Buch lesen: «Pater Noster»

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Über dieses Buch

MITTWOCH

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

SONNTAG

MONTAG

DIENSTAG

MITTWOCH

DONNERSTAG

FREITAG

SAMSTAG

Danksagung

Über Carine Bernard

Molly Preston Krimis

Carine Bernard

Pater Noster

Eine mörderische Kampagne

Halt die Augen auf!

Ein riesiges rotes Auge leuchtet zusammen mit dieser Botschaft von Düsseldorfs Plakatwänden. Der kryptische Satz begleitet auch ein Armband aus roten Pater-Noster-Erbsen, das Deborah von einem Unbekannten erhält. Sie ahnt nicht, was es damit auf sich hat, und überhaupt hat sie gerade anderes im Kopf: Eine heiße Affäre mit ihrem Chef bahnt sich an und ihr Exfreund rast vor Eifersucht.

Am längsten Tag des Jahres geschieht ein Mord und stellt Deborahs Welt auf den Kopf. Die beiden Männer, die sie liebt, geraten in Verdacht. Sie ist unfähig, eine Entscheidung zu treffen, solange sie nach der Wahrheit sucht.

Erst als das Geheimnis des roten Auges gelüftet wird, erkennt Deborah die Zusammenhänge. Im Strudel der Ereignisse gerät sie selbst in Gefahr. Schrödingers Hund muss sie retten und er ist es auch, der ihr am Ende zeigt, wem sie vertrauen kann.

Carine Bernards neuer Roman spielt in Düsseldorf. Zu wenig Blut für einen Thriller, zu viel Romantik für einen Krimi und zu viel Mord für eine Liebesgeschichte – die Mischung macht den Zauber dieses Buches aus. Die Romanze zwischen Deborah und Carl steht im Mittelpunkt einer Mordermittlung. Deborah muss sich entscheiden und ihre Wahl überführt zuletzt den Mörder.

MITTWOCH

Stefan Schrödinger legte das letzte Armband in die Schachtel und achtete darauf, dass der kleine Zettel darunter nicht verrutschte. Sorgfältig verschloss er die Lasche an der Oberseite des Kartons und legte sie zu den anderen. Fünfzig Stück waren es, eine Arbeit für einen dressierten Affen, ging ihm durch den Kopf. Aber es war ja seine eigene Idee gewesen, er wollte das so haben, also sollte er sich besser nicht beklagen.

Er löste den ersten bedruckten Adressaufkleber von dem Bogen ab, der vor ihm lag. Akribisch klebte er ihn über die Kante, sodass er gleichzeitig den Deckel sicher verschloss. Dann musterte er den kleinen Karton von allen Seiten. Es war ein perfekter Würfel in mattem Weiß. Die Kanten waren so exakt geschnitten, dass sie fast nahtlos ineinander übergingen. Durch die Laminierung fühlte sich die Oberfläche richtig edel an, gar nicht wie schnöde Pappe. Der Aufkleber zerstörte diese Perfektion trotz seiner geringen Abmessungen, aber das ließ sich nicht ändern.

Die Druckerei hatte hervorragend gearbeitet und den Barcode des Botendienstes klein und akkurat in die Ecke gesetzt, sodass die Illusion der handgeschriebenen Adresse nicht zerstört wurde. Insgesamt befriedigte ihn das Ergebnis ungemein, wie jedes Mal, wenn er eine seiner Ideen in etwas umgesetzt sah, das man in die Hand nehmen und anfassen konnte.

Er machte weiter, 48, 49, 50. Dann die Nummer 51, die er sich bis zuletzt aufgehoben hatte. Zärtlich strich er mit den Fingerspitzen über den Namen auf dem Etikett. Er wusste Debbies neue Anschrift nicht, deshalb stand da die Adresse von Schulze & Niess, der Agentur, in der sie ihr Praktikum absolvierte. Das Praktikum, das Anlass für ihren großen Streit gewesen war. Das verfluchte Praktikum, das am Ende zu ihrer Trennung geführt hatte.

Stefan seufzte und legte das letzte Päckchen in die Kiste, die der Paketbote morgen früh abholen würde. Er pfiff leise durch die Zähne. Josh hob den Kopf von dem Sofakissen, auf dem er geschlafen hatte.

»Josh!«, rief er. »Komm, wir drehen noch eine Runde!«

Der Hund streckte sich genüsslich, bevor er sich vom Sofa bequemte. Erst als Stefan aufstand und die Hundeleine ergriff, wurde er richtig wach und lief schwanzwedelnd zur Tür.

DONNERSTAG

Deborah stand vor dem Spiegel und sah, wie ihre Mutter hinter ihr in der Tür zum Badezimmer auftauchte.

»Mama, brauchst du am Wochenende dein Auto?« Sie war noch im Bademantel und rubbelte die blonden Haare mit einem Handtuch trocken.

»Am Wochenende? Kind, das weiß ich doch jetzt noch nicht!«

Marion Peters trat näher und sah sie fragend im Spiegel an. »Wofür brauchst du es denn?«

»Weißt du nicht mehr? Ich bekomme heute die Schlüssel für meine Wohnung«, erwiderte Deborah. »Ich wollte am Samstag zu IKEA fahren und Möbel kaufen.«

»Möbel kaufen?« Das Gesicht der Mutter erhellte sich. »Soll ich mitkommen?«

»Mama, ich bin fünfundzwanzig, ich bin kein Baby mehr«, wimmelte Deborah sie ab. Ihre Mutter meinte es gut. Aber im Bemühen, ihr zu helfen, neigte sie dazu, alles selbst in die Hand zu nehmen. Für Deborah war es das erste Mal, dass sie eine Wohnung bezog, die sie ganz für sich hatte. Schon seit Tagen richtete sie in Gedanken das Zimmer ein und freute sich darauf, Bett, Tisch und Stühle auszusuchen. Womöglich stieß sie ihre Mutter mit ihrer Ablehnung vor den Kopf, das täte ihr zwar leid, aber es änderte nichts an ihrer Entscheidung.

»Trinkst du noch einen Kaffee mit mir, Debbie?« Ihre Mutter ließ sich keine Verstimmung anmerken. Sie war schon auf dem Sprung zur Arbeit. Schick gekleidet in ein helles Kostüm, die dunkelblonden Haare kurz geschnitten, sah sie deutlich jünger aus als Ende vierzig. Deborah lächelte ihr im Spiegel zu.

»Ja, Mama, gerne. Ich komme gleich runter!«

Während ihre Mutter die Treppe hinunterging, inspizierte Deborah kritisch ihr Gesicht: die Nase etwas zu groß, der Mund ein wenig zu breit. An den Zähnen hätte ein Kieferorthopäde heute gut verdient, aber als Teenager hatte sie keine Zahnspange tragen wollen. Wirklich zufrieden war sie eigentlich nur mit ihren Augen. Wenn die Beleuchtung stimmte, waren sie von einem erstaunlichen Grün, so wie jetzt, unter der hellen Lampe am Spiegel. Ihre blonden Wimpern umgaben die Iris wie ein goldener Kranz, den Deborah hasste, denn ohne Wimperntusche waren sie praktisch unsichtbar.

Sie streckte sich selbst die Zunge heraus und folgte ihrer Mutter in die Küche.

Die goss ihr gerade eine Tasse Kaffee ein und stellte die offene Milchpackung daneben.

»Ich muss gleich los«, sagte sie und sah auf ihre Armbanduhr. »Wenn ich dich mitnehmen soll, musst du dich jetzt sehr beeilen.«

»Danke, Mama, heute nicht. Ich wollte die Wohnungsschlüssel abholen, bevor ich zur Arbeit fahre. Dann kann ich heute Nachmittag die ersten Sachen von Stefan hinbringen.«

»Ach so.« Ihre Mutter sah sie aufmerksam an. »Hast du etwas von ihm gehört? Wie geht es ihm?«

Deborah schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung.«

»Schade. Du weißt, ich mochte ihn immer sehr gern.« Marion Peters stand auf.

Deborah holte tief Luft. Eine scharfe Erwiderung lag ihr auf der Zunge.

»Aber es ist natürlich deine Entscheidung«, setzte ihre Mutter schnell hinzu. Sie drückte Deborah zum Abschied einen Kuss auf die Wange, dann war sie weg und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

Deborah blickte aus dem Fenster und sah ihrer Mutter dabei zu, wie sie zwei Stockwerke tiefer das Haus verließ und in ihren Wagen stieg. Erst als der silberne Renault um die Straßenecke verschwunden war, stieß sie sich vom Fenster ab und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein. Gedankenverloren sah sie zu, wie sich die Milch in einer Wolke im Schwarz verteilte und goldbraune Schlieren entstanden. Sie seufzte.

Stefans Espressomaschine vermisste sie nach ihrer Trennung am meisten, zumindest redete sie sich das ein. Die Kaffeemaschine und Josh, den struppigen Mischlingshund, den Stefan irgendwann mit nach Hause gebracht hatte und der sie beide innerhalb von 24 Stunden um den Finger gewickelt hatte.

Stopp, befahl sie sich selbst. Das Grübeln führte zu nichts. Die Trennung von Stefan war die richtige Entscheidung gewesen. Die einzige Lösung, wenn sie ein selbstbestimmtes Leben führen wollte. Und zum Teufel mit dem ständigen Gefühl, ihn im Stich gelassen zu haben!

Deborah stellte die leere Tasse mit unnötiger Heftigkeit in die Spüle und ging die steile Treppe nach oben. Ihre Mutter hatte ihr das Zimmer in der gemütlichen Maisonettewohnung in der Krahestraße immer frei gehalten, obwohl sie schon vor – sie musste kurz rechnen – fast fünf Jahren ausgezogen war. Erst die begonnene Fotografenlehre nach dem Abitur, da hatte sie noch zu Hause gewohnt. Dann ein Jahr als Au-pair in England. Im Anschluss daran das Studium an der Fachhochschule für Grafik und Design. Hier hatte sie Stefan kennengelernt, der damals noch Assistent an der Uni gewesen war. Sie hatten sich verliebt und schon nach wenigen Wochen war sie bei ihm eingezogen.

Ihre Mutter hatte in all den Jahren hinter ihr gestanden und ihre Pläne immer unterstützt. Dafür war Deborah ihr aus ganzem Herzen dankbar. Auch diesmal hatte sie keine Fragen gestellt, als sie vor ungefähr eineinhalb Monaten, nur mit einem Rucksack in der Hand, vor der Tür gestanden hatte. Sie tat so, als wäre Deborah nie fort gewesen, sondern nahm sie einfach in die Arme. Stefan Schrödinger hatte sie bis heute mit keinem Wort erwähnt.

Trotzdem fühlte sich Deborah eingeengt und war froh, dass diese Zeit nun zu Ende ging. Bald würde sie ihre eigenen vier Wände haben. Heute, genau genommen, wurde ihr plötzlich klar.

Die Wohnung war ein Glücksgriff. Klein natürlich, keine zwanzig Quadratmeter groß, ein Wohnschlafzimmer und ein winziges Bad, dazu eine Kochnische, die kaum die Bezeichnung verdiente, aber sie gehörte ihr, ihr ganz allein. Finanziell würde es eng werden, das war ihr klar. Von dem Geld, das sie als Praktikantin bei Schulze & Niess verdiente, ging fast die Hälfte für die Miete drauf. Aber sie hatte schon früher mit wenig Geld auskommen müssen und sie würde es wieder schaffen.

Deborah sah auf die Uhr. Es war kurz nach halb neun. Wenn sie gleich noch die Schlüssel abholen wollte, musste sie sich langsam beeilen. Die anderen in der Agentur tauchten meistens erst gegen zehn auf, aber sie legte großen Wert darauf, immer zu den Ersten zu gehören.

Sie ging ins Bad und begann mit dem täglichen Morgenritual. Sie verrieb getönte Tagescreme im Gesicht, zog die Lidränder mit grauem Kajal nach, fluchte, als sie mit dem Stift abrutschte, und feuchtete ein Wattestäbchen mit der Zunge an, um das Malheur wieder zu beseitigen. Zuletzt noch die Wimperntusche, warmes Braun für den Natural Look, und schimmernden braunen Lipgloss. »Nude« stand auf der Hülse, und wie jeden Tag fragte sie sich, wer ausgerechnet einer Lippenstiftfarbe so einen Namen geben konnte.

Ihr Haar war inzwischen fast trocken und sie besprühte es großzügig mit Glättungsspray. Während sie es föhnte, bürstete sie es kräftig, bis sich der gewünschte Effekt einstellte: seidige Wellen, die in weichem Schwung ihr Gesicht umrahmten und bis zu den Spitzen ihrer Brüste reichten. Es war etwas heller als das ihrer Mutter, besonders jetzt im Sommer, und frisch gewaschen und geföhnt glänzte es wie poliertes Gold – zumindest solange das Wetter trocken blieb.

Deborah suchte ein breites Haargummi in ihrem Kulturbeutel und band die blonde Mähne straff im Nacken zusammen. Dann lockerte sie den Haaransatz mit den Handflächen und schob den Pferdeschwanz zurecht, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden war.

Eigentlich trug sie ihr Haar lieber offen. Überhaupt fand sie den ganzen Aufwand jeden Morgen lästig, aber in der Agentur wollte sie gepflegt und gestylt wirken. Außerdem störten die Haare, wenn sie am Zeichentisch saß und sie ihr ständig ins Gesicht fielen.

Sie ging zurück in ihr Zimmer, um sich anzuziehen: dunkle Jeans und helle Bluse, die Uniform der Kreativen in der Werbebranche. Keine bunten T-Shirts mehr mit witzigen Sprüchen darauf, wie noch an der Uni. Sie entschied sich heute für ein kurzärmeliges Seidenhemd in kühlen Grün- und Blautönen, das mit ihren Augen harmonierte. Eigentlich gehörte noch ein lässiger weißer Seidenschal dazu, aber dafür war es heute zu heiß. Ein kurzer Blick auf das Thermometer am Fenster zeigte jetzt schon 25 Grad.

Carl Schulze stellte seinen Wagen unter der alten Kastanie ab. Einen Augenblick blieb er noch im Auto sitzen. Er liebte diese stille Zeit am Morgen und genoss es, ein oder zwei Stunden in der Agentur für sich allein zu haben, bevor seine Mitarbeiter kamen und der tägliche Trubel losging. Zum Glück waren kreative Köpfe in der Regel keine Morgenmenschen. So konnte er die Verwaltungsaufgaben der Agentur morgens in aller Ruhe erledigen, bevor sich alle um zehn zur Teambesprechung einfanden.

Er schwang seine Beine aus dem Sportwagen. Der schattige Hinterhof, in dem die Werbeagentur Schulze & Niess ihre Räumlichkeiten hatte, empfing ihn mit morgendlicher Kühle. Das unscheinbare Haus mit der abbröckelnden Fassade in der Neusser Straße verriet nicht, welches Juwel sich dahinter verbarg: ein verwinkelter Hof mit Steinpflaster und mehreren großen Bäumen, umgeben von einem Zaun, der die Last einer üppig blühenden Clematis kaum zu tragen vermochte, und an der Hauswand eine Kletterrose, die ihre dunkelroten Blüten zum Licht reckte. Kleine runde Tische, zierliche Klappstühle, noch an der Wand lehnend, und eine altmodische Parkbank luden zu einem Schwatz in der Pause ein. Auf einem Podest neben dem Eingang thronte ein steinerner Löwe, die Mähne schwarz vom Alter. Hochmütig sah er auf die Menschen herab, die hier täglich ein und aus gingen. Carl nickte ihm grüßend zu, während er unter seinem strengen Blick hindurchging.

Er schloss das zweiflügelige Holztor auf und öffnete die Glastür dahinter. Mit einem Griff stellte er die Alarmanlage ab. Anschließend drückte er eine Taste neben der Tür und polternd fuhren die schweren Rollläden vor den Fenstern hoch. Es wurde hell. Er betrat den geräumigen Eingangsbereich und der vertraute Geruch stieg ihm in die Nase: altes Holz, gemischt mit heißem Kunststoff und Farbe, dazwischen eine Spur Lösungsmittel. Mit schnellen Schritten durchquerte er das Atelier der Grafiker mit seinen riesigen Monitoren und den langen Arbeitstischen, die sich rundum an der Wand entlangzogen. Breite Panoramafenster spendeten den vorderen Tischen natürliches Licht, während im Hintergrund starke Neonröhren aufflammten, als er den Schalter betätigte.

Ein offener Durchgang mündete in einen kurzen Flur. Rechts befand sich die kleine Küche und dahinter der Serverraum. Alle Kontrolllampen blinkten in beruhigendem Grün, stellte Carl mit einem Blick fest, und die Klimaanlage surrte gleichmäßig.

Linker Hand waren die beiden Türen zu den Büros der Geschäftsführung, dem von Boris und seinem eigenen. Am Ende des Gangs führte eine unscheinbare Metalltür wieder nach draußen in den Hof, wo die Müllcontainer standen. Sie war abgesperrt und der Schlüssel hing wie immer an einem Haken daneben.

In der Tür zu seinem Büro blieb Carl stehen. Ohne hinzusehen, schaltete er die Espressomaschine ein. Während er wartete, bis das Gerät in Bereitschaft war, ließ er den Blick durch den Raum schweifen.

Der alte Parkettboden war auf Hochglanz poliert und reflektierte die Sonne, die durch das bodentiefe Fenster hereinfiel. Schräg vor dem Fenster thronte der riesige Schreibtisch mit den beiden Monitoren. An der Wand dahinter zogen sich bis zur Decke die Regale mit dem Herz der Agentur: Briefe, Entwürfe, Verträge, Unterlagen, Dokumente und Rechnungen, die sichtbaren Beweise seiner Erfolge, abgelegt hinter unscheinbaren Aktendeckeln. Links von ihm hing ein surrealistisches Aquarell in bunten Farben. Unter dem Bild stand eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder. Gegenüber war ein riesiges Whiteboard an der Wand befestigt, über und über bedeckt mit Notizen und Bildern von aktuellen Projekten: ein Schriftzug mit tanzenden Figuren, ein Faltkarton, das Storyboard eines Fernsehspots, Ideen aus dem Brainstorming zum Namen eines Produkts. Es war sein perfekter Arbeitsplatz.

Auf dem futuristischen Sideboard neben der Tür stand die Espressomaschine, chromblitzend und teuer. Darunter war eine Bar mit einem Kühlschrank eingebaut.

Das grüne Licht leuchtete auf. Dankbar sah er zu, wie der starke Kaffee in die dickwandige Tasse lief. Dampf stieg auf und er schnupperte erfreut.

Boris lehnte all das ab, so wie er jeden Protz und Prunk ablehnte. Wenn es nach ihm ginge, würde sein Kompagnon und Freund am liebsten unter freiem Himmel arbeiten, aber davon hatte Carl ihn zum Glück abgebracht. Boris hatte sein eigenes Büro nebenan, mit viel Licht und ausreichend Platz, um all seine Ideen zu Papier zu bringen und – wie es seine Art war – an drei oder fünf Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Carl hielt den Atem an und lauschte, doch aus dem Nebenraum drang kein Laut. Das war ein untrügliches Zeichen dafür, dass Boris noch nicht da war, denn sonst wäre schon Musik zu hören. Indisch, irisch, japanisch, meditatives Gezimbel, wie Carl es im Stillen nannte, und überhaupt nicht sein Fall. Aber er nahm es hin, so wie er fast alles hinnahm, was seinen Geschäftspartner betraf.

Er und Boris hatten die Agentur vor neun Jahren gegründet, als Boris gerade dabei war, der Kunstwelt endgültig den Rücken zu kehren. Boris hatte Kunst studiert. Schon während des Studiums war er zu einem gefragten Talent der Düsseldorfer Szene avanciert. Sehr früh machte er sich mit eigenen Ausstellungen einen Namen und die neureiche Schickeria feierte ihn wie einen jungen Gott. Bis er zusammengebrochen war unter dem Druck, ständig etwas Neues und immer noch Besseres abliefern zu müssen.

Carl hatte ihm vorgeschlagen, sich stattdessen der materiellen Seite der Kunst zuzuwenden. In der Werbebranche könne er sich noch besser verwirklichen, legte Carl ihm dar. Er müsse sich nicht mehr mit Kunden und Finanzen abgeben, das würde Carl für ihn erledigen. Am Ende brachte Boris sein beträchtliches Barvermögen in die Firmengründung ein, während er, Carl, seine beruflichen Kontakte aus den Jahren als Marketingleiter beisteuerte. Dank dieser Verbindungen zogen sie gleich zu Beginn einige lukrative Aufträge an Land, mit denen Schulze & Niess ihren gegenwärtigen Ruf in der Branche begründeten.

Carl war durch und durch Geschäftsmann. Er hatte seinen Abschluss in Wirtschaftspsychologie gemacht und im Anschluss noch einige Semester an der renommierten London Business School absolviert. Seine Stärke lag in der Planung, in der Konzeption eines Gesamtpakets, in der raschen Erfassung aller Aspekte einer Sache. Er erkannte sehr genau, wie gut er und Boris sich ergänzten. Der kreative Kopf und der Umsetzer, so sah er ihre Zusammenarbeit, und der Erfolg der letzten Jahre gab ihm recht.

Carl kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten der Agentur Schulze & Niess. Er entschied, an welchen Ausschreibungen sie teilnahmen, in welche Kontakte investiert wurde und welche Aufträge für ihr Team geeignet waren. Boris hatte als Art Director weitgehend freie Hand in der künstlerischen Arbeit und bei der Auswahl der Mitarbeiter.

Nur schien diese Aufteilung in den letzten Monaten nicht mehr so richtig zu funktionieren. Boris mischte sich zunehmend in Carls Kompetenzen ein. Er verlangte mehr Mitspracherecht bei der Auswahl der Aufträge. Störrisch verweigerte er die Mitarbeit an Projekten, die ihm nicht zusagten. Im Gegenzug hatte sich Carl über Boris hinweggesetzt, indem er Deborah als Praktikantin einstellte. Er musste sich eingestehen, dass er überhaupt nicht auf ihre berufliche Qualifikation geachtet hatte, sondern nur auf ihre meergrünen Augen, als er ihr den Praktikumsplatz zusagte. Boris war stinksauer gewesen, nicht auf Deborah, die sich als ausgesprochen talentiert und in jeder Hinsicht als Bereicherung für das Team erwiesen hatte, sondern wegen Carls eigenmächtiger Vorgehensweise.

»Schwanzgesteuert«, hatte Boris ihn genannt und ihn daran erinnert, dass sie die Beschäftigung von Praktikanten zu einem Hungerlohn, wie es in der Branche üblich war, immer abgelehnt hatten.

Carl runzelte die Stirn, als er sich an die unschöne Szene erinnerte. Beim Gedanken an die ihm noch bevorstehende Diskussion verzog er angewidert das Gesicht. Er hatte Boris bis heute nichts von der aktuellen Ausschreibung erzählt, zu deren Präsentation sie morgen eingeladen waren. Aber was hätte er sonst auch tun sollen? Er wusste schließlich genau, wie Boris reagieren würde.

Der Auftraggeber war Rheopharm, ein Pharmakonzern, der üblicherweise nur mit einer internationalen Agentur in Berlin zusammenarbeitete. Aber die Kampagne, um die es ging, sollte diesmal in Düsseldorf konzipiert werden, durch »ein junges Team für ein junges Produkt«, wie es in der Ausschreibung hieß. Für Schulze & Niess bedeutete das, einen Fuß in die Tür eines wirklich großen Kunden zu bekommen. Mit dem Renommee, das die Agentur durch so einen Auftrag bekäme, spielten sie plötzlich in einer anderen Liga, sie würden zu den Großen der Branche gehören. Carl fand diesen Schritt wichtig und notwendig. Nur wenn sie sich ständig weiterentwickelten, konnten sie mit dem sich schnell ändernden Markt mithalten.

Boris interessierte das jedoch nicht. Er war mit ihren bisherigen Erfolgen völlig zufrieden, und ihm fehlte jeglicher Ehrgeiz, noch weiterzukommen. Er war der Meinung, sie verdienten mit Schulze & Niess schon jetzt genug, um ein sorgenfreies Leben zu führen. Jeder Euro mehr wäre ungehörig, waren seine Worte gewesen. Und überhaupt, eine Pharmafirma! Das war ja noch schlimmer als der Automobilkonzern, an dessen Ausschreibung teilzunehmen er sich letztes Jahr schlichtweg geweigert hatte.

Deshalb hatte Carl diesmal gar nichts gesagt. Mit einem kleinen Team, zu dem in der Endphase auch Deborah gehörte, hatte er die Konzeption und die ersten Entwürfe allein durchgezogen. Offenbar waren sie auch ohne Boris erfolgreich gewesen, denn sonst wären sie nicht zur Bekanntgabe des Siegers eingeladen worden.

Er griff nach dem Brief mit der Einladung, der vor einigen Tagen gekommen war. Er las ihn nochmals durch, obwohl er den Text bereits auswendig kannte.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie haben sich an der Ausschreibung zu unserer Werbekampagne »Ein Schmerzmittel für Kinder und Jugendliche« beteiligt. Wir dürfen Ihnen hiermit mitteilen, dass Sie zu den drei Bewerbern in der Endausscheidung gehören.

Wir freuen uns, Sie am Freitag, dem 19. Juni, um 13.00 Uhr zur Bekanntgabe des Gewinners in unseren Räumlichkeiten zu begrüßen.

Hochachtungsvoll

Marianne Leidenberg

Projektleitung Rheopharm

Sollten sie die Ausschreibung wirklich gewonnen haben, blieb ihm natürlich keine Wahl. Dann musste er Boris davon erzählen und er konnte sich dessen Reaktion nur zu gut vorstellen. Der Streit war vorprogrammiert. Aber diesmal würde er nicht nachgeben, nicht bei einer so großen Chance. Er legte den Brief zur Seite und fuhr seinen Computer hoch.

Deborah saß auf ihrem Schreibtisch und die Hälfte der Agenturmitarbeiter hatte sich um sie geschart. Voller Begeisterung erzählte sie von ihrer neuen Wohnung, als ob es sich um einen Palast handelte und nicht um ein winziges Zimmer unter dem Dach.

»Und heute Morgen habe ich die Schlüssel abgeholt«, schloss sie und klimperte wie zum Beweis mit ihrem Schlüsselbund.

»Wieso hast du uns nicht schon früher davon erzählt, Debs?«, fragte Sam, der Animateur, wie sie ihn liebevoll nannten, der Spezialist für Computeranimation.

»Ich war abergläubisch«, gab Deborah zu. »Ich wollte erst ganz sichergehen, dass alles klappt.«

»Wann hast du den Vertrag unterschrieben?«, wollte Klaus wissen. Er war Werbegrafiker, so wie Deborah, und hier in der Agentur so etwas wie ihr Tutor. Er hatte sie unter seine Fittiche genommen, als ihr Praktikum vor zwei Monaten begann.

»Letzte Woche.« Deborah sah sich im Kreis ihrer Kollegen um, die ihr in der kurzen Zeit schon so ans Herz gewachsen waren. »Sobald ich eingerichtet bin, gibts eine große Party, und ihr seid alle eingeladen.«

Das war mutig gesprochen, denn die Wohnung war viel zu klein für eine Party mit – Deborah sah sich um und überschlug die Zahl kurz im Kopf – neun Personen, wenn man die beiden Geschäftsführer nicht mitzählte. Genau genommen wäre jetzt der richtige Zeitpunkt dafür. Noch war die Wohnung leer und besenrein, wie es so schön hieß. Solange keine Möbel herumstanden, hätten vielleicht wirklich alle Platz.

Deborah sah kurz zu ihrem Chef hinüber, um festzustellen, ob er sich von ihrer Einladung ebenfalls angesprochen fühlte. Carl Schulze lehnte lässig im Durchgang zum Atelier und beobachtete schmunzelnd die Szene. Als er ihren Blick bemerkte, hob er fragend die Brauen. Schnell sah sie wieder weg und befeuchtete mit der Zunge die plötzlich trockenen Lippen.

»Und was zahlst du jetzt dafür?« Es war klar, dass diese Frage kommen musste, und natürlich war es Svenja, die sie stellte. Die Texterin nahm nie ein Blatt vor den Mund. Sie trug auch nie etwas anderes als Schwarz: schwarze Kleidung, schwarze Stiefel, raspelkurze schwarze Haare, schwarzer Kajal und dazu ein blutroter Lippenstift.

»180 Euro kalt«, antwortete Deborah und grinste übers ganze Gesicht.

»Wie hast du …« – »Wie findet man so was …« – »Wen hast du dafür …«

Alle riefen durcheinander, als sie den Mietpreis hörten. Für Düsseldorfer Verhältnisse war das geradezu verboten günstig und für Oberbilk schlichtweg unvorstellbar. Dafür bekam man normalerweise kaum einen Verschlag in einem Keller.

»Ihr werdet es nicht glauben.« Deborah senkte verschwörerisch die Stimme. »Ihr kennt doch die Litfaßsäule vor der Uni, wo die Studenten immer alles Mögliche anschlagen?«

Alle nickten und murmelten zustimmend.

»Da war ein Aushang für die Wohnung mit einer Telefonnummer. Ich rief da an, traf mich mit dem Hausbesitzer und aus irgendeinem wunderbaren Grund habe ich sie bekommen.« Deborah strahlte noch immer. Irgendwie konnte sie es selbst noch gar nicht glauben.

»Und du musstest nicht …« Svenja unterbrach sich und hüstelte übertrieben.

Alle lachten.

»Nein, was denkst du denn!« Deborah gab sich empört. »So weit würde ich für eine Wohnung dann doch nicht gehen.«

»Gibt aber genug Leute, die da weniger Hemmungen haben«, bemerkte Svenja mit ihrer kratzigen Stimme. »Wenn das nicht so war, dann hast du wirklich Glück gehabt.«

Deborah gab ihr im Stillen recht. Was sie in den letzten Wochen bei ihrer Wohnungssuche erlebt hatte, passte durchaus zu Svenjas Bemerkung. Aber so etwas war für sie natürlich nicht infrage gekommen und am Ende hatte sich ihre Geduld ausgezahlt.

Der Hausbesitzer war ein liebenswürdiger älterer Herr, der das kleine Appartement normalerweise an Studenten vermietete. Dass Deborah bereits arbeitete, gefiel ihm. Deborahs Mutter war bereit, die Kaution zu bezahlen, also stand dem Abschluss des Mietvertrags nichts mehr im Wege.

Carl Schulze stieß sich vom Türrahmen ab und schlenderte in das Großraumbüro, in dem sich inzwischen alle Mitarbeiter um Deborahs Platz versammelt hatten.

»Deborah, was hältst du davon, wenn wir das mit einem Glas Sekt begießen?«, schlug er vor. »Ich gebe einen aus!«

Ihr Chef war der Einzige hier, der sie Deborah nannte, alle anderen in der Agentur riefen sie Debs. Aber sie mochte es, wie Carl Schulze ihren Namen aussprach, englisch, mit der Betonung auf dem e, sodass er mehr wie »Debra« klang.

Er nickte Sam zu, der erfreut grinste und nach hinten verschwand. Schnell kam er mit zwei Flaschen Prosecco und einigen Gläsern zurück. Carl nahm ihm die Flaschen ab und löste das Stanniol vom Verschluss.

Deborah sah das Etikett und musste lachen. »Frohe Weihnachten wünscht Schulze & Niess« stand da unter dem schwarzen Löwenkopf, der das Logo der Agentur zierte. Offenbar waren die Flaschen übrig gebliebene Werbegeschenke für Kunden, aber das änderte nichts an der netten Geste ihres Chefs.

Sam schenkte ein und der Sekt schäumte in den Gläsern. Deborah übernahm die Verteilung. Als sie Schulze sein Glas reichte, berührten sich kurz ihre Fingerspitzen. Ihr Herz klopfte schneller. Hatte er etwas bemerkt? Sie räusperte sich und überspielte ihre Verlegenheit, indem sie das Glas hob und ihm zuprostete.

»Auf deine neue Wohnung, Deborah!«, sagte er und seine Stimme klang wie das Schnurren einer Katze.

»Auf deine Wohnung«, stimmten die anderen ein. »Und auf eine schöne Zeit, Debs«, fügte Klaus hinzu. »Möge sie dir schnell ein Zuhause werden!«

»Das wird sie bestimmt«, erwiderte Deborah. »Heute werde ich noch die Wände streichen, sauber machen und die ersten Sachen hinbringen. Und am Wochenende gehts zu IKEA.«

Carl sah unauffällig auf die Uhr. Die Gläser waren geleert und die Glückwünsche verstummt. Er klatschte mehrmals in die Hände und rief: »Genug gefeiert, meine Herrschaften, nun geht es wieder an die Arbeit!«

Er betrat sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Überrascht hob er den Kopf, als er die leise Stimme seines Partners hörte.

»Da bist du ja endlich. Habt ihr dein Schätzchen ausgiebig gefeiert?« Eine deutliche Anklage schwang in den Worten mit. Boris hatte ihm die Eigenmächtigkeit mit Deborah noch immer nicht verziehen. Er saß in Carls Stuhl und trommelte mit seinen dürren Fingern auf der Tischplatte.

»Sei nicht unfair, Boris«, antwortete Carl ruhig. »Du siehst doch, dass sie gute Arbeit macht.«

»Das kann schon sein, aber dann zahlen wir ihr nicht genug«, schnappte Boris zurück. »Und wir brauchen keinen weiteren Grafiker, das weißt du ganz genau.«

Carl schwieg. Im Grunde hatte Boris recht, aber das würde er ihm gegenüber nicht zugeben. In den Machtspielchen, die Boris in der letzten Zeit immer öfter herausforderte, gab er sich besser keine Blöße.

»Was führt dich in mein Büro?«, fragte er stattdessen. Betont gleichgültig ließ er den Blick über die mit Papieren bedeckte Arbeitsfläche gleiten.

»Ich wollte eigentlich nur die letzten Entwürfe für den Biolieferdienst mit dir durchgehen«, erwiderte Boris. Seine Stimme klang nur mühsam beherrscht. »Aber dann fand ich das hier.«

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