Kann Mahler Monroe lieben?

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Aus der Reihe: Gerstenmayr ermittelt #1
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Über die Donau

In Wien durchkämmte Gerstenmayer mühsam die Ruinen des Rennwegs in Richtung Nordost. Es war ein kalter Herbsttag. Zum Glück regnete es nicht, obwohl der Himmel voller grauer Wolken hing. Bei Regen war es besonders gefährlich, sich im Freien zu bewegen. Je nachdem, ob die Wolken aus Westen vom Atlantik, noch halbwegs unbelastet, oder eher aus Süden vom stark verseuchten Mittelmeer kamen, brachten Niederschläge gewaltige neue Radioaktivitätsmengen. An den darauf folgenden Tagen hatten die Leichengräber wieder viel Arbeit, denn nach dem neuerlichen Fall-out starben vor allem ältere Menschen wie die Fliegen.

„In den vorangegangenen Tagen war es viel wärmer; der begleitende Dauerregen muss wohl von Süden gekommen sein“, spekulierte Gerstenmayer so vor sich hin.

Früher hatte es ja stündliche Wetterprognosen gegeben, aber das war einmal. Jetzt mussten sie ihre Prognosen aus einigen eigenen Beobachtungen selbst machen!

Warum musste dieser Nahost-Konflikt dermaßen eskalieren und ausgerechnet das Mittelmeer so hoch verstrahlen? Je mehr sich Gerstenmayer diese Fakten zusammenreimte, desto wütender wurde er.

Hatte es jetzt auch den Boss erwischt? Was würde aus ihren Jobs werden, wenn er nicht mehr da sein sollte? Er war der alleinige Wissens-träger! Er, der sie bisher so erfolgreich durch diese miese Zeit geführt hatte. Wie oft hatte er der Belegschaft erlaubt, im Keller zu bleiben, ja sogar tagelang zu übernachten, wenn ein tödlicher Dauerregen her niederging, den der warme Südostwind brachte? Erst wenn der Wind drehte und aus Westen kam und der noch wenig belastete Atlantikregen den radioaktiven Dreck wieder in die Gullys gespült hatte, gingen sie wieder ins Freie. Auch wenn ihre Behausungen dann geplündert waren, weil sie sie am Abend nicht hatten bewachen können. Aber immerhin sie hatten doch wieder ein Stück Leben gewonnen.

Gerstenmayer erwachte aus einem Tagtraum, als er an die Donau kam. Die große, schwere Brücke, die einmal die U-Bahn und die Autobahn über den Fluss geleitet hatte, war zerstört, hing an zwei Stellen in das Wasser hinunter und war auch für geübte Kletterer unpassierbar. Stattdessen lagen kleine Kähne am Ufer, die man gegen etwas Essbares mieten konnte. Das Fährgeschäft war ausschließlich in der Hand der Chinesen, denn eine Art chinesische Mafia beherrschte die Szene. Immer wieder hörte man von Schutzgelderpressungen und ermordeten schlitzäugigen Fährmännern, wobei nicht klar war, ob das eine unnatürliche Folge dessen war, dass Unbeugsame von der Organisation gezwungen wurden, verstrahltes Wasser als Vergeltungsmaßnahme zu trinken, oder ob es der normale Fall-out nach einem dieser warmen Südregen war. Wer konnte das heute unterscheiden? Eine zuständige Polizei in einer menschenleeren Großstadt wie Wien gab es zwar auf dem Papier, aber die labortechnischen Hoch-Zeiten der Forensik waren mit der Katastrophe untergegangen.

Schreiende, kleine Chinesen mit langen, zerzausten Bärten stürmten auf Gerstenmayer ein und wollten ihm ihre Fährdienste anbieten. Gott sei Dank, dass er sein Frühstücksbrot heute nicht gegessen hatte! So reichten eine Hälfte und ein halber Apfel für das erste Übersetzen. Den Rest brauchte er für den zweiten Fährmann hinter der Donauinsel und den Rückweg. Der kleine, alte Fährmann schlang das Essen aus Hunger sofort in sich hinein, dann nahm Gerstenmayer Platz und wurde hinüber gestakt. So hatte er sich ‚Vasudeva‘, den Fährmann aus der indischen Welt von Hermann Hesse, dem Erfinder des Glas-perlenspiels, immer vorgestellt, von dem er einmal gelesen hatte. Dieser hier war aber definitiv kein Inder, denn er hatte Schlitzaugen. Würde ihm dieser verstrahlte Fluss auch etwas vom Leben erzählen, wie es im Roman von Hesse so poetisch geschildert wird? Oder können aus dem Plätschern des Wassers nur verrauschte Durchsagen der Radioaktivitäts-Pegel zu verste-hen sein? Für andere Mitteilungen gab es in dieser Gegenwart keine Zeit.

Konnte man diesem ‚Vasudeva‘ trauen? Das Übersetzen war immer ein Risiko, denn es gab wohl auch Fälle, bei denen unredliche Fährmänner ihre Passagiere in der Mitte des Flusses ausraubten und über Bord warfen, was den sicheren Strahlentod bedeutete angesichts der bestehenden Belastung des Donauwassers. Einige Fähren waren mit Blei verkleidet, so auch der Kahn, den Gerstenmayer gewählt hatte. Dies bot den Fahrgästen, aber auch den Fährleuten einigen Schutz vor der radioaktiven Strahlung. Ansonsten war die Lebenserwartung der Flusschinesen nicht sehr hoch.

Gerstenmayer war dennoch froh, das andere Ufer zügig und heil erreicht zu haben. Drüben erwarteten ihn die hohen Schuttmulden der ehemaligen UNO-City in der Wagramer Straße. Die hohen Wolkenkratzer waren durch die Katastrophe alle besonders in Mitleidenschaft gezogen worden, zumal arabische Selbstmord-Terror-Kommandos schon vorher mit einer kleinen Neutronenbombe das IAEA-Headquarter, den Sitz der Atomkontrollkommission, in die Luft gejagt hatten. Deshalb sah es hier in dieser Gegend so besonders verheerend aus. Gerstenmayer folgte den schmalen Wegen durch die Ruinen und war jetzt nahe der Stelle, wo er die Wohnung Prof. Baums vermutete. Die musste doch irgendwo zwischen der Bernstein-Straße und dem Bruno-Kreisky-Platz gewesen sein? Es war schon lange her, dass Baum ihn gebeten hatte, mit nach Hause zu kommen, um ihm einen Artikel auszuhändigen.

Die Gegend dort war menschenleer. Gerstenmayer wollte jemanden dort fragen, aber er fand niemanden. Weiter weg schaute ein Mann mit einem schwarzen Ledermantel zu ihm herüber. „Hatte ich den nicht schon einmal gesehen?“, fragte er sich selbst und ging auf ihn zu. Aber im nächsten Augenblick war der Mann um eine Litfaßsäule herum gegangen, als wollte er unsichtbar bleiben. Dort angekommen, trat Gerstenmayer hinter die Säule, sah aber nie-manden mehr. „Habe ich geträumt?“, fragt er sich und setzte dann die Suche nach Prof. Baums Wohnung fort, an die er sich kaum noch erinnern konnte.

Die erste Türe, an die er klopfte, wurde nicht geöffnet und niemand antwortete. Die Tür war nicht verschlossen. Er drückte sie auf und ein Schwall Leichengeruch kam ihm entgegen. Auf einer Art Sofa lagen zwei alte Menschen und hielten sich einander die Hände. Die Ratten hatten mit der Wiederverwertung der Körperteile schon begonnen. Es waren besonders große Exemplare mit glattem, glänzendem Fell! Gerstenmayer zwang sich, den Mann näher zu betrachten. Konnte der Mann, der da saß Prof. Baum sein? Er scannte den toten Körper visuell ab, aber er fand keine positiven Übereinstimmungen. Angeekelt drückte er die Tür wieder zu und hielt den Atem an, um dem Gestank zu entgehen. Die nächste Wohnung, die er öffnete. war zu seinem Erstaunen vollständig durchwühlt. Überall waren beschriebene Blätter verstreut. Schränke und Schubladen gab es in der Wohnung nicht, aber sehr viele Kartons, die zuvor ordentlich und sicher einmal mit einer durchdachten Systematik aufgestapelt worden waren. Doch jetzt lagen alle kreuz und quer, als hätte hier jemand etwas gesucht. Gerstenmayer konnte sich nicht vorstellen, dass sein Boss in einem solchen Chaos wohnen sollte. Offensichtlich war Baum schon lange nicht mehr hier in seiner Wohnung gewesen. Wo war er? Um der Beantwortung dieser Frage etwas näher zu kommen, legte Gerstenmayer Mantel und Schal ab und schaute sich die herumliegenden Papiere genau-er an. Vielleicht fand er hier einen Anhaltspunkt. Aber es viel ihm zunächst nichts Verdächtiges auf. Plötzlich jedoch stieß er auf eine Kopie eines Schreibens, das ihm die Sprache verschlug. Er setzte sich, las noch einmal langsam. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Konnte das wirklich wahr sein? Er war von seiner Entdeckung so fasziniert, dass er gar den verschwundenen Prof. Baum völlig vergaß und nur noch seiner Entdeckung nachging.

Allmählich wurde es dunkel, und Gerstenmayer fiel das Lesen in der düsteren Wohnung schwer. Er schaute auf die Uhr und erschrak. „Ich sollte mich auf den Heimweg machen. Bei Dunkelheit sollte man die Fährchinesen meiden“, dachte er sich, raffte einige der wichtigsten Papiere zusammen, zog seine Kleider an und ging – immer noch verblüfft wegen seiner außerordentlichen Entdeckung – zurück.

Grinder spielt Orgel

„Go – o – o – o – olie, Go – o – o – o – olie! Golie, wo bist du?“, rief ich in Richtung Dorf.

Nichts rührte sich. Es wurde schon dunkel, und ich begann mir Sorgen zu machen. „Er wird wohl wieder bei Steffen sein“, beruhigte ich mich. Da aber der Föhn gerade am Zusammenbrechen war und danach wieder mit hoch belastetem Regen aus dem Süden zu rechnen war, zog ich schon einmal mein dichtes Regencape über und rannte in Richtung Klosterruine, um ihn zu suchen und noch vor dem Fall-out nach Hause zu holen.

Schon von weitem hörte ich die Orgel. Es war eine völlig andere Art von Musik, als ich sie bisher von Steffen kannte. Offensichtlich spielte heute jemand anderes und da musste ich mich nicht wundern, dass Golie nicht rechtzeitig nach Hause kam. Die Musik war wunderschön, ich hatte so etwas noch nicht gehört und ich war alles andere als ein Laie auf diesem Gebiet. Mein Vater hatte mich zur klassischen Musik herangeführt. Vielleicht war aber auch alles eine Frage der Gene. Er hatte meine Anlagen früh erkannt und mir gezeigt, wie schön gerade einfache Melodien sind und wie raffiniert sie zu Harmonien verwoben werden konnten, um sie dann in verschiedenen Tonarten zum Tanzen zu bringen. In jüngster Zeit, seit Golie sich dieser Kunst mit rasenden Schritten anzunähern versuchte, sah ich mich plötzlich auch in der Rolle der Lehrerin vor allem auch in dem Sinne, dass ich analytisch sein Potential auslotete und versuchte, ihn zusätzlich möglichst optimal zu fördern.

 

Mein Vater hatte eine große Musiksammlung besessen: Schallplatten, CDs und sogar noch ein paar alte Tonbänder. Ich erinnere mich, dass er vor dem Super-GAU, als es noch Strom aus der Steckdose gegeben hatte, sich am Feierabend gerne mit einem Glas Rotwein immer in den gleichen Sessel gesetzt hatte. Von dort aus hat er dann eines seiner alten Bänder umständlich in seine TEAC-Maschine eingefädelt, um sich dann vollständig der Musik hinzugeben. Was die Bänder anbelangte, hatte er dann nicht nur im Reich der Klänge, sondern auch im Reich seiner Erinnerungen geschwebt, weil er alle Aufnahmen irgendwann einmal persönlich aus dem Radio aufgenommen hatte. Während seines Studiums hatte er mit dem Musiksammeln begonnen, jetzt waren einige Raritäten für ihn dabei gewesen: Salzburger oder Bayreuther Festspiele, die einige Jahrzehnte zurückgelegen hatten.

War es diese neue Musik, die mich jetzt an jene alte Zeiten erinnerte und mich so tagträumen ließ? Hatte mein Vater gar dieses Stück, das jemand hier auf der Orgel spielte, damals auch gehört? Ich konnte es nicht ausschließen, aber auch nicht bejahen. Denn damals war ich noch zu klein gewesen. Es klang eigentlich nicht wie ein Orgelstück – es war mehr wie eine Symphonie, die jemand notgedrungen auf der Orgel spielte, weil es keine Orchester mehr gab.

Ich trat in die Kirchenruine unter die Zeltplane ein, schaute nach oben und erkannte am Orgelpult den Fremden mit der hohen Stirn; Steffen stand daneben.

Sein Anblick versetzte mir einen Stich und mein Herz begann heftiger zu schlagen. Krampfhaft versuchte ich meinen Verstand wieder zu gewinnen.

„Sicher tritt Golie den Blasebalg“, dachte ich bei mir. Dann fiel mir auf, dass keinerlei Noten auf dem Spielpult lagen. Der Fremde schien die vielen Noten wohl alle auswendig zu kennen? ‚Welch ein Genie!‘, dachte ich mir und erinnerte mich gleichzeitig auch daran, wie schnell Golie doch inzwischen Melodien aufnehmen und mit seiner kleinen Weidenflöte wiedergeben konnte. Aber was war eine einstimmige Melodie gegen fünf Orgelmanuale, die Fußpedale mit eingerechnet? Die Akustik unter der Zeltplane war schon eigenartig: gedämpft wie in einem trockenen Studio. Der Resonanzkasten der Orgel, den der herrliche barocke Kirchenraum einst dargestellt hatte, fehlte jetzt und wurde durch die Plane ersetzt, die wie ein schallschluckendes Element wirkte. Die Orgeltöne verpufften im Nichts. Dennoch war diese Musik nicht ohne Reiz.

Dann erklomm ich die Leiter auf die Empore. Als mich Steffen sah, da deutete er mir unwirsch mit seinem Zeigefinger auf dem Mund, dass ich mucksmäuschenstill sein sollte. Leise lief ich um das Spielpult herum, schaute durch die offene Orgeltüre. Gleichzeitig konnte mein Blick nicht von Grinder lassen, der genau spürte, wie ich ihn mit Blicken verzehrte, aber sich nichts anmerken ließ. Auf dem Orgelpult lag seine schwarze Reitgerte.

Golie trat verzückt von der Musik den Blasebalg und bemerkte meinen Blick überhaupt nicht. Ich wiederum war neben Grinder von seiner Andacht fasziniert. So blieben wir jeder an seiner unseren Position stehen, verharrten still und hörten dem Fremden zu, der eine neue Musik zu spielen schien.

Plötzlich krachte es draußen. Ein Gewitter schien aufzuziehen. Ein Blitz erhellte grell die Szenerie, und wieder krachte es laut. Dann prasselte der radioaktive Regen aus dem Süden herunter. Der Fremde beendete sein Spiel und schaute skeptisch auf die Dachkonstruktion.

„Das ist schon dicht hier, dafür habe ich gesorgt“, kam Steffen dem Fremden zuvor. „Ach, übrigens, wir haben Besuch bekommen. Darf ich vorstellen? Das ist Maria-Luise. Wir nennen sie hier ‚Mary Lou‘. Wir hatten uns schon einmal kurz gesehen. Sie ist die Mutter des kleinen Golie und hat sich sicher schon Sorgen gemacht, warum er heute noch nicht nach Hause gekommen ist.“

Mir blieb das Herz stehen, als mich sein Blick traf und er instinktiv, die Reitgerte in die Hand nahm. Machte ich ihn etwa auch nervös?

„Ach, meine Mutter hat sicher Verständnis“, fiel plötzlich Golie ein, der hinten aus dem Orgelkasten hervor gekommen war, als die Musik aufgehört hatte. Er strahlte über das ganze Gesicht. Steffen stellte mir den Fremden vor: „Das ist Herr Grinder. Stell dir vor, er ist aus Wien zu uns hierher gekommen. Diese weite Strecke – und das nur wegen der Orgel. Es hat sich in der Musikszene schon herumgesprochen, dass wir hier in unserem kleinen Polling noch eine oder besser gesagt: wieder eine funktionierende Orgel haben. Howard Grinder ist Musiker.“

Der Fremde kam mir dominant entgegen und schüttelte mir edel die Hand.

"Schön, dich kennenzulernen", sagte er ziemlich frech gleich mit einem ‚Du‘. Aber für mich klang es völlig vertraut und so verführerisch.

„Sie haben eben wunderbar gespielt. Kann es sein, dass mir mein Vater diese Musik vor der Katastrophe schon einmal vorgespielt hatte?“

Ich merkte, dass ich, wie ein Backfisch, ver-suchte, bei ihm Eindruck zu schinden und mit meinen Musikkenntnissen bei ihm punkten zu wollen.

Er sah mir tief in die Augen als er wie beiläufig antwortete: „Ach, ich habe nur etwas improvisiert, bin aber so, froh hier zu sein. Diese Orgel ist wunderbar.“ Er strich mit der Reitgerte über das Orgelpult.

War es sein Blick, der meiner Erinnerung ganz plötzlich auf die Sprünge half? Denn da fiel es mir wieder ein, woher ich diese Musik kannte. Es war Mahlers 8. Symphonie, das Lieblingsstück meines Vaters, die ‚Symphonie der Tausend‘. Für mich gerade eher die Symphonie der Tausend Schmetterlinge!

In mir stiegen die alten Zeiten zu hause wie aus einem Nebel ins Bewusstsein. Allerdings mit einigen Unterschieden! Denn jetzt spielte ‚er‘ für mich diese Musik auf einer Orgel hier.

Er? Für mich? Ja, was für ein faszinierender Mann!

Aber ich wollte mit meiner Musikkenntnis nicht weiter angeben und schwieg zunächst. Will ich mich plötzlich unter ihm fügen?

Niemand führte das Gespräch fort und es wurde mir peinlich.

„Wollen Sie längere Zeit hier bleiben?“, fragte ich, nur um die Konversation nicht abreißen zu lassen. Ich spürte sehr ambivalente Gefühle dem Fremden gegenüber: Heiß und kalt!

„Wenn es sich einrichten ließe, würde ich bei diesem herrlichen Instrument schon gerne etwas bleiben. Soweit ich weiß, gibt es zwischen Wien und München kein besseres.“

Ich sah Steffen stolz lächeln und seine Gestalt schien etwas größer zu werden. Es war schließlich nur sein Verdienst, dass er, der auch vor der Katastrophe schon mit Orgeln, vor allem dem Stimmen dieser Instrumente, zu tun gehabt hatte, die Gelegenheit genutzt hatte, ihre volle Klangfülle wiederherzustellen.

„Wo sind Sie untergekommen?“, fragte ich in logischer Sequenz.

„Mein Fahrer, den ich nur mit seinem Paco gemietet hatte, ist heute nach München und dann weiter in Richtung Wien gefahren. Einstweilen bin ich bei Steffen untergekommen, aber sein Bett für uns beide… Das war schon eine beschwerliche Nacht! Mein Kreuz ist auch nicht das beste. Sie sind mir wegen meiner Offenheit bitte nicht böse, Steffen?“

Er kam von ‚Wolke sieben‘ seiner Musik langsam wieder herunter. War es nur die Musik? Was bildete ich mir ein?

„Kannst du uns nicht wegen einer bequemeren Unterkunft für ihn behilflich sein?“, flüchtete sich Steffen aus der Verlegenheit.

„Das ist schwierig hier im Dorf. Ich kann mich aber gerne einmal umhören. In welcher Form könnten Sie denn kompensieren?“, fragte ich.

Kompensieren, früher hatte man dazu ‚bezahlen‘ gesagt. Das war damals alles einfach gewesen: Man gab seine Kreditkarte oder hatte eine Summe Geldes bar, die als Gegenwert für Leistungen von allen akzeptiert wurde, vor allem, wenn das Geld aus den USA oder aus Europa kam. Aber heute, wo das Geld keinen Wert mehr hatte, verließen sich die Menschen lieber auf reale Sachwerte.

Der Fremde errötete plötzlich: „Ja, ich kann schon kompensieren, aber meine Möglichkeiten sind…“, er zögerte und hüstelte, „… sagen wir fürs Erste:…heikel! Aber vorhanden. Ich kann Ihnen morgen vielleicht mehr darüber erzählen. Wir sollten jetzt aber alle nach Hause gehen.“

„Nach Hause? Sie sind lustig! Meinen Sie wirklich, wir sollten uns dem gerade niedergehenden Fall-out aussetzen? Das ist ein halbes Todesurteil! Ich fürchte, wir müssen schon eine Weile hier zusammen bleiben, bis wir uns wieder nach draußen wagen können. Spielen Sie doch bitte noch etwas!“, bat ich den Fremden, und Golie fiel mir sofort ins Wort: „Au ja, Herr Grinder, das wäre sehr schön. Ihre Musik war so schön!“

Wie froh war ich plötzlich über die Radioaktivität, die mich in seiner Umgebung bleiben ließ.

Der Fremde tat überrascht, sah aber ein, dass wir jetzt besser nicht nach draußen gehen sollten. Steffen versuchte, die Situation zu retten, und wandte sich einem Notenstapel zu.

„Hier, Herr Grinder, da habe ich etwas, was wir vielleicht gemeinsam spielen könnten. Ich habe hier noch eine Ausgabe des ‚Jeunehomme-Konzert‘ von Mozart. Probieren wir es doch zusammen. Ich habe den Klavierpart geübt, versuchen Sie doch auf den übrigen Manualen den Orchesterpart zu spielen.“

Die beiden Musiker machten es sich auf der engen Orgelbank so bequem wie möglich, legten die Noten auf das Pult und schauten sich an.

Golie war inzwischen schon eifrig zum Blasebalg in den Orgelkasten gekrabbelt und trat kräftig auf. Ich folgte ihm unauffällig und beobachtete ihn. Seine Reaktionen auf Musik und vor allem auch im Zusammenhang mit Herrn Grinder interessierten mich brennend. Golie wirkte ganz verzaubert. Das konnte nicht nur die Musik sein, es war noch mehr dahinter; das spürte ich.

Nur gedämpft kam der durch ein Orgeltutti angedeutete einleitende Orchesterschlag bei mir an. Steffen in seinem Klavierpart antwortete ihm deutlich leiser, aber fast burschikos. Da wo ich stand, kam mir die Musik auch wegen der akustischen Verschiebungen, alles wie von einem anderen Stern oder aus einer Parallelwelt vor. Golie hörte auch aufmerksam zu, aber erst als die beiden Musiker den zweiten Satz anstimmten, der mit der langen, geheimnisvollen Orchestereinleitung in abgründigem c-Moll begann, verwandelte sich Golies Gesicht auf eine Art und Weise, die mir regelrecht Angst einflößte. Es schien mir, als ob er die irdische Sphäre verlassen wolle und sich jetzt traumwandlerisch, aber wie selbstverständlich, nach einer neuen, vergeistigten Ebene umschauen wird.

Grinder war diesen Satz getragen, langsam angegangen, und Steffen folgte ihm jetzt sphärisch mit dem Klavierpart. Sie hatten die Stimmung des Klavierkonzertes auf der Orgel durch eine geheimnisvolle Registrierung zu imitieren versucht, was ihnen durchaus gelungen war.

Plötzlich riss die Musik jäh ab. Golie war von der Musik so ergriffen, dass er vor Rührung weinend aufhörte zu treten, und als er mich sah, stürmte er auf mich zu und verbarg seine Tränen in meiner Schürze. Ich nahm ihn in die Arme, versuchte, ihn zu trösten indem ich ihn fragte, was mit ihm sei. Offensichtlich fielen ihm keine geeigneten Worte für die Beschreibung seines Zustandes ein. Er stammelte nur fast unverständlich: „Es ist so traurig!“ Dann verstand ich noch das Wort ‚genial‘ aus seinem Schluchzen heraus.

Ich nahm auf einmal ganz nüchtern und klar im Kopf wahr, welch ein besonders empfindsamer Junge er war und wie von den Emotionen der Musik so überwältigt werden konnte, dass er seiner Stimmung nachgeben und seine Gefühle in einem Tränenausbruch entladen musste.

Da kam Steffen gerade von vorne in den Orgelkasten gekrochen, um zu sehen, was los sei. Er schien die Situation ganz gut nachvollziehen zu können, nachdem ich einen Erklärungsversuch gestartet hatte, den Golie mit Kopfnicken oder Kopfschütteln kommentierte. Seine Augen hatte er immer mit den Händen verdeckt.

Plötzlich sagte Grinder: "Ich würde gerne speziell für dich spielen!" und wieder haben seine Augen mich völlig aus der Fassung gebracht. Ich war so zerrüttet: als Mutter, als Liebhaberin von einer herrlichen Musik, als plötzlich so Hals über Kopf verliebte Frau. War ich das wirklich noch selbst?