ausreden lassen, »dafür Undank erntet, so fühle ich meine Gefühle erkalten.«

»Liebling, bitte, sag das nicht,« flehte meine Mutter kläglich. »O bitte, Edward, ich kann das nicht ertragen. Wie ich auch immer sein mag, ich bin nachgiebig und dankbar. Ich weiß, ich bin es, bin nachgiebig und dankbar. Ich würde es nicht sagen, wenn ich es nicht gewiß wüßte. Frag nur Peggotty. Sie wird es gewiß bestätigen.«

»Bloße Schwäche fällt bei mir nicht ins Gewicht, Klara,« entgegnete er. »Du verschwendest nur deine Worte.«

»Komm, laß uns wieder gut sein,« sagte meine Mutter. »Ich könnte nicht leben in Kälte und Unfreundlichkeit um mich herum. Es tut mir so herzlich leid. Ich habe sehr viele Fehler, ich weiß, und es ist sehr gut von dir, Edward, daß du mit deinem starken Charakter dir Mühe gibst, mich zu bessern. Jane, ich will dir nicht mehr widersprechen. Es würde mir das Herz brechen, wenn du nur daran dächtest, uns zu verlassen –« meine Mutter konnte nicht weiter sprechen vor lauter Rührung.

»Jane Murdstone,« sagte Mr. Murdstone zu seiner Schwester, »harte Worte sind zwischen uns selten. Es ist nicht meine Schuld, daß heut abends ein so ungewöhnliches Ereignis stattgefunden hat. Ich wurde von jemand anders dazu gebracht. Aber es ist auch nicht deine Schuld, auch dich hat jemand in eine schiefe Lage gebracht. Wir wollen beide trachten, es zu vergessen. Und da dies,« fügte er nach diesen großmütigen Worten hinzu, »kein passendes Bild ist für den Knaben, so geh zu Bett, David.«

Ich konnte kaum die Türe finden, so voll Tränen standen meine Augen. Ich fühlte meiner Mutter Schmerz so tief mit; ich schlich hinaus und tappte im Dunkeln die Treppe hinauf in mein Zimmer, ohne nur das Herz zu haben, Peggotty gute Nacht zu sagen oder mir eine Kerze von ihr geben zu lassen. Als sie vielleicht eine Stunde später nach mir sah, wachte ich auf, und sie sagte mir, meine Mutter sei sehr betrübt zu Bett gegangen, und Mr. und Miß Murdstone säßen noch unten allein.

Am nächsten Morgen ging ich etwas früher als gewöhnlich hinunter und hörte, wie drinnen meine Mutter Miß Murdstone demütigst um Verzeihung bat. Die Dame verzieh ihr, und es fand eine vollständige Aussöhnung statt. Nie wieder später hörte ich meine Mutter über irgend etwas eine Meinung äußern, ehe sie sich nicht zuvor an Miß Murdstone gewendet oder in sichre Erfahrung gebracht hatte, was ihre Ansicht sei; und nie wieder sah ich Miß Murdstone in übler Laune nach dem Beutel greifen, als ob sie die Schlüssel herausnehmen und sie meiner Mutter zurückgeben wollte, ohne daß diese nicht in die schrecklichste Angst geraten wäre.

Das dunkle Blut, das in den Adern der Murdstones floß, gab auch ihrer Religion etwas Finsteres und Strenges. Ich habe seitdem oft darüber nachgedacht, ob diese Eigenschaft nicht eine notwendige Folge war von Mr. Murdstones Festigkeit, die ihm niemals erlauben wollte, irgend jemand von der strengsten Strafe freizusprechen. Sei dem, wie es wollte, ich kann mich noch recht gut der finstern und ernsten Gesichter erinnern, mit denen wir zum Gottesdienst zu gehen pflegten, und des veränderten Eindrucks, den die Kirche auf mich machte.

Wieder kommt der gefürchtete Sonntag, und ich marschiere zuerst in den alten Betstuhl, wie ein bewachter Sträfling zu einem Gefangenengottesdienst. Dicht hinter mir folgt Miß Murdstone in einem schwarzen Samtkleid, das aus einem Leichentuch gemacht zu sein scheint. Dann kommt meine Mutter, dann ihr Gatte. Peggotty geht nicht mehr mit wie früher. Wieder höre ich Miß Murdstone die Responsorien murmeln und auf alle drohenden Worte mit grausamem Behagen besondern Nachdruck legen. Wieder sehe ich ihre dunklen Augen in der Kirche umherschweifen, wenn sie sagt »elende Sünder«, als wenn sie die ganze Gemeinde in diesem Namen einschließen wolle. Wieder werfe ich verstohlene Blicke auf meine Mutter, die ihre Lippen schüchtern flüsternd bewegt, während das Summen der beiden in ihren Ohren brummt wie fernes Donnergrollen. Dann überkommt mich eine plötzliche Furcht, ob nicht vielleicht Mr. und Miß Murdstone recht haben und unser guter Pfarrer unrecht, und daß alle Engel im Himmel Racheengel sein könnten. Wenn ich einen Finger rühre oder eine Muskel meines Gesichts schlaff wird, stößt mich Miß Murdstone mit ihrem Gebetbuch, daß mich die Seite schmerzt.

Und auf dem Heimweg bemerke ich, wie die Nachbarn mich und meine Mutter ansehen und uns nachblicken und miteinander flüstern. Und wie die drei Arm in Arm gehen und ich allein hinter ihnen drein, folge ich diesen Blicken und frage mich, ob meiner Mutter Gang wirklich nicht mehr so leicht ist und ob das heitere Glück ihrer Schönheit nicht schon ganz trüb geworden. Ich frage mich, ob die Nachbarn wohl auch daran denken, wie wir beide früher nach Hause gingen, und ich zerbreche mir den Kopf darüber den ganzen langsam sich hinschleppenden trüben Tag.

Von Zeit zu Zeit war davon die Rede gewesen, mich in eine Kostschule zu schicken. Mr. und Miß Murdstone hatten es angeregt, und meine Mutter hatte natürlich beigestimmt. Nichtsdestoweniger kam es vorläufig noch nicht dazu. Vorläufig hatte ich zu Hause Lehrstunden.

Werde ich diesen Unterricht wohl je vergessen? Dem Namen nach stand ihm meine Mutter vor, in Wirklichkeit aber Mr. Murdstone und seine Schwester, die immer zugegen waren und darin eine günstige Gelegenheit sahen, meiner Mutter Lektionen in der Festigkeit zu erteilen, die unser beider Leben vergiftete.