Buch lesen: «Das Geheimnis von Nevermore»
C. S. Poe
Das Geheimnis von Nevermore
Snow & Winter Band 1
Aus dem Englischen von Simone Richter
Impressum
© dead soft verlag, Mettingen 2021
© the author
Titel der Originalausgabe: The Mystery of Nevermore
Aus dem Englischen von Simone Richter
Widmung der Übersetzerin:
Für Nico, meine Lieblingszwiebel
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Vulp – shutterstock.com
© Reinhold Leitner – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-482-7
ISBN 978-3-96089-483-4 (epub)
Inhalt:
Es ist Weihnachten in New York City und der Antiquar Sebastian Snow hat nur zwei Wünsche: sein Geschäft erfolgreich zu führen und seine Beziehung zu dem ungeouteten CSU Detective Neil Millett zu retten. Doch als in Snows Antiquarisches Imperium eingebrochen und ein Herz unter den Fußbodendielen gefunden wird, kann Sebastian nicht anders, als dem Mysterium auf den Grund zu gehen.
Schon bald besteht sein Alltag aus Mordermittlungen, die mit den makaberen Geschichten von Edgar Allen Poe zusammenhängen, und seine Verstrickung in den Fall droht seiner Beziehung zu Neil den Garaus zu machen. Als wäre das nicht kompliziert genug, fängt Sebastian auch noch an, Gefühle für den leitenden Detective der Mordkomission, Calvin Winter, zu entwickeln.
Sebastian und Calvin müssen zusammenarbeiten, um das Geheimnis der literarischen Morde aufzudecken, und zwar bevor Sebastian zum nächsten Opfer wird.
Während die Gefahr immer größer scheint, und die sexuelle Anziehung zu Calvin immer intensiver, hat Sebastian auf einmal zwei neue Wünsche: lebendig aus diesem Schlamassel herauszukommen und mit Calvin glücklich zu werden.
Widmung
Für Josh, den Meister des Mysteriösen.
Du hast mir den Mut gegeben, meine Stimme wiederzufinden.
Kapitel Eins
Da war etwas faul. Und das nicht im übertragenen Sinne. Etwas stank, als würde es verrotten.
»Scheiße«, murmelte ich leise vor mich hin. Ich stand in der Tür meines Antiquariats und hielt mir die Nase zu. Tupperware. Es musste ein altes Mittagessen sein.
Es war ein winterlicher, trüber Dienstag in New York City und wir waren nur zwei Wochen von Weihnachten entfernt. Durch heftige Schneefälle war die ganze Stadt schon um 7 Uhr morgens weiß bedeckt, was einen eher unheimlichen und dämpfenden Effekt hatte. Ich war extra früh in meinen Laden, Snows Antiquarisches Imperium, in Downtown Manhattan gekommen, weil ich mich um neu erworbene Ware kümmern wollte. Stattdessen tropfte nun geschmolzener Schnee von meinem Mantel auf die Fußmatte und ich versuchte, herauszufinden, woher dieser wahnsinnig furchtbare Gestank kam.
Ich hängte schnell meine Jacke und meinen Hut auf, schlüpfte aus meinen Stiefeln und in meine schon etwas abgenutzten Loafer. Dann fuhr ich mir mit den Fingern durch meine widerspenstigen Haare und strich ein paar Falten an meinem Pullover glatt, während ich durch die kleinen, vollgestopften Gänge wanderte. Hier und da hielt ich kurz an, um eine alte Lampe anzumachen, bevor ich wieder dem Geruch folgte. Das Leuchten der Lampen war gedämpft, was den Laden wie eine kleine Höhle erscheinen ließ.
Als ich beim Tresen angekommen war, auf dem eine alte Kasse aus Messing stand, stieg ich ein paar Stufen hinauf auf die erhöhte Verkaufsfläche und ließ meinen Blick durch das Geschäft schweifen. Hier roch es sogar noch schlimmer. Ich griff in meine Pullovertasche und tauschte meine Sonnenbrille gegen eine Lesebrille mit schwarzen Rändern aus. Als ich die Schreibtischlampe neben mir anschaltete, zuckte ich kurz zusammen und sah schnell zur Seite. Grübelnd starrte ich die Tür zu meiner Rechten an, die etwas offen stand. Es war eine winzig kleine Kammer, die als Büro diente. Es gab einen Computer, einen Tisch und einen Minikühlschrank für alle Fälle. Stank vergessenes Thai-Essen wirklich so schlimm?
Ich trat ein, öffnete den Kühlschrank und roch zögerlich an ein paar Menüboxen. Okay, ich sollte dringend sauber machen, aber nicht mal der halb aufgegessene Burrito war die Ursache des Geruchs.
Auf dem Weg zurück zur Kasse stöhnte ich laut auf, als ich mich umsah. Etwas musste gestorben sein. Vielleicht eine Ratte? Ich zuckte bei dem Gedanken zusammen, womöglich ein Nagetier aus New York City in meinem Laden zu finden, ging aber trotzdem in die Hocke und fing an, Boxen und Tüten beiseitezuschieben, um nach der vermeintlichen Ratte zu suchen.
Ein sanftes Klingeln wies mich darauf hin, dass die Tür geöffnet wurde. »Guten Mor… Was ist das für ein Geruch?« Mein Assistent Max rief nach mir. »Sebastian?«
»Hier drüben«, murrte ich.
Max Ridley war ein lieber Kerl. Er hatte gerade sein Kunststudium abgeschlossen und relativ schnell gemerkt, dass das seine Miete nicht zahlen würde. Er war klug und kannte sich gut mit Geschichte aus. Also hatte ich ihm einen Job an dem Tag angeboten, an dem er in den Laden gekommen war, um einen Bewerbungsbogen auszufüllen. Max war groß und hatte breite Schultern. Er war ein gut aussehender junger Mann, der vermutlich bisexuell war, oder vielleicht wollte er einfach mal alles ausprobieren. Ich hatte schon genug Geschichten bei unserem morgendlichen Kaffee, beim Lesen der Post und bei der Preisetikettierung der Ware gehört, um zu wissen, dass jeder Max’ Typ zu sein schien. Vielleicht war ich altmodisch, aber ich war eher der Beziehungstyp.
»Gott, das Wetter ist furchtbar. Meinst du, wir werden heute viel zu tun haben?« Max kam langsam durch den Laden auf mich zu.
»Normalerweise ja«, antwortete ich und sah ihn über den Tresen hinweg an.
»Was hast du über Nacht stehen lassen?«
»Nichts. Ich glaube, eine Ratte ist gestorben oder so was.«
»Kann ich das Licht anschalten? Das würde das Suchen einfacher machen.«
»Ich habe jetzt schon Kopfschmerzen«, widersprach ich und duckte mich, um weiterhin Gegenstände unter dem Tresen hervorzuräumen.
Ich wurde mit Achromatopsie, also völliger Farbenblindheit, geboren. Das bedeutete, dass ich absolut keine Farben sehen konnte. Menschen haben zwei Arten von Licht reflektierenden Zellen in den Augen, die sogenannten Zapfen und Stäbchen. Die Zapfen nehmen Farbe bei ausreichend Licht wahr, Stäbchen Schwarz-weiß bei schwachem Licht. Meine Zapfen funktionierten nicht. Überhaupt nicht. Die Welt existierte für mich nur in verschiedenen Grautönen und ich hatte Schwierigkeiten, bei hellem Licht überhaupt zu sehen, weil Stäbchen nicht für Tageslicht gemacht waren. Normalerweise trug ich eine Sonnenbrille oder meine speziellen, rot getönten Kontaktlinsen als Extraschutz.
»Ich habe meine Kontaktlinsen vergessen und der Schnee war zu hell.«
»Auch mit Sonnenbrille?«
»Ja. Verdammt, wo kommt dieser Geruch her?« Ich richtete mich wieder auf und sah mich um.
Max deutete auf die Kasse. »Hier stinkt es am meisten.«
»Stimmt.« Ich ging zurück zu den Stufen und rutschte direkt aus, als sich ein Dielenbrett unter mir lockerte.
Max reagierte sofort und fing mich auf, bevor ich auf dem Boden aufkam. Er hielt mich fest und mein Gesicht wurde gegen seine Achsel gedrückt. »Hattest du gestern wieder Streit mit Neil?«
»Wieso?« Ich wartete auf seine Erklärung und versuchte, mich aus seinem haltenden Griff zu befreien.
»Du ziehst heute schlechtes Karma an.«
»Es war kein Streit. Es war … Weißt du was? Ich werde nicht darüber reden, während der Geruch von Verwesung meinen Laden durchzieht.« Ich drehte mich um und beugte mich hinunter, um das lose Brett zu begutachten. Eine schlechte Idee. Der beißende Geruch von Verwesung stieg in meine Nase und ich musste den Drang zu würgen unterdrücken.
»Ich glaube, du hast es gefunden«, raunte Max und blickte über meine Schulter auf den Fußboden. »Ich hole eine Tüte.«
Ich nickte still, hielt meine Nase zu und starrte in das Loch im Boden. Es, das Ding, war nicht dunkel wie eine tote Ratte. Es machte mir nicht den Anschein, als hätte es Fell, aber es wäre gelogen, wenn ich sagen würde, dass ich einen guten Blick für Details hatte. »Max? Komm mal her.«
»Was?« Seine Stimme drang aus dem kleinen Büro, aus dem er kurze Zeit später mit einer Mülltüte bewaffnet zurückkehrte. »Was gibt’s?«
»Sieh dir das mal an.«
»Oh komm schon, dafür zahlst du mir nicht genug.«
»Nein, ich denke nur nicht, dass es eine Ratte ist.«
Max kniete sich hin und warf einen kurzen Blick in das Loch, bevor er sich schnell zurücksinken ließ. »Was zum Teufel?«
Ich starrte den Boden an. »›Reißt die Dielen auf! Hier! Hier! Es ist das grauenhafte Klopfen seines Herzens!‹«
»Was?«
»Poe«, antwortete ich.
»Gott, du bist so seltsam, Seb«, murmelte Max.
»Was soll ich sonst sagen?« Ich deutete auf das verrottende Fleisch. »Es ist ein Herz.«
»Wen hast du umgebracht?«
»Ich rufe die Polizei.«
Dem Beamten am Telefon erklären zu müssen, dass ich die Polizei nicht wegen einer Leiche rief, sondern weil es irgendwo eine Leiche gab, der ein wichtiger Teil fehlte, war mit Sicherheit das Seltsamste, das ich je getan hatte. Zugegebenermaßen hatte die Situation mein Interesse geweckt, allerdings gab es 101 andere Dinge in meinem Leben, für die ich keinerlei Motivation verspürte; und jemandes verwesendes Herz unter meinem Fußboden zu finden, schoss direkt an die Spitze dieser Liste.
Max versprühte fast eine ganze Dose Lufterfrischer, während wir auf die Polizei warteten. »Riecht nach frisch gewaschener Kleidung«, bemerkte er und fing an die Schrift auf der Dose zu lesen.
»Oh, sehr gut«, sagte ich.
»Frische Wäsche und Tod«, korrigierte Max sich nach einer Pause. »Manchmal möchte ich auch lieber sterben, als meine Schmutzwäsche zum Waschsalon bringen zu müssen.«
»Max«, seufzte ich.
»Sorry.«
Ich verschränkte meine Arme, blickte in den hinteren Bereich des Ladens und sah den Berg an Kartons, den ich dort hatte stehen lassen. Wenn neue Ware bei uns ankam, mussten wir die Gegenstände gewissenhaft prüfen, mit einem Preis versehen und im Laden platzieren. Wenn etwas zu wertvoll war, um es einfach im Laden auszustellen, legten wir es für Auktionen beiseite. Die Kartons, und ein paar weitere, die ich in meiner Wohnung gelagert hatte, waren schon dabei, einzustauben. So viel zu meinem Vorhaben, mich endlich darum zu kümmern.
Jemand klopfte an unsere Tür und ich stand auf, um sie aufzuschließen. »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, begann einer der uniformierten Polizisten. »Wir haben einen Anruf erhalten.«
»Es befindet sich ein Körperteil unter meinem Fußboden«, antwortete ich schnell und führte sie rasch durch die Gänge in Richtung Kasse. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Polizist am Telefon gedacht hatte, ich wäre verwirrt oder hätte eine Panikattacke. Diese Beamten waren offensichtlich hier, um mich zu beruhigen, aber sie folgten mir widerstandslos. Der Polizist nahm seine Mütze ab, als er vor dem Loch im Boden in die Hocke ging. Er blickte nur schnell hinein, bevor er den Kopf schüttelte und sich wieder aufrichtete.
»Brigg!« Er drehte sich zu seiner Partnerin um und sie kam ein bisschen näher.
Ich beobachtete die beiden, als sie kurz miteinander sprachen, bevor die Beamtin ihr Funkgerät in die Hand nahm. »Also«, sagte ich, »müssen wir den Katastrophenschutz holen oder so was?«
»Sagen Sie mir Ihren Namen?« Der Polizist griff nach dem Notizbuch, das an seinem Gürtel befestigt war.
»Sebastian Snow.«
»Und Ihnen gehört der Laden?«
»Ja.«
»Gehört Ihnen das Gebäude?«
»Nein, schön wär’s.«
Er sah auf. »Wann ungefähr hatten Sie das Gefühl, dass sich etwas im Laden befindet?«
»Meinen Sie … das?« Ich ließ meinen Blick Richtung Boden wandern. »Als ich die Tür heute Morgen öffnete. Ich konnte es riechen, das war so um sieben Uhr.«
»Hat noch jemand anderes Zugang zu dem Laden?« Der Beamte warf Max über meine Schulter einen Blick zu.
»Max hat die Schlüssel, aber ich bin der Einzige, der den Sicherheitscode kennt«, erklärte ich.
In Wahrheit hatte auch mein Partner Neil Millett, mit dem ich nun seit vier Jahren zusammen war, die Schlüssel und den Code, aber seinen Namen in der Gegenwart von Polizisten zu nennen, wäre ein bisschen kompliziert. Er war ein Kriminalbeamter bei der Spurensicherung der NYPD und weit davon entfernt, sich zu outen. So weit sogar, dass die einzigen Menschen, die wussten, dass wir zusammenlebten, Max und mein Vater waren. Neil wollte nicht, dass andere Polizisten wussten, dass er schwul war, und als ich mit 29 eine Schwäche für diesen sexy Kriminalbeamten entwickelt hatte, war mir das egal gewesen. Aber jetzt war ich 33 und es ging mir ein bisschen an die Substanz.
Der Polizist machte ein paar Notizen. »Haben Sie Kameras? Sie haben viele Gegenstände hier, die sehr teuer aussehen.«
»Ich habe eine, aber die hat vor einem Monat den Geist aufgegeben.« In letzter Zeit war ich ein bisschen mental angeschlagen und hatte nicht die Energie gefunden, mich um bestimmte Dinge zu kümmern, inklusive der Kamera. Was eigentlich überhaupt nicht in meiner Natur lag. Neil hatte es sich zur Aufgabe gemacht, meine angeschlagene Stimmung ständig zu thematisieren. Was mich nur noch wütender machte.
Der Beamte notierte sich meine Kontaktdaten und fragte dann auch nach Max’. Es folgten noch ein paar Fragen, bevor Brigg zwei Polizisten durch den Laden führte, die keine Uniform trugen. Als ich mich nun in dem überfüllten Gang umsah, bemerkte ich, dass noch eine Frau hereingekommen war, die einen medizinisch aussehenden Koffer bei sich trug.
Ohne Vorwarnung wurde die Deckenbeleuchtung eingeschaltet und der ganze Raum verschwand. Ich bedeckte schnell meine Augen und wandte mich ab. Ich stolperte und tastete herum, um Halt am Tresen zu finden. Max, der versuchte, das Herz und die Polizei zu meiden, reichte mir schnell meine Sonnenbrille, als jemand meinen Namen rief.
»Mr. … Snow, richtig?«
Ich drehte mich zu der Stimme um, während ich meine Sonnenbrille aufsetzte, und stellte fest, dass noch zwei weitere Polizisten eingetreten waren. Die Frau, die mich angesprochen hatte, war vielleicht in meinem Alter und konnte nicht viel größer als 1,50 m sein. Der Mann war groß und breit und es war offensichtlich, dass er unter seinem Anzug sehr muskulös war. Er sah älter aus als Neil, der 37 Jahre alt war, und seine Haare waren hell, also ging ich von blond aus. Schnell verengte ich meine Augen, um ihn besser sehen zu können. Er hatte Sommersprossen. Viele davon. Irgendwie hatte ich eine Schwäche für Männer mit Sommersprossen. Wangen, Nase, Stirn, er hatte sie überall, was ihn auf den ersten Blick sehr lieb erscheinen ließ. Vielleicht waren seine Haare doch rot.
»Sebastian Snow«, bestätigte ich.
Die Beamtin streckte mir ihre Hand entgegen. »Ich bin Detective Quinn Lancaster und das hier ist mein Partner Detective Calvin Winter.«
»Uh, hi.«
Lancaster lächelte. »Wie läuft das Geschäft, Mr. Snow?«
»Kann nicht klagen«, sagte ich ein bisschen verwirrt. Es war interessant, eine Person ihrer Größe zu sehen, die so viel Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass ich mich niemals trauen würde, sie infrage zu stellen.
»Was können Sie mir über Ihre Kunden sagen?«
Ich zuckte mit den Schultern, bevor ich meine Arme verschränkte. »Normale Leute, manche haben viel Geld, manche suchen nach Kuriositäten. Anzugträger, Hipster, hier kommt jeder mal rein.«
Sie nickte. »Wäre es in Ordnung, wenn Sie Ihre Sonnenbrille abnehmen würden?«
»Kann ich nicht.«
Lancaster warf Winter einen kurzen Blick zu, bevor sie fragte: »Wieso nicht?«
»Ich bin lichtempfindlich. Wenn Sie die Deckenbeleuchtung ausmachen, kann ich sie abnehmen«, erklärte ich und deutete zur Decke.
Winter wandte sich ab und rief den uniformierten Beamten etwas zu. Das Licht ging aus und der Laden wurde wieder nur noch von den sinnvoll platzierten Stehlampen beleuchtet.
»Besser?« Lancasters Ton war weder spöttisch noch unfreundlich, was ich zu schätzen wusste.
Ich schob die Sonnenbrille nach oben, sodass sie auf meinem Kopf saß, und setzte meine normale Brille wieder auf. »Danke«, sagte ich schnell.
»Das nennt man Photophobie, oder?«
»Ich habe Achromatopsie.«
»Verstehe.« Sie fragte mich nicht nach Einzelheiten. »Ist Ihnen in den letzten paar Wochen etwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Nicht wirklich.«
»Wer hat das Körperteil gefunden?«
»Ich, als ich reingekommen bin. Es hat furchtbar gestunken und ich habe versucht, herauszufinden, woher der Geruch kommt.«
»Hatten Sie vor Kurzem einen Einbruch oder wurden Gegenstände gestohlen?«
»Nein«, antwortete ich. »Was ist hier los? Ich gehe davon aus, dass das hier etwas Größeres ist, sonst würden Sie mich nicht so ausfragen.«
»Warum denken Sie das?«
Ich lebe mit einem Polizisten zusammen, wollte ich sagen. Vier Jahre mit Neils Geschichten hatten bei mir ein, zugegebenermaßen ungesundes, Interesse an Whodunit-Mysterien geweckt. Statt das zu sagen, zuckte ich nur mit den Schultern.
Zum ersten Mal meldete sich Winter zu Wort. »Kennen Sie Bond Antiquitäten?«
»Ja, der Laden ist an der Kreuzung zwischen der Bond Street und Lafayette«, erwiderte ich.
»Wie würden Sie Ihre Beziehung zu dem Besitzer beschreiben?«
»Ich weiß nicht, was das mit der Situation zu tun hat«, bemerkte ich. »Mike Rodriguez und ich kennen uns seit einer ganzen Weile.«
»Kommen Sie gut miteinander aus?«
»Er ist meine Konkurrenz. Was ist los?«
»Sebastian«, rief auf einmal eine vertraute Stimme nach mir.
Ich ignorierte Detective Winter und sah an ihm vorbei. Neil bahnte sich seinen Weg zu mir und befreite seinen Mantel von Schnee. Ich war sowohl glücklich als auch frustriert, ihn zu sehen. Schließlich hatte ich ihn nicht angerufen, um ihm zu erzählen, was passiert war, also gab es eigentlich keinen Grund für ihn, hier zu sein. Fragend drehte ich mich zu Max um, doch dieser hob abwehrend seine Hände und schüttelte den Kopf.
»Was ist los?« Neil sah mich durchdringend an, als er bei uns angekommen war. Er wandte sich den beiden anderen Detectives zu und zog seine Dienstmarke aus seiner Manteltasche hervor. »Detective Millett, CSU.«
Lancaster schien nicht interessiert zu sein. »Detective Lancaster, Mordkommission«, antwortete sie mit einem kurzen Kopfnicken. »Mein Partner, Winter. Wir haben noch keine Spurensicherung angefordert.«
»Mordkommission?« Sicher, theoretisch bedeutete ein Herz ohne Körper etwas Düstereres als einen Medizinstudenten, der seinen Kurs nicht bestehen konnte, weil seine sowieso schon verstorbene Testleiche kein Herz mehr hatte. Aber das Wort Mord zu hören, schockierte mich dann doch. Mein Blick fiel auf Neil, der ein bisschen nervös und besorgt zu sein schien. Für eine Minute freute ich mich, weil er um mich besorgt war. Mit einem Schlag verflog der ganze Ärger, den ich Neil gegenüber dachte zu haben, und ich wollte ihn einfach nur umarmen.
»Sebastian ist … ein Freund«, sagte Neil schließlich.
»Freund«, wiederholte Winter in einem Ton, der mir nicht sonderlich gefiel.
»Er rief mich an.«
Verdammt, Neil. Er war so fest davon überzeugt, seine Autorität zu verlieren, nur weil er außerhalb der Arbeit ein normales Leben führte, dass ich nach vier Jahren immer noch nur ein Freund war.
»Wir sind gerade dabei, Mr. Snow ein paar Fragen zu stellen«, sagte Winter, bevor seine Augen wieder zu mir wanderten. Sein Blick war intensiv genug, um mich bis auf meine Knochen auszuziehen. »Sonntagnacht wurde bei Mr. Rodriguez eingebrochen.«
»Das tut mir leid zu hören«, sagte ich und wandte mich endlich von Neil ab. »Wurde etwas gestohlen?«
»Die Ermittlungen dauern noch an. Er hat aber Sie beschuldigt.«
»M-Mich?« Ich war überrascht. »Was …? Mike denkt, ich sei bei ihm eingebrochen?«
»Warum würde er das behaupten?«, fragte Winter.
»Keine Ahnung«, sagte ich schnell.
Da meldete Lancaster sich wieder zu Wort. »Wo waren Sie Sonntagnacht? Nach acht.«
Neils Verzweiflung konnte ich im ganzen Körper spüren. Ich war mit ihm zu Hause gewesen. Gegen acht hatten wir es gerade miteinander getrieben, bevor sich das Ganze vorzeitig in einen Streit verwandelt hatte, der bis neun gedauert hatte. Dort war ich gewesen. »Daheim«, sagte ich einfach. »Okay, ich beantworte keine Fragen mehr ohne einen Anwalt. Ich habe angerufen, weil ich ein menschliches Herz in meinem Laden gefunden habe, und jetzt beschuldigen Sie mich, jemanden ausgeraubt zu haben.«
Neils Hand war an meinem Ellbogen und er nahm mich beiseite. Er zerrte mich bis zum anderen Ende des Ladens und drehte sich zu mir um. »Was zum Teufel geht hier vor sich?«, flüsterte er.
»Was hier vor sich geht? Was tust du hier?«
»Ich bin Polizist, Sebby.«
»Nenn mich nicht so.«
»Was für ein menschliches Herz? Wieso hast du mich nicht angerufen?«
Es war mir, ehrlich gesagt, gar nicht in den Sinn gekommen, Neil anzurufen. Ein, zwei Jahre zuvor wäre es vielleicht meine erste Reaktion gewesen, meinen Freund von der Polizei anzurufen, um dieses kleine Problem zu klären. Doch jetzt hatte ich diesen Gedanken überhaupt nicht gehabt. Das war beunruhigend. »Nette Lüge, die du da erzählt hast, übrigens«, sagte ich, statt ihm zu antworten. »Ich hab dich angerufen? Wieso zum Teufel bist du hergekommen, wenn nicht, um für mich da zu sein?«
»Hör auf«, flüsterte er. »Wir fangen diesen Streit nicht noch mal an.«
»Geh zurück an die Arbeit, Neil. Alles ist gut«, sagte ich.
»Du hast nicht …?«, er zögerte.
»Ihnen von uns erzählt? Nein. Ich weiß mittlerweile Bescheid.«
Neil knirschte mit den Zähnen. Er sah wütend aus. Er drehte sich zu den anderen Polizisten um und fragte: »Ist das Calvin Winter?«
»Was? Ja, wieso?«
»Pass auf, was du zu ihm sagst.«
»Wieso, Neil?«
»Weil ich gehört habe, dass er homophob ist«, sagte er.
Ohne nachzudenken, antwortete ich: »Du bist homophob.«
Neil sah wieder zu mir, mit einem komischen Gesichtsausdruck, den ich nicht deuten konnte. »Nett, sehr nett, Sebby«, murrte er nach einem Moment.
Ich konnte es nicht zurücknehmen, aber als ich zu Neil aufsah und an all unsere kürzlichen Auseinandersetzungen dachte, war mir das eigentlich ziemlich egal. »Geh wieder an die Arbeit«, sagte ich noch mal. »Wir reden zu Hause, hinter verschlossenen Türen.« Ich machte ihn wütend und ich konnte nicht damit aufhören. Keine Ahnung, was in mich gefahren war, aber Neil und ich stichelten schon seit Wochen gegeneinander. Entweder provozierte ich ihn oder er sagte Dinge, die mir unter die Haut gingen. Das war noch nie zuvor passiert.
Neil sagte nichts mehr. Er drehte sich um, während er seinen Mantel schloss, und lief still und leise an den anderen Polizeibeamten vorbei, als er den Laden verließ.
Ich atmete tief ein. Hatte ich das wirklich gerade gesagt? Zu dem wichtigsten Mann in meinem Leben? Frustriert schob ich meine Brille wieder ein Stück nach oben, nachdem sie auf meiner Nase heruntergerutscht war. Lancaster stand bei der Frau mit dem Medizinkoffer und lächelte, als sie langsam auf mich zukam.
»Gute Neuigkeiten, Mr. Snow.«
»Oh?«
»Es ist nicht menschlich.«
Wer, Neil?
»Das Herz?«
»Es ist das Herz eines Schweins«, sagte sie.
»Eine kleine Erleichterung.« Ich atmete nochmals tief ein und hatte das Gefühl, hart daran arbeiten zu müssen, entspannt zu bleiben. »Also kann ich den Laden aufmachen?«
»Es hat kein Verbrechen stattgefunden. Es scheint, als wollte Ihnen jemand einen Streich spielen. Ich schlage vor, Sie investieren in ein besseres Sicherheitssystem.«
Kein Verbrechen. Meine Intuition sagte etwas anderes. Zwei Detectives von der Mordkommission waren sofort hier aufgeschlagen und hatten mit mir Fragerunde gespielt. Nicht nur wegen des armen Schweins, sondern auch wegen Mike Rodriguez. Letzteres fand ich immer noch extrem seltsam. Wieso würde die Polizei die Zeit von Detectives verschwenden, wenn dabei nichts herumkam? Und das erklärte auch noch nicht, wie das Schweineherz überhaupt in meinen Laden gekommen war.
Lancaster bedankte sich für meine Zeit und ich murmelte irgendetwas zurück. Sie wandte sich ab, um mit der Gerichtsmedizinerin zu gehen.
Anders als Winter, der statt auf den Ausgang, auf mich zukam. »Ihr Freund machte einen eher unglücklichen Eindruck.«
Ich legte meine Stirn in Falten und blickte auf. Während ich etwas kleiner war, nur um die 1,80 m, waren Neil und Winter gut einen halben Kopf größer. Neil war schmal, so wie ich, was im starken Kontrast zu Detective Winters muskulöser Statur stand. Er war mir gerade nahe genug, sodass ich seine Sommersprossen sehen konnte, die für mich wie kleine graue Schönheitsflecken aussahen. Noch besser könnte ich sie betrachten, wenn ich näher bei ihm stünde oder sein Gesicht durch eine Lupe ansähe. Beides war übrigens etwas, was ich nicht empfehlen würde, wenn man jemanden gerade erst kennengelernt hatte. Im Vergleich dazu waren seine hellen Augen so strahlend und klar, dass sie mich fast ein wenig nervös machten. Sie erinnerten mich an die Kristalle, die man im Natural History Museum bestaunen konnte. Sie waren wunderschön, aber schienen müde zu sein. Fast, als hätten sie etwas gesehen, was ihn stetig auslaugte und abgehärtet hatte. In Winters Gegenwart fühlte es sich an, als würde die ganze Luft aus dem Raum gesogen werden. Es war sowohl einschüchternd als auch beruhigend, in seiner Nähe zu sein. Außerdem roch er gut. Ein bisschen würzig vielleicht. In jedem Fall ganz anders als Neils Parfum.
»Ich bin nicht bei Mike eingebrochen«, sagte ich noch einmal.
Sein Blick wanderte zu den Kartons hinter mir. »Was ist das alles?«
Schnell sah ich über meine Schulter und dann wieder zu ihm. »Neue Ware.«
»Woher stammt sie?«
»Bond Antiquitäten«, antwortete ich. »Ich habe sie von einer Nachlassauktion.«
Er griff in seine Jackentasche und ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn er seine Pistole herausgeholt hätte, wenn ich bedachte, wie frei ich mit ihm sprach. Stattdessen gab er mir seine Visitenkarte. »Falls Ihnen noch etwas einfällt.«
»So etwas wie, dass ich ein paar Schweine umgebracht habe?« Ich ließ die Karte schnell in meiner Hosentasche verschwinden.
»Haben Sie noch einen schönen Tag, Mr. Snow.« Er drehte sich um und verließ den Laden.
Der Schneesturm schien Kunden davon abzuhalten, mein Geschäft aufzusuchen. An jedem anderen Tag würde ich mir Sorgen machen, denn so kurz vor den Feiertagen war es wichtig, gute Verkaufszahlen zu haben. Aber ich konnte mich auf nichts konzentrieren, was mit dem Imperium zu tun hatte. Mein Salat, den ich neben mir an der Kasse abgestellt hatte, ertränkte sich langsam im Vinaigrette-Dressing, nachdem ich nur die Hälfte hatte essen können.
»Wie wäre es mit einer Bifokalbrille?«
Ich blickte auf und sah, dass Max mich anstarrte, bevor er sich einen zweiten Stuhl holte und sich zu mir setzte. »Was?«
»Die Lupe ist ein bisschen komisch. Du holst sie aus deiner Tasche, als seiest du ein altmodischer Detektiv.«
»Ich bin mal die Treppen hinuntergestolpert, als ich jünger war und eine Bifokalbrille getragen habe«, antwortete ich, während ich die Lupe weglegte und irgendwelche Dokumente und Rechnungen auf einen Stapel sortierte. »Hab mir meinen Arm gebrochen.«
»Autsch.« Max begann, mit der Gabel in der Schüssel in meinem Salat herumzurühren. Bestimmt hatte er vorgehabt, mir mein Mittagessen zu klauen. Doch bei dem traurigen Anblick, den mein Salat bot, musste er seine Meinung geändert haben. Stattdessen fragte er: »Also, wieso war Neil hier?«
»Weiß ich nicht.« Ich stand auf, brachte die Post in das kleine Büro und legte sie dort auf den Tisch. Die morgendliche Aufregung beschäftigte mich sehr. Normalerweise hatte ich montags geschlossen, doch die näher rückenden Feiertage brachten mich oft dazu, meine üblichen Öffnungszeiten zu ändern. Das bedeutete, dass ich gestern geöffnet hatte. Als ich den Laden letzte Nacht kurz nach sechs abgeschlossen hatte, hatte das jemandem 13 Stunden Zeit gegeben, um einzubrechen.
Max und ich verbrachten den restlichen Vormittag damit, unser Inventar durchzugehen, um festzustellen, dass offenbar nichts entwendet wurde. Das war, was mich am meisten irritierte. Wieso sollte jemand in ein Antiquariat einbrechen und den Sicherheitsalarm ausschalten, nur um dann nichts zu stehlen? Das hieß, dass jemand eingebrochen war, ein verwesendes Schweineherz unter meinem Fußboden platziert hatte und wieder verschwunden war, ohne auch nur einen alten Knopf mitzunehmen. Noch mehr störte mich die Sache mit Mike Rodriguez. Ich hatte für Mike ein paar Jahre lang gearbeitet, bevor ich meinen eigenen Laden eröffnet hatte. Ich respektierte sein Wissen und den Erfolg seines Antiquariats, denn er war seit mehr als zwanzig Jahren in diesem Geschäft, aber er war ein griesgrämiger alter Mann. Er mochte mich nicht wirklich, als ich für ihn gearbeitet hatte, und ich war mir ziemlich sicher, dass er sich ein wenig verarscht gefühlt hatte, als ich mit allem, was ich bei ihm gelernt hatte, schließlich meinen eigenen Laden eröffnet hatte. Mike hatte sich auf kostbarere Antiquitäten spezialisiert. Georgische und viktorianische Möbel, Kleidung, Gemälde und andere Kunstgegenstände. Mein Interesse lag woanders. Das Imperium war voller Bücher, alter Dokumente, Landkarten, Fotos und anderen Dingen aus vergangenen Jahrhunderten. Die Menschen mochten seltsame und skurrile Gegenstände, wie einen viktorianischen Handschuhspanner oder Tränenfläschchen. Das Imperium war ziemlich erfolgreich nach nur ein paar Jahren im Geschäft und ich vermutete, dass Mike beleidigt war.
Ich verließ das Büro, lehnte mich an den Türrahmen und verschränkte meine Arme. Mike und ich waren nicht unbedingt gut aufeinander zu sprechen, jedenfalls schickten wir uns keine Weihnachtskarten, aber wie zum Teufel kam er zu dem Schluss, dass ich der mögliche Einbrecher sein könnte? Hatte er drei Jahre gewartet, um sich an mir zu rächen? Es war nicht einmal Rache, es war vielmehr eine Beleidigung meiner Integrität und Person.