Take Me Home

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Aus der Reihe: Hartson's Creek #1
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Take Me Home
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Take me Home

K

Carrie Elks

© Die Originalausgabe wurde 2020 unter dem

Titel TAKE ME HOME von Carrie Elks in Zusammenarbeit mit Bookcase Literary Agency veröffentlicht.

© 2021 Romance Edition Verlagsgesellschaft mbH

8712 Niklasdorf, Austria

Aus dem Amerikanischen von Carina Köberl

Covergestaltung: © Nadine Kapp

Titelabbildung: © forma82, © Konstantin Dem

Redaktion & Korrektorat: Romance Edition

ISBN-Taschenbuch: 978-3-903278-50-9

ISBN-EPUB: 978-3-903278-49-3

www.romance-edition.com

1. Kapitel

Jubel, Pfiffe und Freudengeschrei schallten ihm aus dem Zuschauerraum entgegen. Das Stampfen von Füßen auf klebrigen Fliesen vibrierte im Einklang mit dem Strömen des Blutes in Gray Hartsons Ohren. Die Gitarre von der Schulter hängend und die Hände um das Mikrofon gelegt, stand er einen Moment lang still und erlaubte es sich, all dies in sich aufzunehmen. Es war das pure High. Der Rausch, der niemals anhielt. Aber während er anhielt, würde Gray ihn genießen. Solange es ging.

»Sidney, ihr wart unglaublich. Danke und gute Nacht.« Trotz der In-Ear-Plugs übertönte der Lärm der Menge seine eigene Stimme. Es wirkte nicht, als würde der Applaus in nächster Zeit verklingen. Er hob die Hand und wandte sich zum Gehen, aber die Aufregung des Publikums steigerte sich nur noch und legte sich wie eine Decke um ihn, während er von der Bühne schlenderte.

Im Seitengang holte ihm ein Roadie seine In-Ear-Plugs heraus und ein anderer hob ihm die Gitarre über den Kopf, um sie vorsichtig in einem Ständer abzusetzen. Gray nahm ein Handtuch an, das ihm jemand reichte, und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Dann schnappte er sich eine Wasserflasche und trank das ganze Ding in einem Zug leer.

»Wir werden die Lichter ausschalten müssen, wenn wir die Meute zum Gehen bringen wollen«, bemerkte sein Manager, Marco, auf dem Weg den Gang hinab zur Garderobe mit einem Grinsen. »Drei Zugaben. Drei! Gott sei Dank haben wir sie alle geprobt. Die Leute da draußen sind verrückt nach dir.«

Früher einmal hätten ihn diese Worte dazu gebracht, sich zehn Meter groß zu fühlen. Heute war er einfach nur erschöpft.

Gray stieß die Tür zur Garderobe auf und runzelte die Stirn, als er all die Leute sah, die dort auf ihn warteten. Die Burschen von Fast Rush – der aufstrebenden Band, die die letzten Shows am Ende seiner Welttournee für ihn eröffnet hatte – genehmigten sich schon ihren dritten oder möglicherweise vierten Drink. Sie waren umringt von einer Gruppe Frauen, die mit ihnen gemeinsam über etwas kicherten. Er erkannte die A&R-Typen seiner Plattenfirma und einen ganzen Haufen Groupies, die dabei waren, die Garderobe in einen Partyraum zu verwandeln. Er gab sein Bestes, nicht zu seufzen. Es war nicht ihre Schuld, dass das Tief ihn jetzt schon traf.

»Oh mein Gott! Da ist Gray Hartson!« Eines der Mädchen, das bei Fast Rush stand, hatte ihn bemerkt. Wie aus dem Nichts war die Vorband vergessen und die Frauen kamen geschlossen in seine Richtung.

»Ist die andere Garderobe unbesetzt?«, wollte Gray mit gesenkter Stimme von Marco wissen.

»Jepp.«

»Okay, dann nehme ich die.« Die zweite Garderobe wurde üblicherweise von den örtlichen Musikern benutzt, die beim vorherigen Teil seiner Tournee als Vorband gespielt hatten.

Er wollte sich gerade auf den Weg machen, als eines der Mädchen seinen Arm zu fassen bekam. Sie schob etwas in seine Jackentasche, und er erwischte sich dabei, wie er vom Druck ihrer Finger auf seiner Hüfte wegzuckte.

»Etwas, um dich glücklich zu machen«, flüsterte sie mit funkelndem Blick. »Und meine Nummer. Ruf mich an.«

Marco schloss augenverdrehend die Tür zur ersten Garderobe. »Ich habe den Jungs gesagt, sie sollen niemanden hierherbringen. Tut mir leid, Mann.«

»Ist schon okay. Das ist ihre erste große Tournee.« Gray zuckte die Schultern, während sie den Gang hinunterliefen. »Kannst du sicherstellen, dass irgendwer nüchtern bleibt, um sich um die Jungs zu kümmern? Und dass sie in einem Stück in ihr Hotel zurückkommen?«

Marco nickte. »Natürlich.«

»Falls irgendetwas beschädigt wird, geht das auf meine Kappe.«

Sie hatten die zweite Garderobe erreicht. Bevor Gray die Tür aufdrückte, verabschiedete sich Marco, um sich um die Vorband zu kümmern. Dabei murmelte er irgendetwas über einen Wagen.

Anders als der erste Raum, war dieser beinahe leer. Bis auf Paul, einen von Grays Begleitmusikern, der an einem Glas Orangensaft nippte.

»Du feierst gar nicht mit den anderen?«, fragte Gray den älteren Mann, während er sich eine Flasche Wasser schnappte.

»Nope. Ich mache mich gleich auf den Weg ins Hotel. Mein Bett ruft nach mir.« Krähenfüße erschienen in den Winkeln von Pauls Augen. »Was ist mit dir? Ich habe nicht erwartet, dich hier zu sehen.«

Auf Tourneen verbündete man sich mit den unterschiedlichsten Leuten. Das Einzige, das Gray mit diesem über fünfzigjährigen, ergrauten Australier gemeinsam hatte, war die Tatsache, dass sie beide Gitarre spielten. Und dennoch hatten sie sich in den letzten zwei Wochen blendend verstanden. Hatten leise Gespräche ganz hinten in Bussen oder Fliegern geführt, während der Rest der Gruppe vorne gebrüllt und gelacht hatte.

»Ich bin zu alt zum Feiern.«

Paul gluckste. »Du bist einunddreißig. Gerade mal ein Baby.«

»Sag das meinen Muskeln. Und meinen Knochen.« Gray rotierte seinen Kopf, um die Knoten in seinem Genick zu lösen. »So oder so muss ich morgen einen Flug erwischen. Ich will ihn nicht verpassen.«

»Du fliegst zu deiner Familie, nicht wahr?«

»Jepp.« Gray lehnte sich im Ledersofa zurück und verschränkte die Beine auf dem Kaffeetisch vor sich. »So ist es.«

»Komischer Ort. Hartson’s irgendwas ...« Paul grinste. »Nicht viele Leute, die ich kenne, haben eine ganze Stadt nach sich benannt.«

»Hartson’s Creek. Und sie ist nicht nach mir benannt worden. Wahrscheinlich nach meinem Ur-ur-ur-urgroßvater oder so.« Gray zog die Brauen zusammen, als er über die Kleinstadt in Virginia nachdachte, in der er aufgewachsen war. Die Stadt, in die er nicht mehr zurückgekehrt war, seit er sie mehr als ein Jahrzehnt zuvor verlassen hatte.

»Wie nannten sie dich und deine Brüder noch mal?«, wollte Paul wissen, und ein Grinsen zog an seinen Mundwinkeln. »Die Heartbreak Brothers?« Er hatte mal bei einem von Grays Interviews mitgelauscht und zog ihn seither mit Details aus seiner Vergangenheit auf.

»Erinnere mich nicht daran.« Gray schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, wer den verdammten Spitznamen erfunden hatte, aber er haftete an ihnen wie Superkleber. Er und seine drei Brüder – Logan, Cam und Tanner – hatten jedes Mal die Augen verdreht, wenn sie ihn in ihrer Jugend gehört hatten. Ja, sie waren vier attraktive Teenager gewesen, die in einer Kleinstadt aufgewachsen waren. Der dumme Spitzname allerdings hatte sie immer in den Wahnsinn getrieben. Das war jedoch nichts gegen die Wut ihrer kleinen Schwester Becca. Sie hasste es, wenn ihre Freundinnen ihre Brüder als heiß bezeichneten.

Irgendetwas drückte gegen Grays Oberschenkel. Er runzelte die Stirn und steckte die Hand in seine Tasche, wo er den Gegenstand vorfand, den ihm die Frau vorhin zugeschoben hatte. Als er ihn hervorholte, erkannte er, dass es sich um eine kleine Plastiktüte handelte, in der sich ein weißes Pulver befand. Mit einem blauen Stift hatte die Fremde ihren Namen und ihre Nummer auf die Außenseite geschrieben.

»Ist es das, was ich denke, was es ist?«

»Jepp.« Gray warf das Päckchen in den Abfalleimer und lehnte den Kopf gegen die Wand. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der er nach einem Gig wie ein Irrer gefeiert hatte. Als sein Berühmtheitsgrad angestiegen war, hatte er sich eine Weile wie ein Kind im Süßigkeitenladen benommen und die Früchte seines Ruhms verschlungen, als stünde die nächste Hungersnot kurz bevor.

Nach seinem Aufstieg folgte jedoch bald der Fall. Irgendwann war er in einem fremden Bett zu viel aufgewacht, mit einem pochenden Schmerz hinter der Stirn und so vollgepumpt mit Chemikalien, dass er damit ein eigenes Labor hätte ausstatten können. Der darauffolgende Kater hielt drei Tage lang an, was das Label tausende Dollar an ungenutzter Zeit im Studio und einen verpassten Auftritt bei Jimmy Kimmel kostete. Das Ganze brachte Gray dazu, sich wie ein Stück Scheiße zu fühlen. Und es hatte gereicht, um sich zusammenzureißen. Er war ein Idiot gewesen, kein Süchtiger. Marco hatte für ihn ein Studio in einer abgeschotteten Gegend in Colorado gemietet. Bis er sein zweites Album fertiggestellt hatte, machte sich Gray rar. Das war die Platte, die ihn zum Star gemacht hatte.

Gott, er war müde. Das lag nicht bloß an der Tournee – obwohl die schon auslaugend genug war. Es war alles zusammen. Die Songs für das nächste Album zu schreiben, mit Marco die dafür passende Tournee zu planen und dazu auch noch mit den Anrufen seiner Schwester klarzukommen, die ihm erst kürzlich mitgeteilt hatte, dass ihr Dad mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag.

Es fühlte sich an, als hätte man die ganze Energie aus ihm rausgesaugt. Gray wollte ein paar Monate lang einfach nur schlafen.

»Dein Wagen ist hier«, verkündete Marco, als er die Garderobentür aufdrückte. »Du musst dich nur vorher von ein paar Leuten verabschieden.« Bei Grays Anblick – zusammengesackt auf der Couch – runzelte er die Stirn. »Hey, bist du okay? Du warst nicht duschen.«

 

»Mache ich dann im Hotel.« Gray stand auf und rollte die Schultern zurück.

Paul kam zu ihm rüber, um ihm die Hand zu schütteln. »Es war mir eine Freude, mit dir zusammenzuarbeiten.«

»Ebenso. Mach’s gut. Verbring Zeit mit deiner Familie.« Gray hatte einige Fotos von Pauls Frau, seinen drei Kindern und sechs Enkeln gesehen.

»Das ist der Plan. Ich wünsche deinem Vater gute Besserung.«

»Ach ja ...«, warf Marco ein, während er Gray aus dem Raum lotste. »Ich habe vorhin mit deiner Schwester gesprochen. Dein Vater wurde entlassen und erholt sich jetzt zu Hause. Sie wollte deine Flugdaten haben, damit sie weiß, wann sie mit dir rechnen kann.«

»Sie hätte auch mich anrufen können.«

Marco lachte. »Weißt du denn, wann dein Flug in Dulles landet?«

Gray zog die Brauen zusammen. »Nein.«

»Deswegen hat sie mich kontaktiert. Ich habe ihr gesagt, dass du eine Weile bleiben wirst, wie wir es bereits besprochen haben. Dann hast du die Gelegenheit, in Ruhe ein paar Songs zu schreiben. Zu Hause ist es doch am schönsten, nicht wahr?«

Zu Hause. Gray schluckte hart bei dem Gedanken an das imposante, viktorianische Haus mit dem makellosen Rasen, der nach unten zu jenem Bach führte, der dem Ort seinen Namen gegeben hatte. Das Haus seines Vaters. Das Haus, das er hinter sich gelassen hatte, sobald es möglich gewesen war. Er hatte sich geschworen, niemals wieder dorthin zurückzukehren. Und nun machte er genau das. Er kehrte zurück an den Ort, an dem sein Vater immer noch gemeinsam mit Tante Gina und seiner Schwester Becca lebte.

Nach einem kurzen Gespräch mit den Leuten vom Plattenlabel erreichten sie endlich den Ausgang. Kühle Luft wehte durch die offenen Türen und erinnerte ihn daran, dass sich – obwohl es in den USA Frühling war – Australiens Herbst langsam auf den Weg in den Winter machte. Ein Mann von der Security erwartete sie am Ausgang und murmelte etwas in sein Headset, sobald er Gray kommen sah. »Mr Hartson«, grüßte er. »Wenn Sie mir folgen, bringe ich Sie sicher zu Ihrem Wagen.«

Die Tour war vorbei. Es war an der Zeit, die lange Reise nach Hause anzutreten. Von der Arena ins Hotel, zum Flughafen und weiter in die USA. Sein letzter Halt war Hartson’s Creek.

Sobald er der Security durch die Türen und in die Nacht Sidneys gefolgt war, spürte er, wie sich sein Magen bei dem Gedanken an sein Reiseziel zusammenzog.

Die Menge an Fans, die sich hinter der Arena versammelt hatte, brüllte seinen Namen, als er ins Freie trat. Ihre Stimmen waren laut. Gray hob die Hand, um sich mit einem Winken von ihnen zu verabschieden.

Es war an der Zeit, nach Hause zu gehen.

K

»Dem Navi zufolge sollten wir in fünf Minuten ankommen«, meinte sein Chauffeur, als sie die Stadtgrenze zu Hartson’s Creek überquerten. Dem verwitterten Schild zufolge betrug die Einwohnerzahl immer noch 9872 Menschen. Exakt dieselbe Nummer wie an dem Tag, als er abgehauen war.

Gray wandte den Kopf zur Seite, um aus dem Fenster zu schauen. Bei der altbekannten Aussicht legte sich ein Stein in seinen Magen. Bunte viktorianische Häuser, ausladende Vorgärten und breite, wettergeplagte Straßen. Hatte hier die Zeit in den letzten zehn Jahren stillgestanden? Sogar die Läden sahen gleich aus. Als sie an einer roten Ampel hielten, starrte er durch das Fenster hinein in Bella’s Bakery und ließ die zuckerübergossenen Zimtschnecken und Donuts auf sich wirken, die er als Kind so angebetet hatte. Er konnte beinahe den zuckrig-buttrigen Geschmack auf seiner Zunge wahrnehmen. Und nebenan, heute wie damals, befand sich Murphy’s Diner, wo er seinen ersten Gig gespielt hatte. Jener Gig, der zur berüchtigten Homecoming-Schlägerei von 2005 geführt hatte. Bei der Erinnerung an das Gemetzel zuckten seine Lippen. Wie Ashleigh Clark Salbe auf den Riss über seinem Auge und an seiner Lippe geschmiert und ihm gesagt hatte, dass er nach der Schlägerei nun heißer als die Hölle aussah.

Am nächsten Morgen hatte er sich weniger heiß gefühlt, als sein Dad die Rechnung für die Schäden am Diner serviert bekam. Ebenso wenig, als er den folgenden Sommer damit verbracht hatte, jeden Zentimeter von Murphys schmieriger Küche zu putzen.

Er schauderte bei der Erinnerung.

»Wir sind hier.« Der Chauffeur hielt den Wagen an.

Gray blickte erneut aus der Scheibe. Nicht ganz hundert Meter entfernt lag die Auffahrt des Hauses seiner Familie und das war ihm nur recht. »Können wir eine Minute hier warten?«, wollte er wissen.

Der Chauffeur zuckte die Schultern. »Sie sind der Boss.« Er stellte den Motor ab und lehnte sich in seinem Sitz zurück, während Gray die grünen Hecken anstarrte, die den Grund seines Vaters begrenzten. Obwohl er die Zufahrt von seiner Position aus nicht direkt sehen konnte, wusste er, dass sie dort war. Bedeckt von rotgrauem Kies, der einen Höllenlärm machte, wenn man versuchte, nach der Sperrstunde nach Hause zu schleichen. Der Kiesweg führte zu einem Haus, das in seiner Erinnerung stets stattlich ausgesehen hatte. Ein herrschaftliches rotes Dach, weiße Holzbretter an den Wänden und eine Kuppel in der Mitte, die man nur über eine klapprige Treppe erreichen konnte. Der Aufstieg war es allerdings jedes Mal wert. Wenn man oben angekommen war, bescherten einem die nach außen gebogenen Dachflächenfenster eine tolle Aussicht auf Hartson’s Creek. Im Westen konnte man die Felder bewundern, die sich wie ein grüner Teppich bis zu den Shenandoah Mountains in weiter Ferne erstreckten. Im Osten glitzerte der blaue Bach in der Sonne und führte einen zu den Weizenfarmen, die im kommenden Herbst die Farbe von poliertem Gold annehmen würden.

Das Haus, das er über den Hecken erblickte, wirkte jetzt nicht mehr ganz so weiß. Von den Brettern blätterte die Farbe ab und sie waren an manchen Stellen bis ganz auf den Kern verrottet. Sogar von hier aus konnte er sehen, dass einige der Ziegel vom Dach gerutscht waren. Aber vor allem erschien es ihm klein. So viel kleiner, als er es in Erinnerung hatte. Wie eine Miniaturversion seines tatsächlichen Selbst.

Gray schüttelte schmunzelnd den Kopf. Häuser schrumpften nicht. Vielleicht war er ja gewachsen.

Zwei Minuten später stand er am Anfang der Zufahrt und hob zum Abschied die Hand, als der schwarze Sedan in der Lawson Lane wendete. Sogar die Luft roch hier anders. Kühl mit einem Hauch von Mais, der von den Feldern hochwehte. Und noch etwas anderem. Etwas Altem. Als enthielte jedes Sauerstoffmolekül Erinnerungen an die vergangenen Jahrhunderte seit der Gründung von Hartson’s Creek.

»Gray! Du hast es geschafft!« Die Eingangstür flog auf und ein verschwommener Schatten in Pink und Blau raste auf ihn zu. Er hatte gerade noch genug Zeit, Gitarre und Koffer abzustellen, bevor Becca mit wehendem, dunklem Haar in seine Arme sprang. »Ich dachte mir schon, dass du das bist«, verkündete sie, kaum, dass er sie aufgefangen hatte. »Ich habe ein parkendes Auto am Ende der Straße gesehen. Tante Gina schuldet mir fünf Dollar.«

»Darauf hast du gewettet?«, fragte Gray mit einem breiten Grinsen. Er musste immer lächeln, wenn er seine kleine Schwester sah. Tante Gina hatte sie ein paar Mal zu seinen Shows gefahren und es machte ihn immer glücklich, wenn sie bei ihm war.

»Das WLAN geht schon wieder nicht. Irgendwie müssen wir uns also die Zeit vertreiben.« Becca zuckte die Achseln, als wäre es keine große Sache. »Warum hast du die riesige Kiste nicht vor unserem Haus parken lassen? Dann hätten wir etwas zum Anstarren gehabt.«

»Genau das ist der Grund, warum ich nicht vorgefahren bin«, gab Gray trocken zurück.

Becca entzog sich der Umarmung und schnappte sich seine Hand. »Komm, es warten schon alle.«

»Alle?« Er ignorierte das Ziehen in seinem Magen.

»Na ja, da sind ich und Tante Gina. Und Tanner ist für zwei Tage hier.« Tanner war Grays jüngster Bruder. »Logan und Cam haben es nicht geschafft, aber sie kommen zu Tanners Geburtstag.« Sie grinste breit. »All die Hartsons an einem Ort. Die Leute haben keine Ahnung, was da auf sie zukommt.«

»Und Dad? Ist er hier?«

»Er liegt im Bett«, offenbarte sie mit gesenkter Stimme. »Er erholt sich nur langsam.« Sie wartete, bis er seine Sachen hochgenommen hatte, bevor sie ihn die Eingangstreppe nach oben schleifte. Dabei sprang sie über die mittlere Stufe, in deren Holzbrettern ein Loch klaffte. Als er oben ankam, sah er Tanner lässig im Türrahmen lehnen. Mit achtundzwanzig war Tanner der jüngste der vier Brüder, aber immer noch vier Jahre älter als Becca.

»Der Reisende kehrt zurück«, kommentierte er gedehnt, als Gray seine Gitarre an die Holzwand lehnte. »Was, keine Paparazzi? Keine grölenden Fans?« Er senkte die Stimme um eine Oktave. »Keine Groupies?«

»Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen.« Gray nahm seinen Bruder in einer ungestümen Umarmung gefangen. »Was machst du denn hier? Ich dachte, du wärst in New York?«

Tanner zuckte mit den Schultern und hob eine Hand, um sich sein sandfarbenes Haar aus den Augen zu streichen. »Ich habe gehört, du würdest kommen. Ich bin allerdings wegen der Groupies hier.«

Becca rümpfte die Nase. »Du bist ekelhaft«, befand sie mit einem Hieb auf seinen Arm. »Seid ihr beide.«

Gray hob die Hände. »Hey, ich habe gar nichts gesagt.«

»Muss er auch nicht. Diese Groupies fliegen auch so auf ihn.« Tanner grinste. »Hey, Becca, habe ich dir von dem einen Mal erzählt, als ich Grays Auftritt in Vegas gesehen habe?«

»Was soll der ganze Lärm hier draußen? Versucht ihr, euren Vater in den Wahnsinn zu treiben?« Tante Gina kam aus der Küche in den Flur. Ihre Augen leuchteten auf, als sie Gray auf der Veranda entdeckte. »Grayson. Du bist hier«, bemerkte sie.

»Jepp. Und du schuldest mir fünf Mäuse«, warf Becca ein.

Tante Gina schlurfte zum Eingang, wo sie Gray in eine Umarmung zog. »Oh, du bist Balsam für diese wunden Augen«, flüsterte sie an seiner Brust. »Ich dachte wirklich nicht, dass du kommen würdest.«

»Warum hast du dann sein Zimmer hergerichtet?«, fragte Tanner stirnrunzelnd.

»Weil ich immer Hoffnung habe.« Tante Gina machte einen Schritt zurück und musterte Gray von oben bis unten. »Ist das neu?«, wollte sie wissen. Dabei zeigte sie auf einen Teil des Tattoos, das unter seinem Shirt hervorlugte.

»Das alte Ding?« Gray grinste und deutete an, sich das Shirt auszuziehen, um ihr mehr davon zu zeigen. »Willst du es sehen?«

»Nein, will ich nicht. Lass dein Shirt genau da, wo es ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Wir haben gewisse Standards in diesem Haus.«

»Anders als in Vegas«, stichelte Tanner und zwinkerte seiner Tante dabei zu. »Gray hatte dort die ganze Zeit kein Oberteil an.«

»Du kannst jetzt still sein«, befahl Tante Gina an Tanner gewandt. »Und bring die Sachen deines Bruders rein.«

Tanner zog eine Grimasse. »Er kann sein Zeug selber tragen.«

Gray schluckte ein Lachen hinunter. Manche Dinge änderten sich einfach nie. Beccas übertriebener Enthusiasmus, Tanners Genörgel, sogar Tante Ginas gluckenhaftes Gehabe fühlte sich so vertraut an, dass es sein Herz zusammenzog. Es war, als wäre er in zwei unterschiedlichen Zeitzonen gelandet. Irgendwo zwischen dem Mann von heute und dem Kind, das er früher einmal gewesen war. »Ich trage meine Taschen«, informierte er Tanner. »Ich würde nicht wollen, dass du dir den Rücken verrenkst, Herzchen.«

Tanner verdrehte die Augen. »Ich mache das schon«, meinte er, sich den Griff meiner Tasche schnappend. »Es wäre doch schrecklich, wenn du dir deine hübschen Hände verletzen würdest. Die müssen ja auf ein paar Millionen Dollar versichert sein.«

»Zwei, um genau zu sein.« Gray zuckte die Achseln bei dem Gedanken an seine eigene Empörung, als er davon erfahren hatte.

Tanner fasste nach seinem Gitarrenkoffer, aber Gray kam ihm zuvor. »Den nehme ich«, wimmelte er seinen Bruder ab und schob den Riemen über seine Schulter. Er folgte seiner Tante ins Haus und sofort füllte der Duft von Butterkeksen seine Nase. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen.

Er war zu Hause. Was auch immer das bedeutete. Vielleicht würden ein paar Wochen an diesem Ort doch nicht so schlimm werden.