Über Umwege zum Lehrberuf

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Catherine Eve Bauer, Larissa Maria Troesch, Dilan Aksoy

ÜBER UMWEGE ZUM LEHRBERUF

Berufliche Entwicklung und Berufsverbleib von Lehrpersonen

auf dem zweiten Bildungsweg

ISBN Print: 978-3-0355-0848-2

ISBN E-Book: 978-3-0355- 0849-9

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhaltsverzeichnis

1Einleitung: Warum dieser Band?

2Das Forschungsfeld im Überblick

2.1 Wer sind Berufswechslerinnen und Berufswechsler in den Lehrberuf?

2.2 Frühere Berufserfahrungen: Für den Lehrberuf relevant?

2.3 Berufswechsler und Quereinsteigende: Lückenbüsser oder vollwertige Lehrkräfte?

3Berufsleute als Lehrpersonen: Die Studie in Kürze

3.1 Vorgehen und Stichprobe

3.2 Theoretisches Rahmenmodell

4Herausforderungen von Berufswechslerinnen und Berufswechslern

4.1 Herausforderungen in den ersten Berufsjahren

4.2 Studienresultate

4.3 Schlussbetrachtung

5Die Bedeutung der Vorberufserfahrungen für den Lehrberuf

5.1 Vorberufserfahrung als Ressource

5.2 Handlungskompetenzen von Lehrpersonen

5.3 Studienresultate

5.4 Schlussbetrachtung

6Kompetenzeinschätzung, Beanspruchung und subjektive Bedeutung konkreter Berufsanforderungen

6.1 Berufsbiografie, Ressourcen und berufliche Beanspruchung

6.2 Anforderungen im Lehrberuf

6.3 Studienresultate

6.4 Schlussbetrachtung

7Berufszufriedenheit und berufliche Belastung

7.1 Bisheriger Wissensstand

7.2 Studienresultate

7.3 Schlussbetrachtung

8Berufsverbleib und Ausstiegsgründe

8.1 Berufsverbleib: Bisheriger Wissensstand

8.2 Wer gilt als Lehrperson? Operationalisierung des Berufsverbleibs in der vorliegenden Studie

8.3 Studienergebnisse

8.4 Schlussbetrachtung

9Zusammenfassung und Schlussfolgerungen für die Praxis

9.1 Kurze Zusammenfassung der Ergebnisse

9.2 Schlussfolgerungen für die Praxis

10Literatur

11Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

1Einleitung: Warum dieser Band?

Sind Lehrpersonen mit Vorberufserfahrung die besseren Lehrpersonen? Dies ist oft eine der ersten Fragen, die von Medienschaffenden, Vertreterinnen und Vertretern aus Bildungspolitik, Schulpraxis oder Lehrerinnenund Lehrerbildung an Forschende gerichtet wird, die sich mit Lehrkräften auf dem zweiten oder späteren Bildungsweg befassen. Quereinsteiger, Berufswechslerinnen, Berufsumsteigende, Lehrerinnen und Lehrer auf dem zweiten Bildungsweg: Die Bezeichnungen für Lehrpersonen mit vorherigen beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen sind vielfältig. Allen gemeinsam ist, dass sie ein besonderer Nimbus umgibt: In der Öffentlichkeit gelten diese spätberufenen Lehrerinnen und Lehrer oft als besonders volksnah und welterfahren, als Leute aus der Praxis, die die «echte» Welt in die Schulstube bringen. Sind Lehrpersonen mit früherer Berufsausbildung also automatisch besser qualifiziert für den Lehrberuf?

Wenn überhaupt, muss die nüchterne wissenschaftliche Antwort lauten: Nein – zumindest nicht generell. Denn aus wissenschaftlicher Sicht ist dies weder die wirklich zentrale noch eine sinnvoll beantwortbare Frage. Zweifelsohne werden aus vielen Berufswechslerinnen und Quereinsteigern hochkompetente, engagierte Lehrpersonen; dasselbe gilt aber auch für Lehrerinnen und Lehrer im Erstberuf. Wie die in diesem Band vorgestellten Studienergebnisse zeigen werden, haben Berufswechslerinnen und Berufswechsler beim Einstieg in den Lehrberuf sowohl Vorals auch Nachteile im Vergleich zu ihren Berufskollegen auf dem ersten Bildungsweg. Unbestritten ist, dass spätberufene Lehrpersonen aus ihrer Vorbildung und ihren bisherigen Arbeitsstellen reiche Wissens- und Erfahrungsschätze mitbringen. Doch lassen sich diese Erfahrungen aus dem früheren beruflichen Umfeld überhaupt auf die neue Berufssituation übertragen? Wirken sie sich in jedem Fall positiv aus? Welche Erwartungen bringen diese Lehrpersonen in ihren neuen Beruf mit, und wie hängen diese mit dem Berufsverbleib zusammen? Dies sind einige der Fragen, die in diesem Band behandelt werden sollen – und die Antworten darauf sind komplexer, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Denn weder führen Erfahrungen automatisch zu Expertise, noch ist Expertise ohne Weiteres auf neue Arbeitskontexte übertragbar, wie in Kapitel 2 ausführlicher dargelegt wird. Zudem können bestehende Wissensbestände, Kompetenzen und Überzeugungen neue Lernprozesse fördern – oder auch hemmen. Berufswechslerinnen und Berufswechsler bringen also eine vielseitige und vielversprechende, aber auch komplexe Ausgangslage mit. Ziel dieses Bandes ist also kein qualitatives «Ranking», sondern vielmehr, wissenschaftlich fundierte Antworten auf die Frage zu geben, welche Voraussetzungen Berufswechslerinnen und Berufswechsler in den Lehrberuf mitbringen, wie sie sich im neuen Beruf etablieren, ob sie im Lehrberuf verbleiben und welche Gründe allenfalls zum erneuten Berufsausstieg führen. Diese Fragen sind wichtig, da erhebliche Ressourcen in die Rekrutierung, Auswahl und Ausbildung von Berufswechslern und Quereinsteigerinnen investiert werden, ohne dass man viel über diese Personen weiss. Dieser Band möchte darum einen Beitrag dazu leisten, diese Wissenslücken zu füllen und die gewonnenen Erkenntnisse für die Praxis nutzbar zu machen. Weitere Informationen zu diesen Fragen sind auch dem Sammelband «Berufswechsel in den Lehrberuf» zu entnehmen, in dem Resultate aus der vorliegenden Studie sowie aus anderen Untersuchungen an Schweizer Hochschulen zusammengefasst und im Rahmen aktueller Entwicklungen im Forschungsfeld diskutiert werden (Bauer, Bieri Buschor & Safi, 2017). Dem Thema Quereinstieg und Berufswechsel in den Lehrberuf widmet sich ausserdem auch eine im Sommer 2016 publizierte Sondernummer der Zeitschrift Lehrerbildung auf dem Prüfstand (Rothland & Pflanzl, 2016). Aus der nachfolgend vorgestellten Studie wurden dort Ergebnisse zu Kompetenzeinschätzungen und Beanspruchung von Lehrpersonen mit Vorberuf veröffentlicht (Bauer, Troesch, Aksoy & Hostettler, 2016).

 

Für wen sind die Ausführungen in diesem Band von Bedeutung? Zum einen sind hier Bildungspolitik und Bildungsverwaltung zu nennen. Seit Jahren gibt es in der Schweiz Bemühungen, erfahrene Berufsleute aus anderen Berufen mittels speziell zugeschnittener Angebote für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung zu gewinnen. Häufig kann dabei ein Teil der regulären Zulassungskriterien oder Ausbildungsteile durch Berufserfahrung ersetzt werden. Diese spezifischen Angebote und die damit verbundenen Anrechnungs- und Eignungsabklärungen sind ressourcenintensiv. Lohnen sich diese Investitionen? Führen sie in die gewünschte Richtung? Der vorliegende Band umfasst keine Evaluation dieser Angebote und kann diese Fragen daher nicht direkt beantworten. Er kann jedoch Hintergrundinformationen liefern, die für die Einschätzung und Weiterentwicklung von Angeboten für Berufswechslerinnen und Quereinsteiger von Bedeutung sind.

Auch für Schulen beziehungsweise deren Leiterinnen und Leiter sind die Ergebnisse und Schlussfolgerungen von Belang. Bei der Diskussion der vorliegenden Studienergebnisse zeichneten viele Schulleitende ein sehr positives Bild von Lehrpersonen mit Vorberufserfahrung, die sie häufig als besonders engagiert und motiviert erleben; gleichzeitig stellten sie sich aber auch die Frage, welche Bedürfnisse Berufswechslerinnen und Quereinsteiger insbesondere in den ersten Berufsjahren haben und ob sie anfällig dafür sein könnten, bei Schwierigkeiten rasch in den angestammten Beruf zurückzukehren. Die präsentierten Informationen können auch hier eine Grundlage bieten.

Schliesslich können die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen auch für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung bedeutsame Rückschlüsse darüber geben, welche Voraussetzungen Studierende und Lehrkräfte mit Vorberufserfahrungen ins Studium und den Beruf mitbringen, welche Herausforderungen sich ihnen stellen und welche Unterstützung sie benötigen. Die Kapitel dieses Bands sind entlang der Fragestellungen des Forschungsprojekts «Berufsleute als Lehrpersonen» aufgebaut, das von 2013 bis 2015 an der Pädagogischen Hochschule Bern durchgeführt wurde und dessen Ergebnisse hier zusammengefasst und im Kontext ihrer praktischen Relevanz diskutiert werden sollen. Wie Abbildung 1 zeigt, haben wir die Fragestellungen in mehrere inhaltliche Facetten gegliedert, denen die einzelnen Kapitel folgen. So kann jedes Kapitel als in sich geschlossen und für sich verständliche Einheit gelesen werden. Zunächst folgen in Kapitel 2 eine Übersicht der relevanten Hintergründe des Themen- und Forschungsfelds sowie in Kapitel 3 die wichtigsten Stichworte zum Forschungsprojekt, bevor in Kapitel 4 bis 8 die Studienergebnisse zu den einzelnen Facetten dargelegt werden. Zum Abschluss bietet Kapitel 9 eine Integration der verschiedenen Erkenntnisse zu einem Gesamtbild sowie konkrete Schlussfolgerungen für die Praxis.


Abbildung 1: Der Band im Überblick

2Das Forschungsfeld im Überblick

Welche Kompetenzen und Ressourcen bringen Berufswechslerinnen und Quereinsteiger in die Ausbildung und den Beruf mit? Welche spezifischen Herausforderungen und Schwierigkeiten stellen sich ihnen? Inwiefern sind diese für die berufliche Entwicklung und den weiteren Karriereverlauf bedeutsam? Diese Fragen sind für Bildungspolitik und Lehrerbildung relevant, da für Berufswechsler und Berufswechslerinnen in der Schweiz wie auch in vielen anderen Ländern mit beträchtlichem Aufwand spezifisch konzipierte Zugangswege und Ausbildungsprogramme geschaffen werden. Implizit geht man davon aus, dass Quereinsteigerinnen und Berufswechsler berufsrelevante Kenntnisse mitbringen, die eine Verkürzung der Ausbildung oder eine Aufweichung der regulären Aufnahmekriterien – in der Schweiz die Matura – rechtfertigen. Diese Praxis ist in verschiedener Hinsicht sinnvoll und notwendig: Um die Durchlässigkeit des Bildungs-systems zu erhöhen, um Lücken im Personalbedarf zu füllen und um zusätzliche für den Lehrberuf attraktive Kandidatinnen und Kandidaten anzuziehen.

Die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Praxis sind jedoch relativ dünn, denn es existieren bisher nur wenige gesicherte, systematische Erkenntnisse zum Wissen, Können und der beruflichen Entwicklung von Lehrpersonen auf dem zweiten oder späteren Bildungsweg. Dementsprechend vage ist die wissenschaftliche Datenlage, aus der Anforderungen an Programme für Quereinsteigende oder Hinweise für die Anrechnung von Vorleistungen abgeleitet werden könnten. Entsprechende Kriterien und Standards zu definieren, ist nicht Aufgabe der Forschung, sondern der Bildungspolitik und der Lehrerbildungsinstitutionen. So wurden von der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) im Jahr 2012 ein neues Anerkennungsreglement für Quereinsteigende in den Lehrberuf geschaffen und die Reglemente aus den neunziger Jahren entsprechend ergänzt (EDK, 1999a; EDK, 1999b; EDK, 2012). Wissenschaftliche Studien können aber dazu beitragen, den Wissensstand über die Merkmale und die professionelle Entwicklung von Berufswechslerinnen und Berufswechslern in den Lehrberuf zu erweitern und zu ergänzen und damit bei solchen Entwicklungsprozessen unterstützend wirken.

Bevor die Resultate der Studie «Berufsleute als Lehrpersonen» dargelegt werden, möchten wir drei sehr grundlegende Fragen ansprechen, die das Forschungsfeld zu Quereinstieg und Berufswechsel in den Lehrberuf stark prägen und deren Klärung hilft, die Ergebnisse breiter einordnen zu können:

–Wer sind Berufswechsler und Berufswechslerinnen oder auch Quereinsteigende? Was verbindet beziehungsweise unterscheidet sie?

–Können frühere Berufserfahrungen auf das Studium und den neuen Beruf übertragen werden? Tragen sie also positiv zum Prozess der Professionalisierung als Lehrperson bei?

–Welche Funktionen werden Berufswechslerinnen und Berufswechslern im Bildungssystem zugedacht: Sind sie primär Lückenbüsser bei Personalmangel – oder können und sollen sie ein fester Bestandteil des Schulsystems sein?

2.1Wer sind Berufswechslerinnen und Berufswechsler in den Lehrberuf?

Angehende Lehrpersonen, die bei Eintritt in die Lehrerinnen- und Lehrerbildung bereits berufliche Qualifikationen und Erfahrungen in einem anderen Berufsfeld erworben haben, sind keine einheitliche Gruppe. Die beruflichen Hintergründe und/oder Studienabschlüsse, das Altersspektrum und die Art der Zugangswege und Ausbildungsprogramme, in die diese angehenden Lehrkräfte eintreten, können ebenso unterschiedlich sein wie ihre längerfristigen Laufbahnziele. Das kann ein 23-jähriger Schneider sein, der gestalterische Fächer auf der Sekundarstufe I unterrichten möchte und daher die Aufnahmeprüfung für einen regulären Studiengang absolviert. Eine Mitdreissigerin mit kaufmännischem Hintergrund, die sich für ein Quereinsteigerprogramm bewirbt mit dem Wunsch, später vielleicht Schulleiterin zu werden. Oder ein 50-jähriger Mathematiker, der im letzten Berufsabschnitt sein Wissen an die jüngere Generation weitergeben möchte.

Diese Heterogenität widerspiegelt sich in den zahlreichen Bezeichnungen für diese Gruppe von angehenden und praktizierenden Lehrkräften. Während sich im englischsprachigen Kontext relativ einheitlich die Begriffe «second career teachers» und «career switchers» etabliert haben, findet sich im deutschen Sprachraum eine verwirrende Vielfalt von Begriffen: Berufwechslerinnen und Berufswechsler, Lehrpersonen mit Vorberuf, Quereinsteigende, Seiteneinsteigende, Berufsumsteigende, nicht-traditionelle Studierende, alternativ zertifizierte Lehrkräfte, Lehrpersonen auf dem zweiten Bildungsweg oder zuweilen auch berufserfahrene Lehrpersonen. All diese Begriffe beziehen sich in der Regel auf Studierende oder Lehrpersonen, die bereits über einen früheren Berufs- oder Studienabschluss verfügen und mehrheitlich Berufserfahrung in diesem Feld aufweisen. Eine Übersicht für Deutschland, Österreich und die Schweiz bieten Puderbach, Stein und Gehrmann (2016) in ihrer Bestandsaufnahme zu sogenannt nicht-grundständigen Wegen in den Lehrberuf. Die Autoren klären die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bezeichnungen und legen die spezifischen Ausbildungsprogramme dar, die für diese unterschiedlichen Zielgruppen angeboten werden.

Bei aller Heterogenität gibt es aber auch verbindende Elemente, die Quereinsteigerinnen und Berufswechsler teilen. Mit einer beruflichen Neuorientierung ist zudem in der Regel ein Wechsel vom Experten- zurück zum Novizenstatus verbunden sowie die Herausforderung, Denkmuster, Arbeitsroutinen, Erwartungen und Kenntnisse aus dem alten Beruf in die neue Berufssituation zu übertragen. Zudem fällt der zweite Berufseinstieg oft in die Phase der Familiengründung, was zu Doppelbelastungen, aber auch zu einem gegenseitigen Transfer von Kompetenzen führen kann, wie Keller-Schneider, Arslan und Hericks (2016) ausführen. Desweiteren haben Lehrkräfte mit Vorberufserfahrung die Entwicklungsaufgabe «Berufseinstieg» im Sinne eines zentralen Rollenübergangs (Oerter & Dreher, 2002) schon mindestens einmal vollzogen und sind damit den Lehrpersonen im Erstberuf einen Schritt voraus, was die Bewältigung berufsunspezifischer Entwicklungsaspekte des Berufseinstiegs angeht. Dazu wird vor allem die berufliche Sozialisation gezählt und damit der Wechsel von der klar strukturierten Ausbildungssituation in eine offenere, weniger strukturierte Arbeitswelt, der Umgang mit noch unbekannten Handlungsfeldern und Rollenerwartungen, die Eingliederung in ein Arbeitsteam sowie die allmähliche Übernahme der Hauptverantwortung für eine berufliche Funktion (Ganser & Hinz, 2007). Schliesslich ist neben dem höheren Alter auch der Aspekt verbindend, die notwendigen finanziellen, personellen und oft auch sozialen Ressourcen für einen Berufswechsel mobilisiert zu haben. Diese Gemeinsamkeiten legen nahe, dass Berufswechslerinnen und Quereinsteiger möglicherweise über besonders hohe Ressourcen verfügen, die ihnen im Lehrberuf zugutekommen könnten. Ob diese Hypothese tatsächlich bestätigt werden kann, ist unter anderem Inhalt dieses Bandes.

Im vorliegenden Band wird von Berufswechslerinnen und Berufswechslern in den Lehrberuf oder von Lehrpersonen mit Vorberuf gesprochen. Dies sind relativ neutrale Bezeichnungen, da sie generell Personen umfassen, die aus einem anderen Beruf in den Lehrberuf wechseln – unabhängig davon, welche Art der Ausbildung sie im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung absolvieren. Zudem treffen sie auf die Stichprobe der präsentierten Studie gut zu: Untersucht wurden Lehrpersonen, die mindestens eine Berufsausbildung absolviert und entsprechende berufliche Erfahrung erworben hatten, anschliessend über eine Aufnahmeprüfung an die Pädagogische Hochschule Bern gelangten und einen regulären Studienabschluss auf der Vorschul-, Primar- oder Sekundarstufe I erwarben (Details zur Stichprobe vgl. Kapitel 3 die Studie in Kürze, S. 20).

2.2Frühere Berufserfahrungen: Für den Lehrberuf relevant?

Zur Entwicklung von Expertise in einem bestimmten Feld ist umfangreiches Fachwissen vonnöten, das gemäss Expertiseforschung nur durch ein grosses Ausmass an Erfahrung erworben werden kann (Gruber & Mandl, 1996). Berufswechslerinnen und Berufswechsler waren bereits einmal Experten in einem anderen Tätigkeitsfeld – oder auf dem Weg dazu –, bevor sie in den Lehrberuf und damit wieder in den Novizenstatus wechselten. Viele Wissens- und Erfahrungsbestände, die sie in ihren früheren Tätigkeiten erworben haben, können potenziell für den Lehrberuf nutzbringend sein: konkretes Fachwissen, Kommunikations- und Verhandlungskompetenzen, Wissen und Erfahrungen im Projektmanagement, in der Handhabung von Computerprogrammen etc. Doch können Lehrpersonen mit Vorberufserfahrung ihre Expertise, das heisst ihr Wissen und Können aus ihrer früheren Tätigkeit tatsächlich auf den neuen Beruf übertragen – sind also ihre Erfahrungen für den Lehrberuf überhaupt relevant? Eine positive Antwort scheint naheliegend, ist aber nicht immer zutreffend, wie die Forschung zeigt.

 

Professionelles Lehrerhandeln basiert auf erwerbbaren Kompetenzen – dazu gehören Fachwissen, fachdidaktisches und pädagogisches Wissen, aber auch berufsbezogene Überzeugungen, Motivation und die Fähigkeit zur Selbstregulation –, die mit den eigenen biografischen Erfahrungen eng verknüpft sind (Baumert & Kunter, 2006; Cramer, 2012; Dick, 1997). Insbesondere die nicht-fachbezogenen Kompetenzen werden nicht nur im Rahmen der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, sondern auch in informellen Kontexten erworben und unter anderem von der individuellen Schul- und Berufsbiografie geprägt (z.B. Cramer, 2012). Studien zu Lehrpersonen auf dem zweiten Bildungsweg legen nahe, dass sich Erfahrungen aus früheren beruflichen Tätigkeiten tatsächlich positiv niederschlagen können: in einer ausgeprägten Fähigkeit zum Perspektivenwechsel und einem hohen Verständnis für Management- und Organisationsstrukturen (Freidus & Krasnow, 1991), effektiveren Arbeitsweisen, was das Zeitmanagement, die Problemlösung und den Umgang mit Herausforderungen angeht (Haggard, Slostad, & Winterton, 2006; Kember, 2008; McDonald, 2007) sowie besonders ausgeprägten interpersonalen und kommunikativen Fähigkeiten im Umgang mit Schülerinnen und Schülern, Eltern, dem Kollegium oder der Schulleitung (Chambers, 2002; Freidus & Krasnow, 1991; Kahn, 2015). Betroffene selbst nehmen ihre grössere Lebenserfahrung, einen starken Praxisbezug, die Fähigkeit mehrere Projekte gleichzeitig zu leiten und eine hohe Arbeitsmoral als Vorteile wahr, die ihnen im Lehrberuf von Nutzen sind (Chambers, 2002). Von Praktikumslehrpersonen und Schulleitungen werden Lehrkräften mit Vorberufserfahrungen im Vergleich zu Lehrkräften im Erstberuf ein fokussierteres Lernen, eine schnellere Integration in die Schulorganisation, eine höhere Offenheit für pädagogische Innovationen sowie höhere Eigenverantwortung zugeschrieben (Tigchelaar, Brouwer & Korthagen, 2008). Zu den spezifischen Kompetenzen von Berufswechslerinnen und Berufswechslern gehören zudem eine höhere intrinsische Berufsmotivation als bei Lehrkräften im Erstberuf (Freidus, 1994; Novak & Knowles, 1992; Resta, Huling, & Rainwater, 2001; Weinmann-Lutz, 2004; Weinmann-Lutz, Ammann, Soom & Pfäffli, 2006) und höhere Selbstwirksamkeitserwartungen (Weinmann-Lutz, 2004; Weinmann-Lutz et al., 2006).

Solche Erfolgsmeldungen können den Eindruck erwecken, dass Praxiserfahrung sich ganz automatisch in Können niederschlage und sich zudem zielstrebig auf neue (Berufs-)Kontexte übertragen lasse. Diese weit verbreitete Annahme hat sich jedoch in der wissenschaftlichen Überprüfung als falsch oder zumindest als zweifelhaft erwiesen (z.B. Neuweg, 2004; Gascoigne & Thornton, 2013). Zwar belegt die Expertiseforschung deutlich den Wert von Erfahrungswissen für die Erreichung beruflicher Leistungsfähigkeit, gleichzeitig zeigt sie aber auch, dass ein Mehr an Berufsjahren – sprich an praktischer Erfahrung – erstaunlich schwach mit einem Mehr an Expertise verbunden ist (Gruber & Mandl, 1996). Erfahrungen führen nicht automatisch zu Expertise, sondern nur dann, wenn sie auf der Basis handlungsrelevanten theoretischen Wissens reflektiert und adaptiert werden können (Hascher, 2005; Neuweg, 2015). Zudem ist Expertise stark domänenspezifisch (Gruber & Mandl, 1996), das heisst es fällt schwer, das damit verbundene Wissen und Können auf andere Arbeitsbereiche zu übertragen. Für Berufswechslerinnen und Berufswechsler in den Lehrberuf heisst das: Ihre beruflichen Vorerfahrungen und Vorkenntnisse – beispielsweise in Zeitmanagement, Problemlösung oder Kommunikation – konstruktiv auf die neuen Berufsaufgaben in Schule und Unterricht übertragen zu können, ist unter bestimmten Bedingungen möglich, aber alles andere als selbstverständlich.

Herausfordernd ist für Lehrpersonen mit Vorberuf auch die Tatsache, dass eingeschliffene Routinen, Überzeugungen und Erwartungen aus einem früheren Beruf die Lernprozesse bei einer Umschulung nicht nur stützen, sondern auch behindern können (Sulimma, 2012). Neue Lerninhalte werden in der Regel in bestehende Wissensstrukturen und Überzeugungssysteme integriert; insbesondere in Situationen mit hoher Beanspruchung neigen Menschen dazu, auf ihre vorhandenen subjektiven Theorien zurückzugreifen (Herzog & von Felten, 2001). Diese sind aber möglicherweise im neuen Berufskontext nicht mehr gültig. Genau dies ist für Berufswechslerinnen und Berufswechslern eine Realität, wie unter anderem die Ergebnisse in Kapitel 4 Herausforderungen (S. 28) zeigen: Aus dem Vorberuf mitgebrachte Erwartungen und Qualitätsmassstäbe stehen nicht selten im Widerspruch zu den neuen Anforderungen. Diese Diskrepanz ist herausfordernd und kann zuweilen auch als belastend empfunden werden.

Zusammenfassend zeigen die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse also, dass frühere Berufserfahrungen für die professionelle Entwicklung im Lehrberuf durchaus gewinnbringend sein können – doch nur dann, wenn es gelingt, sich Überzeugungen, Erwartungen und subjektive Theorien bewusst zu machen, sie zu hinterfragen und bereits erworbenes Wissen und Können in die neuen, berufsrelevanten Wissensstrukturen zu integrieren. Gleichzeitig können gefestigte Vorerfahrungen in der Zweitausbildung und dem Zweitberuf auch zu spezifischen Herausforderungen führen. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen ein Transfer von Wissen und Können auf den neuen Beruf möglich ist und wie dieser Prozess unterstützt werden kann.

2.3Berufswechsler und Quereinsteigende: Lückenbüsser oder vollwertige Lehrkräfte?

Viele Länder, darunter auch die Schweiz, haben mit wiederkehrenden Phasen des Lehrpersonenmangels zu kämpfen (vgl. z.B. Ingersoll, 2001; Laming & Horne, 2013; OECD, 2015). Die Schweizer Bildungspolitik reagierte bereits in den 1960er-Jahren mit der Schaffung von Ausbildungsangeboten – die heute wohl als Quereinsteigermodelle bezeichnet würden –, um die Kapazitäten in den bestehenden Ausbildungsinstitutionen zu erhöhen (Criblez, 2017). Die Lehrerinnen- und Lehrerbildung wurde für neue Personengruppen geöffnet, alternative Ausbildungsmöglichkeiten für Personen mit unterschiedlichen Qualifikationen wurden gebildet, darunter Sonder- und Umschulungskurse für Personen mit Matura, für Akademikerinnen und Akademiker sowie für Berufsleute, das heisst Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung.

Die Ausweitung der Rekrutierung und die Schaffung alternativer Zugangswege und Ausbildungsmöglichkeiten für Personen mit Berufsausbildung entspricht zwar einer langjährigen Praxis, ist aber grundsätzlich mit zwei Problemen behaftet: Zum einen ist sie nur bedingt dazu geeignet, das Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage im Schuldienst zu regeln, wie Criblez anhand der sogenannten «Schweinezyklen» darlegt. Staatliche Steuerungsmassnahmen haben die Tendenz, erst verzögert zu greifen, und trugen in der Vergangenheit nicht selten dazu bei, dass Phasen des Lehrermangels ins Gegenteil kippten. Zum anderen steht, wie Puderbach und Kollegen (2016) pointiert ausführen, die erst kürzlich durchlaufene Tertiarisierung der Lehrerinnen- und Lehrerbildung im eigentlichen Widerspruch zur Senkung der formalen Zugangshürden für Berufswechsler und Quereinsteigende, zumal positive Effekte früherer Berufserfahrungen auf die professionelle Entwicklung von Lehrpersonen bisher nur schwer belegbar seien. Sind Berufswechslerinnen und Berufswechsler als «Lückenbüsser» also wirklich die richtige Wahl?

Hinzu kommt, dass das Phänomen des Lehrkräftemangels sich durch Berufsaustritte beziehungsweise die Berufsmobilität noch verschärft. Zwar ist die Lage diesbezüglich zumindest in der Schweiz nicht ganz so dramatisch wie zuweilen in den Medien berichtet. Wie sowohl der Bericht des Bundesamts für Statistik wie auch der Schweizer Bildungsbericht 2014 klarstellen (BFS, 2014; SKBF, 2014), beträgt der Anteil der Berufsaussteigenden bei den Lehrpersonen in den ersten fünf Berufsjahren entgegen wiederholter Medienberichte nicht 50 Prozent, sondern rund 17 Prozent. Die 50 Prozent beziehen sich auf die allgemeine Berufsmobilität, das heisst sämtliche personellen Verschiebungen wie z.B. Kündigungen mit anschliessendem Schul- oder Kantonswechsel. Berufsmobilität ist nicht mit Berufsausstieg gleichzusetzen, auch wenn eine hohe berufliche Mobilität lokal durchaus zu Lehrpersonenmangel führen kann, wenn etwa die Anstellungsbedingungen in einem Kanton attraktiver sind als in einem anderen. Die relativ starke Berufstreue von Lehrpersonen bei gleichzeitig hoher Berufsmobilität stützt die Einschätzung von Ingersoll (2003), dass weniger die Zahl der beginnenden Lehrkräfte zu erhöhen sei, als dass dafür gesorgt werden müsse, dass die Arbeitsbedingungen und die beruflichen Perspektiven für die ausgebildeten Lehrkräfte attraktiv genug seien, um langjährig im Beruf und auch an einer bestimmten Schule zu verbleiben.

Wie die in diesem Kapitel zusammengefassten Überlegungen zeigen, spricht vieles dafür, dass die Schweiz mit ihren Programmen für Berufswechslerinnen und Berufswechsler auf einem guten Weg ist: Die diversen Angebote haben sich als alternative Zugangswege zum Lehrberuf inzwischen relativ fest etabliert und zielen nicht nur aufs Füllen von Personallücken ab – anders als beispielsweise in Deutschland, wo Programme für Quereinsteigende derzeit mehrheitlich Projektstatus haben und nur in Phasen des Lehrkräftemangels eingesetzt werden, wie Puderbach und Kollegen (2016) erläutern.

Es lässt sich schlussfolgern, dass die Ausbildung von Quereinsteigerinnen und Berufswechslern zwar häufig als Gegenmassnahme in Zeiten des Lehrermangels verstanden wird, dass diese staatlich gesteuerte Lückenfüllerfunktion aber weder strukturell zwingend notwendig und effektiv ist, noch den Kompetenzen der betroffenen Personen als qualifizierte Lehrkräfte gerecht wird. Die Frage ist darum vielmehr, wie Lehrpersonen mit Vorberufserfahrungen dem Bildungssystem über die ihnen oft zugeschriebene Funktion als Lückenbüsser hinaus dienlich sein können, welche Impulse und Ressourcen sie in den Lehrberuf hineinbringen, welche Ausbildungs-, Berufseinführungs- und Weiterbildungsmassnahmen für sie geeignet sind und was dazu beigetragen werden kann, dass auch diese Lehrpersonen langfristig in ihrem neuen Beruf verbleiben. Wie alte und neue Erfahrungen zusammenspielen, was dies für die professionelle Entwicklung von Lehrpersonen ganz allgemein und von Berufswechslerinnen und Berufswechslern im Speziellen bedeutet und inwiefern diese Prozesse Einfluss auf den Berufsverbleib haben, bleiben daher weiterhin wichtige Fragen der Professionalisierungs- und der Verbleibforschung, zu denen die folgenden Kapitel einen Beitrag leisten sollen.

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