Violet Socks

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Violet Socks
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Celine Ziegler



Violet Socks



Warum man hundertmal Lebe wohl sagt





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Inhaltsverzeichnis





Titel







Prolog







Kapitel 1







Kapitel 2







Kapitel 3







Kapitel 4







Kapitel 5







Kapitel 6







Kapitel 7







Kapitel 8







Kapitel 9







Kapitel 10







Kapitel 11







Kapitel 12







Kapitel 13







Kapitel 14







Kapitel 15







Kapitel 16







Kapitel 17







Kapitel 18







Kapitel 19







Kapitel 20







Kapitel 21







Kapitel 22







Kapitel 23







Kapitel 24







Kapitel 25







Kapitel 26







Kapitel 27







Kapitel 28







Kapitel 29







Kapitel 30







Kapitel 31







Kapitel 32







Epilog







Impressum neobooks







Prolog





Vier Jahre zuvor




„Das ist das absolut obercoolste Geburtstagsgeschenk aller Zeiten.“



„Nein, ist es nicht. Du lügst.“



„Ich lüge nicht. Guck doch, sie passen perfekt.“



„Dein kleiner Zeh schaut heraus, Violet. Sie sehen schrecklich aus.“



„Harry, nun sei mal nicht so. Sie passen und du hast das toll gemacht. Außerdem ist violett meine liebste Farbe.“



„Das V sieht aus wie ein U und das H wie eine seltsame Hieroglyphe.“



„Sie sind superweich, ich glaube, ich behalte sie den ganzen Tag an.“



„Oh man, die oberste Naht öffnet sich.“



„Harry.“



„Erst jetzt fällt mir auf, dass sie unterschiedlich lang sind.“



„Und die Maschen sind total lose.“



„Genau. Und da ist ein Loch in bei deiner Ferse.“



„Noch dazu sind sie gar nicht so weich wie ich behauptet habe.“



„Da hängen überall Fäden aus dem Stoff.“



„Ich kann sogar spüren, dass sich einer davon um meinen großen Zeh gewickelt hat.“



„Sie werden dich beim Laufen stören.“



„Sehr gut möglich.“



„Du wirst mit diesen Teilen hinfliegen, Violet.“



„Oh ja, und der Aufprall wird wehtun.“



„Du könntest dir gleich zweimal den Fuß brechen. So wie ich damals.“



„Das tat weh, richtig?“



„Es tat

richtig

 weh.“



„Aber, hey, Harry …“



„Zieh diese schrecklichen violetten Socken bitte aus, ich nehme sie wieder mit und werfe sie direkt in die Tonne für unzumutbare Geburtstagsgeschenke.“



„… Ich mag sie und …“



„Du bist eine grausige Lügnerin.“



„… und sie erinnern mich an dich.“



Das

 wiederum ist ein unzumutbares

Kompliment

.“



„Ich glaube, ich hänge sie mir an die Wand, damit ich sie immer sehen kann.“



„Versteck sie lieber ganz hinten in deiner Sockenschublade.“






Kapitel 1




„Weißt du, was sich noch auf Violet reimt?"



Gelangweilt und kurz davor, diese Gabel vor mir zu greifen und sie direkt ins Auge dieses Kerls zu stechen, blinzle ich. „Nein, was denn?"



„Lederfett."



Heiliger

.



„Es ist echt witzig. Ich habe noch nie einen Namen gehört, auf den sich so viele Begriffe reimen. Kennzeichnungsetikett, Sterbebett, Wasserklosett ..."



„Ja, wirklich, zum Totlachen. Das sind

wunderbare

 Reime."



„Schmierfett!"



Mein Blick fällt auf die Uhr, die über einem alten Hirschgeweih hängt. Erst halb acht. Wir sitzen gerade mal eine halbe Stunde hier und schon jetzt ist die Sympathie zu Torben, der mir gegenübersitzt, enorm. Nicht.



„Ich hab noch einen", sagt Torben und schnippt, als hätte er gerade herausgefunden, wie man Krebs heilt. „Lederfett!"



Ich atme tief durch. „Lederfett sagtest du bereits. Das zählt nicht mehr."



„Mist." Er kraust die Stirn und starrt auf einen Fleck, um sich zu konzentrieren. „Normalerweise bin ich besser in so etwas."



Und normalerweise verbringe ich meine Freitagabende auch nicht mit grenzdebilen Kerlen, die zu einem Date mit schmutzigen Jeans und zu kleinen Highschool-Jacken auftauchen. Zwar meinte er, er habe keine Zeit gehabt, sich etwas Ordentliches für unser erstes Treffen anzuziehen, denn sein Papagei war auf dem Baum seines Nachbarn geflohen und geschlagene vier Stunden nicht mehr heruntergekommen, doch, dass ich weiß, dass er gar keinen Papagei hat, scheint irrelevant zu sein. Übrigens war dieser nichtexistente Papagei auch die Ausrede dafür, dass er zwanzig Minuten zu spät gekommen ist und ich in der Kälte stehen musste.



„Gib mir noch ein paar Sekunden." Er rauft sich heftig nachdenkend die Haare, die nebenbei kreuz und quer abstehen, denn nicht mal die scheint er zurechtgemacht zu haben. „Violet ... Violet ..."



Jetzt reicht es mir. Wo sind wir hier? In einem Sprachkurs für Legastheniker? Ich werde mir keine weitere halbe Stunde mehr antun, Storys über Footballspiele oder den neuen E-Klasse-Mercedes anzuhören, der ja in Rot total grausam aussieht und nur wahre Pracht ausstrahlt, wenn man ihn in Schwarz oder mattem Weiß kauft. Und noch weniger bin ich hier, um mir anzuhören, wie viele Wörter mit

Fett

, -

kett,

oder -

bett

enden, um einen idiotischen Reim mit meinem Namen zu finden.



Deswegen sage ich: „Weißt du, was sich auf Torben reimt?"



„Was denn?"



„Verstorben."



Er runzelt die Stirn.



„Verdorben", rede ich weiter. „Oder noch besser ...

Ge

storben." Denn das ist er genau in diesem Moment für mich.



„Willst du schon gehen?", fragt Torben verwirrt, als ich beginne, wortlos meine Jacke anzuziehen.



„Wie nett, dass du fragst", sage ich ironisch und knöpfe meinen Mantel zu. „Ich muss leider

 dringend

 nach Hause."



„Weshalb?" Nun stehen seine Haare alle nach oben, nachdem er seine Hände aus ihnen genommen hat. Gewaschen hat er sie wohl auch nicht.



„Oh, weißt du", erkläre ich, als ich aufstehe und meine Handtasche schnappe, „gerade eben habe ich ein seltsames Signal empfangen und ich glaube, meine Fledermaus steckt in Schwierigkeiten, deswegen muss ich dringend zu ihr."



„Deine Fledermaus?", fragt Torben noch verwirrter, als ich meinen Stuhl an den Tisch schiebe.



„Ja, Max, meine Fledermaus. Ich verständige mich mit ihr immer über die hohen Schalle, die für das menschliche Ohr nicht zu hören sind. Er ruft nach mir, deswegen muss ich abhauen."



„Oh, äh." Verdutzt steht Torben auf und ein penetranter Geruch von Schweiß und Männerdeo kommt mir entgegen. „Dann solltest du wirklich dringend zu ihm ... Ich wusste gar nicht, dass so was geht. Beeindruckend."



Ich mache eine abwinkende Handbewegung. „Doch, geht voll, kann aber nicht jeder." Schnell gehe ich einen Schritt zurück, als er mich zur Verabschiedung umarmen will, und drehe mich weg. „Wir sehen uns, Torben."



„Klar, Violet, ich hoffe, mit deiner Fledermaus ist alles gut!", ruft er mir hinterher, ohne Rücksicht auf die anderen Gäste, die in diesem Restaurant sitzen.



Vor Scham erröte ich und schließe schnell die Tür hinter mir, damit ich den vorwurfsvollen Blicken der Kellner aus dem Weg gehen kann. Wo hat er überhaupt diesen Laden her? Am Telefon meinte er, dass dieses Restaurant das absolut

fetteste

 und

krasseste

 Restaurant der Welt sein soll, aber bis auf Hirschgeweihe und Wildschweinköpfe konnte ich an diesem Restaurant

nichts

Fettes oder Krasses entdecken.

 



Mich überkommt sofort eine unangenehme Gänsehaut, als ich aus dem Restaurant flüchte und an die frische Luft gelange. Zwar ist es Mai, jedoch noch immer kühl, wenn die Sonne erst mal weg ist. Hätte ich mir doch lieber weniger Mühe gemacht und eine normale Jeans angezogen. Mein Lieblingskleid mit meinen Lieblingsstrümpfen hat es nicht verdient, so einen Reinfall zu erleben.



Ich ziehe schlecht gelaunt mein altes

Motorola-

Klapphandy aus der Manteltasche und tippe die Zwei ins Ziffernfeld, um meine Mutter anzurufen. Sie hatte sich so gefreut, dass ich endlich ein Date mit einem

waschechten

 Jungen habe, aber sie, genauso wenig wie ich, hatte erwartet, dass dieser waschechte Junge eher einem verschmutzten Waschlappen gleicht und noch dazu mit bescheuerten Reimen wie Violet – Wasserklosett um sich schmeißt.



Ich beginne, in die Richtung zu laufen, aus der wir gekommen sind, verdränge dann den Willen, Torbens Autoreifen zu zerstechen, und halte mir das Handy ans Ohr. So hatte ich mir den Freitagabend nun wirklich nicht vorgestellt. Ich wäre produktiver gewesen, hätte ich den ganzen Abend Filme bei Netflix geschaut und Chips gegessen.



„Bonjour, Madame", grüßt mich meine Mutter trällernd.



„Du brauchst nicht einen auf Französisch zu machen, Mama. Torben ist nicht mehr in der Nähe, also darfst du wieder ganz Englisch sein."



Meine beste Freundin, Charly, die übrigens Auslöser dieses ganzen Schlamassels war, meinte nämlich, dass Torben total auf Französinnen steht, deswegen hat sie ihm sofort erzählt, dass ich französischer Abstammung bin, damit die Chancen größer sind. Jedoch bin ich absolut keine Französin. Deswegen musste meine Mutter bei der Begrüßung von Torben ihre alten Französisch-Schulkenntnisse hervorkramen und mitspielen, damit die bescheuertste Lüge der Welt nicht auffliegt.



„Oh, zum Glück", sagt Mama. „Viel mehr hätte ich sowieso nicht sagen können. Was ist denn los?"



Ich seufze frustriert. „Torben ist los. Mister Ich-bin-der-beste-Reimer-der-Welt-und-nerve-Violet-Sterbebett-damit-den-ganzen-Abend war ganz schön unterhaltsam heute, sodass ich es ganze vierunddreißig Minuten mit ihm ausgehalten habe. Kannst du mich abholten, bitte?"



Jetzt seufzt auch Mama. „Ich wusste, mit ihm stimmt irgendetwas nicht. Er war mir schon suspekt, seitdem er von seiner bellenden Katze erzählte."



Ja, auch meine Mutter war nicht vor seinen seltsamen Geschichten sicher. „Wie auch immer ... Also holst du mich?"



Sie stimmt zu und schon lege ich wieder auf und lasse mein Handy in meiner Manteltasche verschwinden. Charly wird dafür büßen. Das war das erste und das letzte Mal, dass ich mich auf ein Blind Date mit einem ihrer ach so tollen Cousins einlasse. Sie hat von ihm gesprochen, als wäre er Adonis höchstpersönlich, aber ich bin mir sicher, Adonis höchstpersönlich popelt sich nicht schon vor dem ersten Gang in der Nase, um ihn dann schließlich still und heimlich unter dem Tisch verschwinden zu lassen.



Ich setze mich an die Straße auf den Bürgersteig und lege meinen Kopf auf meine Knie. Wie trostlos all das doch ist. Und ich dachte immer, solche widerlichen Kerle und solche abgrundtief scheußlichen Reinfälle gibt es nur in Büchern, doch da habe ich mich wohl getäuscht.



Ein Licht auf der anderen Straßenseite weckt meine Aufmerksamkeit und als ich die immer näher kommende Elektromusik höre, die aus nichts Weiterem außer einem viel zu lauten Bass besteht und dazu noch durcheinandergeratenes, schrilles Gekicher höre, verdrehe ich automatisch die Augen. Ich wende meinen Blick ab. Ich muss nicht mal auf das Kennzeichen gucken, um zu wissen, welche Idioten mit so lauter Musik und offenem Dach umherfahren, weil ihnen die ständige Aufmerksamkeit in der Schule nicht ausreicht.



Mit zu schneller Geschwindigkeit kommt mir das grüne Cabrio entgegen und wie sollte es auch anders sein, wird es langsamer, umso näher es mir kommt.



Ich drehe meinen Kopf genervt weg, als sie vor mir zum Stehen kommen, doch nicht auf die Idee kommen, die Musik etwas leiser zu machen, damit ich ihre dummen Sprüche überhaupt auch nur ansatzweise verstehen kann.



„Da sieh mal einer an!", ertönt eine Stimme, die ich dem Fahrer, Ethan, zuordnen kann. Sein Arm lehnt lässig aus dem Fenster, während hinter ihm drei Mädchen sitzen, die denken, es wäre gesund, fast auf der Rückbank eines Caprios zu sitzen. „Violet Borrymore! Ein Wunder, dass man dich überhaupt freitagabends mal sieht!"



„Man spricht es

Berry

more aus."

Du Vollidiot

, will ich noch hinterherschieben, doch behalte es für mich.



Auf dem Beifahrersitz erkenne ich auch schon den braunen Schopf, der mir noch mehr auf die Nerven geht, obwohl er nicht mal etwas sagt. Er sieht einfach nur geradeaus und sein Kopf wippt synchron zum Bass des Liedes mit.



„Wie auch immer, Loser", macht Ethan und winkt mit seiner Hand ab.



Die Mädchen hinter ihm tuscheln irgendetwas und es juckt mich in den Fingern, sie mit Kieselsteinen zu bewerfen, die genau neben mir liegen.



Ethan gibt Gas. „Viel Spaß beim Alleinesein!" Und schon verschwindet er mit der lauten Musik, den kichernden Mädchen und dem braunen Haarschopf.




„Ja, haha, ich habe fast meine Cola wieder ausgespuckt, weil er so saumäßig lustig war", sage ich sarkastisch, während ich meinen Dutt am Hinterkopf mit einer Haarklammer befestige. „Nicht mal Kevin Hart wäre an ihn herangekommen."



„Ach komm schon." Charly, die sich gerade einen langen Cardigan über die Schulter zieht, verdreht die Augen. „So schlimm ist Torben nun wirklich nicht. Ich finde ihn witzig. Du musst dich nur auf sein Humorniveau begeben."



„Das Humorniveau eines schlechten Stand-up-Comedians, der immer noch veraltete Witze über Josef Fritzl macht", erwidert Benja – eigentlich Benjamin und sprüht etwas Haarspray auf meinen Pony, während er ihn wie ein Profi richtet. „Ich finde es gut, dass Vy sich nicht auf so Idioten einlässt." Er klopft mir stolz auf die Schulter. „Für den warst du sowieso viel zu clever."



Ich betrachte mich im Spiegel. Ausnahmsweise hängt mein Pony mal nicht fransig vor meinen Augen, sondern liegt ordentlich ein wenig nach rechts gerichtet, während zwei lange, dunkelblonde Strähnen mein Gesicht umrahmen. Ich trage eigentlich ständig einen Dutt, aber mit Benjas Hilfe sieht es aus, als wäre ich direkt vom Friseur gekommen, weil Frisuren gestalten eines seiner größten Hobbys ist.



„Manchmal ist es gar nicht so cool, clever zu sein", sagt Charly und zieht sich ihre schwarze Baskenmütze auf, die bei ihr nie fehlen darf. Auch nicht an großen Geburtstagsfeiern. „Kerle stehen nicht immer auf clever, sondern auf naiv und dumm."



„Also ich stehe definitiv nicht auf naiv und dumm", sagt Benja.



„Du bist schwul, das zählt nicht. Ich rede von

richtigen

, maskulinen Kerlen, die Football spielen, aber nicht Profivisagisten werden wollen."



Nachdem ich meine Wimpern noch getuscht habe und mir ausnahmsweise noch ein wenig Rouge gegönnt habe, stehe ich auf und ziehe mir meine dunkelbraunen Boots an, die perfekt zu meinem senfgelben Stoffkleid und den cremefarbenen Kniestrümpfen passen. „Mag ja sein, dass manche Kerle auf naiv und blond stehen, aber da werde ich doch lieber eine einsame Katzenfrau, als noch einen weiteren Abend mit so einem Torben-Verdorben zu verbringen. Außerdem bin ich fast blond." Ich weigere mich strickt dagegen, meine Haare aufzuhellen wie viele andere dunkelblonde Mädchen es machen. Ich mag meinen zu langer Pony-Straßenkäterblonden-Look.



„Du hoffnungsloser Fall", seufzt Charly und betrachtet mich mit ihren braunen, fast schwarzen Augen. Ihre schwarzen Haare hat sie mit einem Zopf unter der Mütze versteckt, sodass man sie nur noch ein bisschen erkennen kann. Oftmals versteckt sie ihre Haare, weil sie findet, der Fokus sollte stets auf ihrem Gesicht liegen. Was jedoch selten Sinn ergibt, denn ihr Klamottengeschmack lenkt jede Aufmerksamkeit auf sich. Sie trägt, wie ich, oftmals Röcke oder Kleider, jedoch in ausgefallener Art und Weise. Heute hat sie sich für einen schwarzen, lockeren Rock mit schwarz, weiß gestreiftem Oberteil entschieden. Sie ähnelt ein wenig einem Pantomimekünstler, doch das weiß sie mit Sicherheit schon, stört sie allerdings nicht.



„Wir müssen los", sagt Benja und sieht auf sein Handy. „Hardy wartet unten auf uns."



Mit Hardy ist sein Freund gemeint, den er schon seit geschlagenen drei Jahren hat. Und das mit achtzehn. Ich beneide ihn um diese feste und tolle Beziehung, denn Hardy und Benja sind wie füreinander geschaffen. Sie sind oftmals nur zu zweit anzutreffen, was nerven kann, jedoch auch total süß ist. Sowieso ist Hardy ein Superfang für Benja. Während Benja der unscheinbare, dürre Junge mit zu langer Nase ist, könnte Hardy Unterwäschemodel sein. Sie unterscheiden sich enorm, sind gleichzeitig aber auch ein- und dieselbe Person.



Wir alle begrüßen auf der Straße vor Benjas Haus Hardy mit einem Kuss auf die Wange und einer Umarmung, dann steigen wir in sein Auto und fahren in Richtung Geburtstagsfeier. Im Gegensatz zu uns ist Hardy eher die coole Sorte Mensch, dessen Eltern Unmengen an Geld haben, und außerdem überall beliebt ist. Nur durch ihn können wir heute Abend auf der Party auftauchen, was jedoch keinen von uns stört. Charly, Benja und ich wissen, dass wir absolut

nicht

 zu der coolen Sorte Mensch gehören, zumindest heute Abend. Wir werden die Außenseiter sein, doch das Raffinierte an der Sache ist, dass wir nicht die einzigen Außenseiter sind, denn auf Clarissas Party sind noch sehr viele andere von unseren Außenseiterfreunden, mit denen wir den Abend verbringen können.



So läuft es oft ab, wenn wir Party machen. Entweder wir gehen nie Party machen und verbringen den Abend mit DVDs gucken oder anderem Kram, der nur Spaß macht, wenn man die richtigen Freunde dazu hat, oder wir schleusen uns mit Hardy auf ein paar Feiern, auf die er ständig eingeladen wird. Bis jetzt hat sich selten jemand beschwert oder uns rausgeschmissen, weswegen wir dieses Spiel wahrscheinlich bis zum Collegeabschluss weiterspielen können.



Hardy hält vor dem riesigen Haus von Clarissa, die ebenfalls zu der coolen Sorte Mensch gehört, dessen Eltern abnorm viel Geld haben, und wir machen uns auf den Weg zur Haustür, durch die man schon die laute Musik hören kann. Ich bin froh, dass ich nicht genug Freunde habe, mit denen ich so eine fette Party überhaupt machen könnte, denn ansonsten würde mir meine Mutter nämlich den Kopf abhacken. Ihr sind die leisen – manchmal nicht ganz so leisen – Filmeabende lieber als die ständigen Alkoholexzesse, die manche Jugendliche hier schieben.



Hardy klingelt, Charly rückt noch mal ihren Hut zurecht und Benja greift nach Hardys Hand, bevor die Tür geöffnet und die Musik noch lauter wird.



Die mit den perfekt blondierten Haaren und den viel zu großen Brüsten für ihre abnorm schlanke Figur öffnet uns die Tür. Florence. Wahrscheinlich wollte Clarissa selbst die Tür öffnen, aber Florence braucht die Aufmerksamkeit der Gäste in der ersten Erscheinungssekunde. „Hardy!", freut sie sich, als sie ihn entdeckt, und will ihn gerade in den Arm nehmen, als sie seine Anhängsel entdeckt. Uns. „Und die restlichen Loser. War ja klar, dass mir kein Abend ohne euch erspart bleibt."



„Wir freuen uns auch, dich zu sehen", sagt Charly und geht gar nicht erst auf ihren fiesen Spruch ein, denn wir sind so was bereits gewöhnt.



Charly stolziert an ihr vorbei ins Haus und Florence verdreht genervt die Augen. Hardy und Benja betreten hinter Charly das Haus und ich folge ihnen, vorbei an Florence, die hinter mir die Haustür schließt. „Heute hast du dir aber mal echt Mühe mit deinen Fusselhaaren gemacht", neckt sie mich und betrachtet mich von oben bis unten, während ich mich nicht mal traue, ihren Körper anzusehen, weil ich sonst das Gefühl bekomme, ich würde sie bespannen, dadurch, dass sie so wenig am Leib trägt.



Doch ich winke nur lässig ab und drehe mich von ihr weg, halte Ausschau nach Charly und Benja, die verschwunden sind. „Jaja. Sag mir lieber, in welche Richtung meine Loserfreunde verschwunden sind."



Missbilligend hebt Florence den Finger und zeigt in Richtung der Küche, worauf ich nicke und mich bei ihr bedanke. Mir ist egal, was sie ständig über mich, meine Haare oder meinen Klamottengeschmack faselt, wirklich. Ich kenne sie schon seit dem Kindergarten und nach den paar Jahren gewöhnt man sich daran und lernt schnell die Schwachpunkte des Gegners. Zum Beispiel weiß ich, dass Florence in der sechsten Klasse mal ihren BH ausgestopft hat, weil ich sie in der Mädchenumkleide erwischte und noch dazu bin ich die Einzige, die das weiß. Florence weiß auch, dass ich es weiß. Und deswegen habe ich immer etwas gegen sie in der Hinterhand, wodurch sie oft die Klappe hält, denn sie will ja ihren guten Ruf in der Schule nicht verlieren und als Sockentitte dastehen.

 



Ich betrete die große Küche und entdecke auch schon Charly, Hardy und Benja tratschend mit Oscar und Carla. Auch zwei, die nicht zu der coolen Art von Mensch gehören, jedoch zu uns und wir sind ja wohl auch irgendwie super cool oder nicht?



Ich stelle mich zu ihnen, nachdem ich mir einen Becher mit Cola geholt habe. „Okay, wer will die Story mit Charlys Cousin noch hören oder hat Charly bereits alles in den letzten zwei Minuten ausgeplaudert?"



Carla und Oscar lachen. Carla ist übrigens von spanischer Abstammung und Oscar dagegen von indischer, gemischt mit einem leichten thailändischen Touch, den er von seinem Großvater hat. Wie seine Familie genau zusammengesetzt ist, weiß ich nicht und ich bin mir sicher, er weiß es selbst nicht so genau.



„Charly hat vorhin in der WhatsApp-Gruppe schon davon erzählt", sagt Oscar und trinkt von seinem Wasser. „Ich wusste ja, dass irgendetwas nicht mit ihm stimmt."



„Stimmt", sagt Carla. „Immerhin behauptet er von sich selbst, mit einem Haus, das nur mit Luftballons angehoben wurde, um die Welt geflogen zu sein."



„Ein wahrer

Oben

-Fan", grunzt Benja.



Wieder verdreht Charly die Augen und verschränkt die Arme. „Hallo? Ich kann ja echt verstehen, dass ihr Torben für einen Idioten haltet, aber er ist immer noch mein Cousin und damit Mitglied meiner Familie. Und meine Familie hat es nicht verdient, dass man sich über sie lustig macht, ihr Hirnis."



Wir alle lachen, weil Charly genau wie wir alle weiß, dass Torben ein Horst ist, es allerdings nicht zugeben will. Gerade als ich etwas darauf sagen will, erweckt jedoch etwas anderes meine Aufmerksamkeit.



Florences schrilles Gekicher ertönt und mein Blick fällt direkt zum Türrahmen der Küche, an der sie lehnt mit den Händen an dem Kragen eines Shirts, dessen Träger mir nur allzu bekannt ist. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich behaupten, dass dieses T-Shirt, das er trägt, schon mindestens drei Jahre alt sein muss. Schon immer mochte er die

Rolling Stones

, weswegen er haufenweise von diesen T-Shirts hat. Zumindest hatte er es damals.



Ich muss einen Kotzreiz unterdrücken, als ich zusehe, wie der Kerl, den ich wahrscheinlich am meisten in meinem Leben verachte, grinsend seinen Arm neben Florence abstützt, während er – so sieht es zumindest aus – versucht, verführerisch zu sein, und mit ihrer blonden Haarsträhne spielt.



Jedes Mal muss ich mir diesen Anblick antun, wenn wir auf Partys sind, denn immer da, wo es eine Party gibt, ist Harry anwesend. Er ist überall, wirklich überall. Es reicht mir schon, dass ich ihn fünf Mal die Woche in der Schule sehen muss, aber nicht mal am Wochenende scheint mir die Ruhe vor ihm gegönnt zu sein. Und jedes Wochenende scheint er ein anderes Opfer für seine widerlichen Anmachsprüche zu haben. Hier mal eine Blondine, dann eine Brünette, am nächsten Freitag ist es dann die mit den roten Haaren, die niemand kannte, doch jeder haben wollte, weil sie so unerreichbar ist. Besser gesagt war. Das Schlimme und Ätzendste ist nämlich, dass all diese Mädchen auch noch darauf reinfallen und wirklich denken, dass er einer der netten Sorte Typ ist, der sie vergöttert wie eine Prinzessin. Aber nein, nicht mit Mister Obercool. Er lässt sie fallen wie jedes andere Mädchen.



Aber nicht denken, dass ich mit dieser Verachtung zu ihm, auf die Welt gekommen bin, nein. Harry, so heißt Mister Ober

kotz

cool, war vor vier Jahren noch mein bester Freund. Tatsache! Das letzte Mal habe ich richtig mit ihm gesprochen, da war er vierzehn und ein noch total anderer, besserer, liebevollerer Mensch. Ich habe ihn als aufmerksame und loyale Person in Erinnerung, aber nicht als arroganten Rüpel, der nicht weiß, wann Schluss ist.



Ich dachte immer, dass seine und meine Freundschaft ewig halten würde. Das dachte ich

wirklich

. Er war seit der Krabbelgruppe mein bester Freund, ging mit mir durch dick und dünn, war für mich da, als mein Vater meine Mutter, Rosy und mich verließ und guckte mit mir sogar bestimmt hundert Mal

Nemo

, weil ich den Film so mochte, obwohl er ihn nicht ausstehen konnte. Es ist so unglaubwürdig, dass dieser Kerl, der heute fast jedes Wochenende betrunken ist, mal der Junge gewesen sein soll, der damals für mich ein Paar Socken strickte, wo

 V+H

 eingestickt war. Natürlich waren sie total schlecht gestrickt, doch er war mein bester Freund und noch dazu mein persönlicher Held.



Aber heute will ich ihm jede Sekunde ans Schienbein treten, wenn ich ihn sehe. Zwar sieht er mich nie an und ich bin mir auch sicher, dass er mir, seitdem unsere Freundschaft von einem Tag auf den anderen ein Ende genommen hat, nicht mehr richtig in die Augen gesehen hat, aber das ist auch nicht nötig. Er ist heute niemand mehr, mit dem ich meine Zeit verbringen will und ich bin für ihn wahrscheinlich genauso ein Loser wie für Florence und den ganzen Rest. Mir jedoch vollkommen egal.



Als Harry nun Florence etwas schelmisch grinsend ins Ohr flüstert, worauf sie erneut kichert, verziehe ich angewidert das Gesicht. Gott, wieso tue ich mir das eigentlich an?



„Glaubt ihr, sie ist noch anwesend?"



„Warte."



Ich schrecke auf, als mich plötzlich jemand in den Arm zwickt.



„Au!", meckere ich und sehe Benja zornig an. „Musst du mich immer kneifen?"



„Du hast wieder gestarrt", sagt Charly und deutet hinter sich, wo Harry mit Florence rumknutscht.



Ich sehe gereizt weg. „Ich habe nicht gestarrt."



„Wie auch immer." Carla schiebt ihren Kopf in die Runde, worauf wir es ihr gleichtun, weil das das Zeichen ist, dass ein Geheimnis offenbart wird. „Ich habe gehört, sie sollen es schon im Schulklo getrieben haben."



„Wer?", fragt Oscar verwirrt.



„Na, Harry und Florence. Das hat mir Michelle heute nach der Schule erzählt. Der ganze Jahrgang spricht darüber."



Ich winke ab und interessiere mich nicht weiterhin für das Thema. „Hach, Gerüchte gibt es viele. Angeblich soll Florence auch schon mit unserem Sportlehrer geschlafen haben, aber das glaubt auch niemand."



Hardy hebt die Brauen. „Aber Florence

hat

 mit dem Sportlehrer geschlafen."



„Oh, wow", lacht Charly. „Was eine überraschende Wendung."



Plötzlich ertönen laute Knalle und ein Junge unseres Jahrgangs steht auf der Küchentheke und haut mit einem Holzlöffel gegen einen Topf. „Aufgepasst! In fünf Minuten wird Flaschendrehen ohne Hemmungen im Wohnzimmer gespielt! Ich wiederhole! In fünf Minuten Flaschendrehen ohne Hemmungen!"



Carla schüttelt den Kopf. „Als wären wir an einem Flughafen."



Benja nimmt wieder Hardys Hand. „Los, wir spielen mit."



„Was?", fragen Charly und ich synchron.



„Vergiss es", blökt Charly als Erstes. „Am Ende muss noch jemand von uns irgendwelche unmenschlichen Aufgaben machen, wie den ekligen Derek küssen oder so!"



„Und noch dazu ist das echt ein bescheuertes Spiel", füge ich hinzu und verschränke die Arme, um meiner Verweigerung einen gewissen Nachdruck zu verleihen. „Das spielen nur die, die einfach jemanden zum Rummachen brauchen, aber wir nicht."



„Nun stellt euch mal nicht so an. Ich will wenigstens zugucken, wie sich die anderen blamieren."



Und weil die Schlagwörter „zugucken und blamieren“ gefallen sind, stehen wir auch schon hinter dem kleinen Kreis an Freiwilligen, die sich dazu bereit erklärt haben, dieses infantile Spiel zu spielen, während der Rest gespannt zuguckt.



In der Runde mit dabei: Florence. Natürlich. Es sitzen sechs weitere Personen im Kreis. Vier Jungs, drei Mädchen mit Florence eingeschlossen. Echt bescheuert, wie sie sich trauen, sich inmitten der ganzen Leute zu setzen und sich anstarren zu lassen, während sie irgendwelche bescheuerten Dinge ausplaudern oder doofe Pflichtaufgaben bewältigen. Als wären wir in einem Zirkus, in dem dressierte Affen Unfug treiben, um die anderen zu bespaßen.



Florence dreht die Flasche und alle sehen gespannt dara