Buch lesen: «Lives Collide»
Celine Ziegler
Lives Collide
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Impressum neobooks
Kapitel 1
Aiden
Ein letztes Mal lasse ich meinen Blick über den Friedhof schweifen, der mir für die nächsten Wochen Albträume bereiten wird, denn der unvergleichbar schmerzliche Charme dieses Platzes, verursacht bei jedem neuen Blick einen heftigen Schmerz in meiner Brust, den ich unmöglich ignorieren kann.
Tammy ist tot und ich kann an der Tatsache nichts ändern. Dieses Gefühl ist unerbittlich und schlimmer, als all die Dinge, die ich in meiner Vergangenheit je gefühlt habe.
Ich kann den Verlust von Tammy nicht mit dem Tod meiner Schwester vergleichen. Meine Schwester war ein Mensch, den ich nie gelernt habe zu lieben, doch Tammy ... ich habe sie geliebt, wie ich eigentlich meine Schwester hätte lieben sollen. Sie war die Sonne, die ich früher nie hatte und jetzt ist ihr Licht erloschen. Doch sie zeigt mir jetzt noch so viele Dinge. Zum Beispiel wie es ist, jemanden so sehr zu vermissen, dass es sich anfühlt, als würde ein Teil von einem selbst fehlen. Ich kann eine Sache sagen, seitdem sie weg ist: Ich werde sie niemals vergessen. Sie hinterlässt ihre Spuren.
Ich denke, das härteste ist nicht ihr Verlust, ist nicht die Tatsache, dass ich Lebewohl sagen musste, sondern zu lernen, ohne sie zu leben. Immer zu versuchen, die Lücke zu füllen, die Leere, die sie in meinem Herzen hinterlässt.
Doch auch, wenn ich weiß, dass es schwer sein wird, weiß ich, dass ich es schaffen werde. Ich habe schon viele Dinge überlebt und ich werde diese Zeit auch überleben. Wenn ich über die Motorhaube in die braunen Augen schaue, die mir den Atem nehmen, bin ich mir sicher, dass ich es packen werde. Denn sie ist jetzt meine Sonne am Horizont, egal ob es regnet oder stürmt. Sie ist trotzdem immer noch da.
Sie war da, als ich tagelang stumm in meinem Sessel verkümmerte, und sie war da, als ich vor lauter Frust meine Bilder zerschlug. Sie ist nicht einfach gegangen, nein, sie war da.
Ich kann mich noch erinnern, dass sie sagte, niemand würde sie verstehen und deshalb hatte sie selten Menschen in ihrem Leben, die sie wirklich mochten. Doch ich wusste von der ersten Sekunde an, dass sie gemacht wurde, um geliebt zu werden und nicht, um verstanden zu werden. Ich war noch nie so verrückt danach, dass jemand meine Seele berührt, wie sie es tut. Und dafür liebe ich sie.
Raven lächelt mir aufmunternd von der andren Seite des Autos zu und öffnet die Tür.
Lächelnd öffne ich mit hängenden Schultern die Tür des Beifahrers, als mir plötzlich ihre gebrochene Stimme auffällt.
"Scar?", sagt Raven und starrt mit erschrockenem Blick in Richtung des Kofferraums.
Verwirrt betrachte ich sie und gehe in die Richtung auf die ihr Blick gerichtet ist.
Ein Mädchen mit kurzen blonden Haaren steht ungefähr zwei Meter von Raven entfernt auf dem Bürgersteig und sieht mit trübseligem Blick zu Raven. Das ist also Scar, Ravens Freundin, von der sie mir erzählt hat.
Mir fallen die geschockten und gleichzeitig traurigen Gesichtsausdrücke der beiden auf. Springen beste Freundinnen sich nicht normalerweise kreischend in die Arme, wenn sie sich lange nicht gesehen haben? Irgendetwas stimmt hier gewaltig nicht.
Ich sehe zwischen Scar und Raven hin und her, versuche die Situation ein bisschen mehr zu verstehen.
"Wieso bist - Wieso bist du hier?", fragt Raven und ich sehe sie schlucken.
Scar atmet hörbar aus und lässt die Schultern sinken, sieht auf den Boden. "Um mit dir zu reden."
"Zu reden?", sagt Raven. Ihre Stimme ist unsicher und das macht mich nervös.
Was ist denn hier los?
Nickend sieht das blonde Mädchen wieder zu ihr. "Ja, u-um mich zu entschuldigen ..."
Raven sieht auf den Boden und kaut auf der Innenseite ihrer Wange. Sie scheint nachzudenken, gleichzeitig ist ihr Ausdruck schmerzlich, dann nickt sie und sieht auf. "Okay. Okay, wir können ... reden."
Raven
Erschrocken, entsetzt und gleichzeitig verwirrt, sehe ich in die traurigen Augen von Scar, die wie ein Häufchen Elend vor mir steht, die Finger nervös ineinander gefaltet. Sie will reden? Sie will sich entschuldigen ...? Ich weiß nicht wohin mit meinen Gedanken. Sollte ich nicht sauer auf sie sein, weil sie mich so herzlos rausgeschmissen hat, weil Danny so ein Arsch ist? Eigentlich hätte ich doch ein Recht darauf, ein wenig skeptisch ihr gegenüber zu sein. Sie hat mir gezeigt, dass ihr so ein Idiot mehr wert ist, als eine jahrelange Freundschaft. Doch ich bin trotzdem viel zu verwirrt. Ihr Gesicht sieht so niedergeschlagen und traurig aus, dass all die Dinge, die sie zu mir sagte, sofort nebensächlich werden, denn sie ist immer noch meine beste Freundin.
Ich wende mich an Aiden, der total unbeholfen neben dem Auto steht. "Baby, das ist ... Scar. Meine alte Freundin aus Aldbury."
Er sieht zu mir. Ihm scheint mein bedrückter Ausdruck nicht entgangen zu sein. "Ja, du hast ja schon ein wenig über sie erzählt", sagt er und geht typisch aidenlike auf Scar zu, um ihr die Hand zu schütteln. "Ich bin Aiden."
Sie reagiert erst überfordert, streckt ihm aber dann ihre Hand entgegen. "Hallo."
Ich atme tief ein und aus und versuche zu lächeln, was mir, denke ich, aber kläglich misslingt. "Bist du mit dem Auto da?", frage ich Scar.
Sie lässt ihren Blick von Aiden ab und schüttelt mit dem Kopf. "Nein, ich bin mit dem Zug gekommen. Deine Mitbewohnerin sagte, dass du am Friedhof bist..."
"Okay", seufze ich. Ich habe einen tierischen Kopfschmerz. "Du kannst mit uns fahren und dann können wir zu uns, ähm, zu Aiden." Fragend sehe ich zu ihm.
Er nickt zustimmend und lächelt.
Ich wusste, dass er mich jetzt nicht im Stich lassen würde, egal, wie traurig er ist. Aber natürlich werde ich ihn mit der ganzen Sache nicht belasten. Er soll sich einfach ins Bett legen und sich ausruhen.
"Das würde ich gerne", sagt Scar und ein kleines Lächeln zeichnet sich auf ihren Lippen ab.
Wir steigen ins Auto ein und ich fahre los. Scar sitzt auf dem Platz hinter mir und Aiden auf dem Beifahrersitz.
Musste sie unbedingt an dem Tag kommen, an dem wir Tammy begraben? Gerade habe ich so viele Dinge um die Ohren, mit denen ich erst klarkommen muss und dass sie gerade jetzt auftaucht, macht nichts besser. Ich meine, sie fehlt mir, Ja ... Doch momentan will ich mich nicht darauf konzentrieren müssen. Ich will mich auf Aiden konzentrieren und darauf ihn endlich wieder glücklich zu sehen.
"Also Scar", sagt Aiden, nach langem Schweigen. "Wie lange hast du denn vor zu bleiben?"
Ich mochte das Schweigen eigentlich, aber natürlich muss Aiden freundlich sein. Schade, dass er nicht weiß, wie es zwischen ihr und mir steht.
"Ich will heute Abend wieder fahren", antwortet sie.
Mir fällt jetzt erst auf, dass diese letzten Wochen die längste Zeit war, in denen ich sie nicht gesehen habe. Sie hat mir unglaublich gefehlt.
"Tatsächlich? Dann bist du ja die ganze Nacht unterwegs."
"So ist das nun mal wenn man aus Aldbury kommt", mische ich mich ein, weil ich das Gefühl habe, Aiden bietet ihr jeden Moment an, bei uns zu übernachten. Das will ich auf keinen Fall.
Er sieht mich argwöhnisch an, sagt dann aber: "Du kannst, wenn du möchtest, heute Nacht bei uns schlafen. Die Couch ist frei und du kannst morgen in Ruhe nach Hause fahren."
Natürlich musste er das sagen. Man merkt ihm kein Stück an, dass er gerade auf der Beerdigung eines kleinen Mädchens war, was ist nur los mit ihm? Vor allem, wieso merkt er nicht, dass ich das nicht möchte?
"Danke, das wäre sehr nett", höre ich Scar hinter mir sagen. "Ich werde das heute Abend entscheiden."
"Kein Problem", sagt Aiden. Er sieht zu mir und scheint zu erkennen, dass ich angespannt bin, denn seine Brauen schieben sich zusammen.
Ich sehe starr geradeaus und mein Griff um das Lenkrad ist fester als er eigentlich sein sollte.
Er legt seine Hand auf meinen Schenkel und streicht mir leicht beruhigend darüber. Oh Aiden, wenn du nur wüsstest ...
Ich fahre auf den Parkplatz vor Aidens Apartment und wir steigen aus. Schweigend fahren wir mit dem Fahrstuhl in den siebten Stock und betreten seine Wohnung.
Für Scar muss es eine komplett beschissene Situation sein, einfach nach einer Beerdigung bei uns herein zu platzen. Wir tragen sogar noch unsere schwarzen Klamotten. Sie muss sich sehr schlecht fühlen.
"Ich gehe nach oben", sagt Aiden, als er sich seine glänzenden Männerschuhe auszieht. "Dann könnt ihr hier unten ... was auch immer machen." Er grinst.
"Okay", sage ich leise und lächele ihm zu. Ich habe ihn eigentlich gar nicht verdient, er ist so lieb. Am liebsten würde ich ihm einfach in die Arme springen und mit ihm Liebe machen, nach all diesen schrecklichen Tagen und Stunden.
Er küsst mich auf die Stirn, als würde er wissen, dass ich es gerade brauche und geht dann die Treppen hoch.
Ich sehe ihm schmachtend hinterher, drehe mich dann zu Scar um, die immer noch unbeholfen im Flur steht. "Lass uns in die Küche gehen."
Sie folgt mir in die Küche und mir kommen sofort Erinnerungen hoch, wie ich hier mit Aiden und meiner Mutter saß. Sie erzählte mir damals Schreckliche Dinge ... Bitte lass es diesmal anders sein.
Ich zeige auf einen Stuhl, der an dem Küchentisch steht und sie setzt sich dorthin.
"Willst du was trinken?", frage ich sie, als ich gerade den Kühlschrank öffne und eine Wasserflasche raushole.
"Ja, bitte."
Ich besorge noch zwei Gläser und fülle sie mit Wasser. Sie soll mir einfach sagen, dass sie mit Danny Schluss gemacht hat und er ihr die Wahrheit gesagt hat.
Freundlich stelle ich ihr das Glas hin und setze mich ihr gegenüber. Mein Kleid zeigt meine Stimmung, schwarz.
"Ravely, ich, ähm...", fängt Scar an zu reden und sieht auf die hölzerne Tischplatte, die uns trennt. "Es tut mir einfach leid."
Ich trinke einen Schluck von meinem Wasser und sehe ebenfalls nur auf die Tischplatte. Ich will ihr nicht ins Gesicht schauen, sonst würde ich sofort wieder weinen. "Hast du dich von ihm getrennt?", frage ich und ignoriere ihre Entschuldigung. Das ist mir momentan wichtiger. Ich will nicht, dass sie mit jemandem zusammen ist, der sie betrügt und belügt.
Scar schweigt.
Ich sehe zu ihr auf. "Hast du?"
Langsam schüttelt sie mit dem Kopf. "Nein, wir sind noch zusammen." Ich erkenne in ihrem Blick, dass sie ganz genau weiß, dass das alles nur schlimmer macht.
"Was tut dir dann leid?", frage ich unfreundlicher, als ich es vorhatte. Doch ich kann meine Enttäuschung einfach nicht verbergen.
"Ich vermisse dich."
"Also glaubst du immer noch, dass ich mich an Danny rangemacht habe? Und du bist nur hier weil du mich vermisst?"
"Nein", sagt Scar schnell und stemmt ihren Kopf in ihre Hände. "Nein, so ist es nicht."
"Wie ist es dann? Wofür entschuldigst du dich dann?"
"Danny behauptet immer noch, dass du ihn küssen wolltest, aber ich weiß, dass du es nie tun würdest. Ich hatte genug Zeit um darüber nachzudenken ... Und deswegen will ich mich entschuldigen. Dafür, dass ich dich damals einfach rausgeschmissen habe und so mit dir umgegangen bin. Und das alles noch während dem Drama mit deiner Mutter."
Ich runzle die Stirn. "Woher weißt du das mit meiner Mutter?"
"Ich war erst bei deinem Vater, hab gefragt, wann du das nächste Mal wieder kommst, doch er meinte nur, dass er es nicht weiß, weil ihr Probleme habt, wegen deiner Mutter."
"Okay." Nach einer kurzen Pause sage ich: "Ich verstehe nicht, wie du mir damals einfach nicht glauben konntest ... Wir waren jahrelang beste Freundinnen. Ich würde dir so was nie antun. Du kannst dir nicht vorstellen, durch welche Hölle ich gegangen bin."
Scar sieht schuldbewusst auf ihre Finger in ihrem Schoß. "Ich weiß. Es tut mir leid." Als ich zu ihr sehe, entdecke ich eine kleine Träne, die ihre Wange herabläuft.
"Wieso bist du noch mit ihm zusammen? Er ist ein kompletter Arsch", meine ich und tue so, als würde ich ihre Träne nicht sehen. Doch eigentlich schmerzt es mich, sie so zu sehen.
"Ich liebe ihn", haucht sie.
"Er hat dich abgefüllt." Ich denke an die Situation, als ich sie die Treppen hochgezerrt habe und er einfach nur am Treppenende stand und nichts getan hat. Hoffentlich kann sie sich daran erinnern. Ich beobachte sie, wie ihr Kopf rot wird und weitere Tränen fließen. "Als ich versucht habe, dich heil die Treppen hochzubringen, hat er nur zugeschaut und mich beleidigt."
Scar scheint die ganze Zeit die Luft angehalten zu haben, dann schreit sie auf einmal: "Ich liebe ihn!" Sie weint laut auf und vergräbt ihren Kopf in ihren Armen, die auf dem Tisch liegen.
Ich schrecke kurz auf, dann schlucke ich den Kloß in meinem Hals runter.
So kenne ich sie nicht. Nein, das ist nicht die Scar, die ich einmal kannte. Die Scar, die ich kannte, würde mich nie anbrüllen, weil wir uns über einen Typen nicht einig sind.
"Ich wünschte, ich könnte dir das glauben", sage ich ruhig und sehe ihren Schultern beim ständigen Zucken zu, weil sie in ihre Ärmel schluchzt. "Du weißt, dass er schlecht für dich ist. Du weißt das genauso gut wie ich."
Sie sieht auf und ihr Blick ist böse. "Du kennst ihn nicht", zischt sie. "Er ist der erste Mann, der mich liebt, wie ich bin! Er ist nicht so ein Arschloch, wie all die anderen, die ich davor hatte!" Sie beginnt zu schreien.
Jetzt werde ich auch böse. Ich lasse mich nicht von ihr so anschreien, nicht nochmal. "Schrei mich nicht an", gifte ich sie an und mein Griff um das Glas ist so fest, dass ich denke, es zerspringt jeden Moment. "Ich will nur, dass du nicht wieder so verarscht und ausgenutzt wirst, wie von allen anderen, verdammt."
"Woher willst du denn wissen, wer mich verarscht und ausnutzt?", schreit sie schon fast aufgebracht.
Aiden hört sie definitiv oben.
"Weil du die Menschen kennst?", schreit sie. "Weil du schon so viele Erfahrungen mit Männern und Liebe gemacht hast? Du hast doch gar keine Ahnung von irgendwas!"
"Hör auf", warne ich sie und schließe wütend meine Augen. "Ich will dein Bestes, mehr nicht."
Sie lacht verbittert auf. "Mein Bestes? Du weißt doch gar nicht, was das überhaupt sein soll! Soll ich am besten den ganzen Tag in meinem Zimmer verbringen und lesen, so wie du? Wohl kaum!"
Vor lauter Wut fließt mir sogar eine Träne über meine Wange. Ihre Worte schmerzen mich mehr, als sie denkt, auch wenn sie das jetzt wahrscheinlich nur sagt, weil sie sauer ist.
"Also sag' mir nicht, was mein Bestes ist, wenn du es selbst nicht weißt, klar? Lern’ lieber erst mal, wie es ist verliebt zu sein, dann hast du vielleicht das Recht mir zu sagen, mit wem ich zusammen sein darf und mit wem nicht!"
Jetzt reicht es mir. Völlig aufgebracht stehe ich auf und schmeiße fast den Stuhl hinter mir um. "Sei sofort still!", schreie ich, das Glas fällt um und der Tisch ist unter Wasser, doch das ist mir egal.
Erschrocken sieht Scar zu mir auf.
"Was glaubst du, wer du bist, dass du so mit mir umgehen kannst? Falls du es noch nicht vergessen hast: ICH BIN DEINE BESTE FREUNDIN, DIE die dich nie verlassen hat, während dich alle als Schlampe betitelt haben, weil du ständig rumvögelst! Ja genau, richtig, ich war das! Wie kannst du es wagen, mich zu beleidigen, während ich versuche, dir den richtigen Weg zu zeigen?" Aufgebracht fahre ich mir durch die Haare und gehe vom Tisch weg, zum Fenster, halte mich am Fensterbrett fest. "Ich weiß sehr wohl, wie es ist zu lieben, Scarlett! Dieser Typ da", ich zeige nach oben zu Aiden, "den liebe ich! Und weißt du, was das Beste daran ist? Er liebt mich auch! Er betrügt mich nicht, mit irgendwelchen Weibern und belügt mich nicht von vorne bis hinten! Oh Gott, wie kannst du es wagen, hierher zu kommen und mir solche Dinge an den Kopf werfen? Ich habe die Hölle in den letzten Wochen durchgemacht und du bist mir nicht mal die Freundin, die ich momentan am meisten brauche! Was ist nur los mit dir?" Ich merke, wie mir eine Träne nach der anderen übers Kinn läuft, doch momentan ist mir das egal.
Blitzartig ist Stille in der Wohnung. Scar sagt kein Wort mehr, ihr fließen nur noch einzelne Tränen die Wange herab.
Aiden
Seufzend lasse ich die Tür hinter mir ins Schloss fallen.
Ich bin mir noch nicht sicher, wie ich über das Szenario, das gleich unten in der Küche abläuft, denken soll. Eigentlich sollte sich Raven doch freuen, wenn ihre beste Freundin, die sie schon seit einem Monat nicht mehr gesehen hat, zu Besuch kommt oder nicht? Immerhin hat sie schon oft über sie geredet und ihre Freundschaft scheint echt wichtig für sie zu sein. Doch wieso war sie dann so drauf, als Scarlett plötzlich da stand? Sie wirkte eher geschockt, als überglücklich. Als würde sie es besser finden, wenn sie momentan nicht hier wäre.
Mit Kopfschmerzen gehe ich auf den Sessel vor meinem Fenster zu und knöpfe mein schwarzes Hemd auf. Ich bin kurz davor, mich wieder darauf zu setzen, doch ich fasse einen Entschluss. Es ist jetzt genug mit dem ganzen Schweigen. Ich habe die letzten zehn Tage hier verbracht, einen elften brauche ich nicht. Tammy würde auch nicht wollen, dass ich nichts mehr mit mir anzufangen weiß, ich weiß das...
Entschlossen stelle ich mich neben den Sessel und sehe aus dem Fenster heraus, während ich mir das Hemd ausziehe. Es wird Zeit, dass ich mein Leben wieder im Stehen lebe und nicht im Sitzen. Für Tammy. Für Raven... Oh, Raven, du arme Raven. Wie sie in den letzten Tagen gelitten hat, weil ich ein Haufen Elend war. Ständig versuchte sie mich aufzumuntern oder mich abzulenken, doch es gelang ihr nicht. Die ganzen Tage wollte ich nichts anderes, als mit ihr leben und Zeit verbringen, doch es ging einfach nicht. Der Schmerz saß viel zu tief und das tut er noch immer. Doch diesmal bin ich wieder entschlossener. Diesmal bin ich nicht mehr alleine mit der Tatsache, dass jemand gegangen ist. Diesmal habe ich sie und das gibt mir Stärke.
Ich ziehe meine Hose aus und tausche sie gegen eine bequeme graue Jogginghose. Als ich mir gerade ein T-Shirt überziehen will, höre ich etwas aus der Küche. Hört sich an wie Schreie.
Mit gerunzelter Stirn öffne ich leicht meine Zimmertür, um besser zuhören zu können. Und tatsächlich. Scar kreischt wild umher, und dann steigt auch Raven mit ein. Sie klingt extrem wütend.
Als es wieder einigermaßen still ist, gehe ich die Treppen runter und stelle mich in den Türrahmen, unsicher, was gleich auf mich zukommt.
Raven steht am Fenster, eine Hand am Kopf, mit der andren stützt sie sich ab. Ihr Gesicht ist rot und ihre Wangen nass.
Scar sitzt am Küchentisch, sie weint ebenfalls, nur ist ihr Gesichtsausdruck nicht so wütend, wie der von Raven. Sie sieht traurig und bedrückt aus.
"Aiden", keucht Raven, als sie mich erblickt. Sie kommt schnell auf mich zu und schlingt ihre dünnen Arme um meine Taille, vergräbt ihr verweintes Gesicht in meiner Brust.
Ich streiche ihr liebevoll über den Kopf und sehe zu Scar. Was, verdammt, ist hier passiert?
Ich kann gerade nicht einschätzen, wieso die beiden weinen. Scar könnte Raven eine schlechte Nachricht überbracht haben oder sie haben sich gestritten. Ich tippe dennoch eher auf das zweite.
"I-Ich sollte gehen", sagt Scar mit gebrochener Stimme, als sie Raven beobachtet, die bitterlich in mein T-Shirt schluchzt. Ihr Blick sieht extrem schuldbewusst aus.
"Vielleicht solltest du das", sage ich mit einem bitteren Unterton.
Sie nickt betroffen, geht zur Haustür und als sie den Türgriff in der Hand hat, dreht sie sich nochmal zu uns um und sagt: "Es tut mir so leid, Ravely." Dann verschwindet sie.
Komplett verwirrt streiche ich Raven immer noch über ihr Haar und presse sie fest an meine Brust. Ich hasse es, wenn sie weint.
Nach Momenten der Stille sage ich leise: "Wirst du mir sagen, was hier los ist?"
Sie schnieft und drückt sich ein Stück von mir weg, nickt dann.
"Wie ich sehe, hat es nicht mal das Glas überlebt", sage ich, als ich das kaputte Glas auf dem Boden entdecke, um die Stimmung ein wenig aufzuheitern.
Raven lässt mich jetzt komplett los und sieht hinter sich, während sie sich die Tränen von der Wange wischt. Als sie das kaputte Glas sieht, verzieht sich ihr Gesicht wieder und sie schluchzt wieder laut los.
"Oh Gott, Baby", sage ich und drücke sie wieder an mich. "Das ist doch nicht schlimm, ich habe tausend Gläser."
"Nein, hast du - hast du nicht", schnieft sie in mein Shirt und ihre Stimme klingt gepresst, weil sie gegen meine Brust redet.
Ich muss schmunzeln. "Doch, hab ich."
"Ich werde dir ein neues kaufen."
"Ich sagte doch gerade, dass ich tausende davon habe, Baby. Ich brauche kein - Obwohl. Doch, du solltest mir ein neues kaufen, aber bitte eins mit diesen coolen Blitzen drauf, das ich dir vor einer Weile im Supermarkt gezeigt habe."
Ich spüre sie an meiner Brust leicht lachen. "Versprochen."
Sachte wiege ich sie leicht, während Umarmung, hin und her, frage dann: "Willst du jetzt darüber reden?"
Sie nickt und ich lasse sie los. Ihre Augen sind noch immer rot und ihre Haare durcheinander. "Couch", sagt sie und ihre Stimme klingt heiser.
"Couch", wiederhole ich und folge ihr zum Sofa.
Sie lässt sich darauf fallen und ich setze mich neben sie, damit sie ihren Kopf auf meinen Schoß legen kann.
Diese Couch scheint etwas Offenbarendes zu haben, denn hier kommen wohl die meisten Wahrheiten ans Licht.
"Ich sollte dir davon nicht erzählen", seufzt Raven und legt ihren Unterarm über ihre Augen.
Verwirrt runzle ich die Stirn. "Wieso solltest du mir nicht davon erzählen?"
"Weil du schon genug... Probleme hast. Ich will dich nicht noch mehr belasten mit irgendeinem Kleinkram von mir."
Ich nehme ihren Arm von ihrem Gesicht. "Baby, erzähl es mir, bitte."
Zwar trauere ich noch immer und mir geht es nach wie vor scheußlich, doch was wäre ich für ein schlechter Freund, wenn ich Raven jetzt nicht zuhören würde. Und ich will mindestens genau so viel, dass sie lachen kann, wie sie will, dass ich wieder lachen kann.
Sie ist erst unsicher, nickt aber dann. "Ich hab dir doch die Sache mit Danny erzählt, als ich vor einem Monat in Aldbury war... Na ja und wie du wahrscheinlich noch weißt, war ich an dem Samstagabend sehr erschlagen, als ich nach Hause kam und wir am Strand waren."
Ich sehe sie an, gebe ihr zu verstehen, dass ich es noch weiß. Wahrscheinlich werde ich nie vergessen, wie sie wie ein Bündel Elend auf mich zu gerannt kam.
"Auf jeden Fall... An dem Tag bin ich zu Scar gefahren, um ihr mein Geburtstagsgeschenk zu überreichen. Um es kurz zu fassen: Ich bin hingefahren, Danny und irgend so eine Amber haben ihr erzählt, dass ich mich an Danny rangemacht hätte und ihn küssen wollte. Daraufhin hat Scar mir gesagt, dass sie mich nicht mehr sehen will und hat mich rausgeschmissen. Ende des Dramas."
Baff blicke ich zu ihr hinab. "Wieso hast du mir das nicht erzählt?"
Sie zuckt mit den Schultern. "Ich wollte einfach nicht darüber reden."
"Okay." Ich streiche ihr durch das lange Haar, das über meine Beine liegt. "Und was ist eben in der Küche passiert? Ich hab euch nur heftig schreien gehört."
Sie seufzt. "Sie meinte erst, dass sie sich entschuldigen will, ist aber immer noch mit Danny zusammen. Das bedeutet, dass sie immer noch nicht die Wahrheit weiß und daraufhin habe ich ihr gesagt, dass ich finde, dass er ein Arsch ist - was er auch ist - und sie fing an mich zu beschimpfen. Na ja, und das hat mich halt irgendwie wütend gemacht."
"Wütend? Du hast dich angehört wie eine Furie", witzle ich, vergesse aber nicht den Ernst ihrer Aussage.
"Sie hatte es verdient... Wenn du nur gehört hättest, was sie gesagt hat. Ich erkenne sie gar nicht mehr wieder."
Nachdenklich reibe ich mir übers Kinn. "Vielleicht ist es ja tatsächlich dieser Danny. Er hat sie wahrscheinlich so mit Lügen gefüttert, dass sie gar nicht mehr weiß, was richtig und was falsch ist."
"Das habe ich auch gesagt, aber sie hat mich nur angebrüllt. Aber lass uns bitte über was anderes reden, ja? Meine Kopfschmerzen sind höllisch und ich bin total erschöpft. Ich will endlich aus diesem Kleid raus." Sie hebt ihren Kopf und ich stehe auf.
"Zieh du dich um, ich suche dir solange eine Kopfschmerztablette", sage ich und gehe in die Küche. Ich spüre klar und deutlich ihren lächelnden Blick in meinem Rücken.
"Ich liebe dich", höre ich sie sagen, als ich in der Küche stehe.
Mein Grinsen spricht Bände als ich die Schublade zu meiner Medizin aufziehe. "Ich liebe dich."
Raven
Erschöpft lasse ich mich in das weiche Kissen fallen, das so wunderbar nach Jasmin, Moschus und Aiden riecht und vergrabe mein Gesicht darin. Mein Blick fällt auf Aiden, der, nur mit Jogginghose bekleidet, den Fernseher einschaltet. Ich beobachte das Spiel seiner Muskeln auf dem Rücken, während er nach der Fernbedienung greift und wundere mich mal wieder aufs Neue, wie ich so einen heißen Freund bekommen konnte.
"Normalerweise würde ich jetzt einen sarkastischen Spruch raushauen, darüber, dass du mich anstarrst, aber bei dir stört es mich nicht", sagt er, als er auf das große Bett zugeht.
"Ich habe nicht gestarrt", sage ich und spüre die Röte in meinem Kopf.
Natürlich habe ich gestarrt.
Seine Mundwinkel zucken und er zieht sich die Hose aus, krabbelt zu mir unter die Decke. "Was auch immer du sagst, Baby." Er schaltet an einem Lichtschalter, der über uns ist, das Licht aus und das Zimmer wird nur noch von den Farben des Fernsehers beleuchtet.
Ich rutsche näher zu ihm heran und lege meinen Kopf auf seine warme Brust, verknote unsere Beine, um ihm noch näher sein können.
Ich bin unheimlich froh, dass dieser Tag endlich vorbei ist. Tammys Beerdigung und der Streit mit Scar haben mir den ganzen Nachmittag heftige Kopfschmerzen bereitet. Doch ich bin froh, dass ich anscheinend nicht die einzige bin, die das Gefühl hat, das einiges ein bisschen leichter ist. Jetzt wo Tammy unter der Erde liegt, scheint Aiden wieder langsam zum Alltag zurück zu kehren. Natürlich sehe ich ihn noch oft einfach irgendwo hinstarren und dann weiß ich, wo seine Gedanken sind, doch sein Lächeln ist wieder zurück und das habe ich am meisten vermisst.
"Wie fühlst du dich heute, Aiden?", frage ich ihn leise, während wir beide eine Folge Dr. House schauen.
"Was meinst du?"
Ich lege mein Kinn auf seine Brust, um ihn ansehen zu können. "Ich meine die Sache mit Tammy ... Immerhin war heute ihre Beerdigung."
Bei dem Namen Tammy sehe ich kurz einen kleinen Schmerz in seinen Augen aufleuchten.
Er sieht von mir weg, wieder zum Fernseher. "Es geht mir immer noch beschissen, falls du das meinst", sagt er monoton. "Es ist gerade mal elf Tage her, als sie gestorben ist. Relativ kurze Zeit, um jemanden vergessen zu können oder?"
Vor seiner Kälte schrecke ich ein wenig zurück. Ich fühle mich sofort schlecht ihn gefragt zu haben und lege meinen Kopf wieder schuldbewusst auf seine Brust. "Es tut mir leid, ich wollte nicht -“
"Es tut immer noch weh", unterbricht mich Aiden mit gebrochener Stimme. "Es bringt mich nicht mehr um, doch es tut immer noch weh. Ich denke, dass es jetzt, nach ihrer Beerdigung ein wenig einfacher ist, weil sie... weg ist. Doch sie schwirrt immer noch ständig in meinem Kopf umher."
Als ich ihn leise schniefen höre, sehe ich wieder zu ihm auf und beobachte, wie er sich schnell eine kleine Träne aus dem Augenwinkel wischt.
Oh du armer, kleiner Aiden...
"Es tut mir leid", wiederhole ich meine Worte und sehe ihn traurig an. "Ich wollte nicht, dass du weinst."
"Schon okay." Ein kleines Lächeln bildet sich wieder auf seinen Lippen und er sieht mich an. "Ist selbst für mich noch ungewohnt."
Ich lächele ihn an und lege meinen Kopf wieder auf seine Brust. Ich frage mich, wie Aiden es schafft trotz alldem noch zu lächeln. Aber ich denke, so ist Aiden einfach, er ist so stark.
"Was glaubst du, macht Scar gerade?", frage ich mit dem Blick zum Fernseher.
Nicht mal eine Sekunde später klingelt mein Handy auf dem Nachttisch. Ich seufze, als ich danach greife und nachsehe, wer anruft. "Scar."
"Ich schätze, da hast du deine Antwort."
"Hallo", sage ich ins Telefon. Meine Stimme ist entschlossen und fest, bereit zu einem Disput.
"Ravely", sagt Scar unsicher in die Leitung. "Kann ich... Kann ich möglicherweise bei euch übernachten? I-Ich bin auch morgen früh sofort wieder weg, versprochen! Ich brauche nur einen Schlafplatz..."
"Ja", antworte ich, ohne viel nachzudenken. Sie ist meine beste Freundin, ich würde ihr niemals einen Schlafplatz verwehren, und außerdem bot ihr Aiden das heute Mittag sowieso an, also sollte er einverstanden sein. "Weißt du, wie du hierher kommst?"
Sie atmet erleichtert aus. "Ja. Ja, weiß ich. Danke. Ich werde in fünfzehn Minuten da sein."
"Okay."
"Danke..."
"Bis gleich.“ Ich lege auf, lasse das Handy einfach auf dem Nachttisch fallen, verschränke sauer meine Arme. Was bildet sie sich eigentlich ein? Erst taucht sie einfach nach der Beerdigung auf, entschuldigt sich für irgendetwas und beleidigt mich dann. Natürlich weiß sie, dass ich niemals Nein zu ihr sagen kann, das nutzt sie eiskalt aus.
"Wird sie kommen?", fragt Aiden und sieht mich kritisch von der Seite an. Er scheint meine genervte Stimmung zu bemerken. Ist auch nicht wirklich schwer.