Boden, Kirschbaum, Bretter, Schreibtisch

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Boden, Kirschbaum, Bretter, Schreibtisch
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C.-A. Rebaf

Boden, Kirschbaum, Bretter, Schreibtisch

und andere Erzählungen 'vum alde Woinem' bis in die weite Welt

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Boden, Kirschbaum, Bretter, Schreibtisch

Drei Sorten Kinder

Reinhards Kriegstagebuch Teil 1

Reinhards Kriegstagebuch Teil 2

Ich will und muss das Kriegstagebuch schließen!

The first ‘Woinem-baby’ in a free German world1

Familientreffen in kanadischen Jetlag-Nächten

Marionettenspiel im Rosengarten

Onkel Ernst und der Sommertags-Schneemann

Kurpfälzische Wein- und griechische Ölberge

Afrikanische Nebel von Avalon

Der Afrika-Tourismus-Meisterbrief

Das Blumenopfer von Bangkok

In New York

Im Central-Park

Mein armes Peenemünde!

Brave New Handy-World1

Anmerkungen

Danke!

Herbst

Impressum neobooks

Boden, Kirschbaum, Bretter, Schreibtisch

Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden Personen in diesen Erzählungen sind rein zufällig. Alle namentlich genannten Personen sind frei erfunden.

Text und Umschlagsbild:

© 2017 alle Rechte liegen bei C.-A. Rebaf

Druckauflagen:

Verlag: wespen-kontor@email.de

ISBN: 978-3-9818629-3-5

Meiner lieben Mutter gewidmet

Der Krieg 'römisch Zwo'1 war vorbei und das Vertrauen in die Zukunft wieder da. Mein Großvater, der aus dem Bennweg, pflanzte einen jungen Kirschbaum auf seinem Acker im Gewann 'Mult'. Braune große Kirschen sollte er tragen. So hatte man es ihm versprochen. Noch war der Baum nur eine dünne Rute mit ein paar Blättern, aber im milden Klima der Bergstraße wuchs er schnell heran.

Dann boomte das Wirtschaftswunder. Weinheim hatte seinen ganz großen Arbeitgeber, 'die Fawarik'2, wie die Leute den heutigen Konzern damals fast zärtlich nannten. Jeder wusste, wer damit gemeint war. Die Gewinne waren gut in diesen Jahren und auch der Kirschbaum trug reichlich. Mein Großvater erntete die Früchte und verkaufte sie am Obstgroßmarkt.

Die Manager der 'Fawarik', es waren damals noch 'Firmenpatriarchen', trugen Sorge, dass sie genug Platz hatten, um ihren steigenden Bedarf an Fabrikhallen befriedigen zu können. Grundstückskäufe wurden deshalb von der Liegenschaftsabteilung mit Hochdruck getätigt. Nicht nur Grundstücke, die an die Firma direkt angrenzten, nein auch ganz abgelegene wurden erworben, falls ein Besitzer verkaufswillig war. Die Bodenpreise stiegen. Eines Tages multiplizierte mein Bennwegs-Großvater seinen jährlich wiederkehrenden Verdienst aus dem Verkauf der Kirschen mit der geschätzten Anzahl seiner verbleibenden Lebensjahre und verglich das Ergebnis mit dem Erlös aus dem Verkauf dieses Grundstücks. Daraufhin reihte er sich in die Gruppe der Verkaufs-Willigen ein und veräußerte seinen Kirschbaum mitsamt dem herumliegenden Grund.

Der Baum trotzte allen Transaktionen und blieb stehen. Die Firma verpachtete nämlich den Acker und wartete ab.

Mein anderer Großvater wohnte in der Alten Postgasse und arbeitete in der 'Fawarik'. Er war im Gegensatz zu meinem Bennwegs-Großvater nur ein kleiner Feierabendbauer. Aber auch er besaß eigenen Grund und Boden, den er von seinen und den Eltern seiner Frau geerbt hatte. Eines seiner Grundstücke lag direkt neben der Fabrik, was für ihn sehr praktisch war, da er abends nur am Werkstor ‚stechen‘ musste, um seine Ausgangszeit zu erfassen und danach ohne große Fahrwege seinem Nebenerwerb nachgehen konnte.

Das Wort 'Globalisierung' war noch unbekannt und die damaligen Firmenchefs kannten nur den Ausbau ihrer Kapazitäten unmittelbar vor Ort in der Kurpfalz. Mein Postgassen-Großvater las in den 'Weinheimer Nachrichten' einen Artikel über die neuesten Planungen zur Firmenerweiterung und wunderte sich deshalb nicht über den Besuch vom Chef der Liegenschaftsabteilung, der ihm umständlich und wichtigtuerisch die neuen Vorhaben erläuterte. Sein weitschweifiges Gerede gipfelte in der Frage an den Großvater, ob der nicht seinen angrenzenden Garten verkaufen könne. Er wolle sich doch sicher nicht dem Bau des neuen Simmering-Werkes in den Weg stellen!

Der Postgassen-Großvater überlegte lange, verhandelte zögerlich und zeigte sich einem Verkauf zunächst abgeneigt. Hatte er doch in seinem Leben zwei Geldentwertungen erlebt und gelernt, der Papierwährung grundsätzlich zu misstrauen. Für ihn zählte nur Grund und Boden als echten dauerhaften Besitz. Hatten ihm und seiner Familie denn nicht allein die Erträge seines Ackers das Überleben der Kriegszeit ermöglicht? Was sollte er also jetzt mit Geld als Gegenwert für den Garten? Aber der bauernschlaue Liegenschaftsverwalter kannte eben diesen Einwand genau und bot ihm das Kirschbaum-Grundstück in der Mult zum Tausch an. So kam es zu einer Einigung und von nun an war mein Postgassen-Großvater der Besitzer des Kirschbaums, der inzwischen prächtig herangewachsen war.

Die Fawarik benötigte Arbeitskräfte, mehr und immer mehr. Zuerst wurden die Kriegs-Flüchtlinge eingestellt, die - fein säuberlich 'vun de alde Woinemer'1 isoliert - in der abgelegenen Weststadt angesiedelt wurden. Aber das reichte nicht aus und die Firma zog dann weitere Menschen aus aller Herren Länder an wie ein Magnet. Es schwappte die erste Gastarbeiterwelle aus Italien an die Bergstraße, dann eine aus Spanien, dann aus dem damaligen Jugoslawien und eine vorerst letzte aus der Türkei. Immer mehr Menschen für die Fabrik wurden in die Gegend gespült.

Mit dem Wirtschaftswunder kam dann das Bauwunder. Den Menschen ging es gut und viele wollten im eigenen Häuschen wohnen. Wohnraum war knapp und die Weinheimer Stadtväter kamen gar nicht nach mit der Ausweisung von genügend Neubaugebieten.

Zurück zum Kirschbaum. Der erlebte, wie die 'Mult' über Nacht zum Baugebiet erklärt wurde. Mein Postgassen-Großvater, der damalige Besitzer, wohnte bereits in einem eigenen Häuschen und gab den Acker schnell an seine Kinder und Enkel weiter. Die hatten schließlich genügend Schulbücher fürs 'Schiff'2 vom 'Paulmann'3 erworben und wie er dachte auch alle verstanden, so dass sie die jetzt anstehenden schwierigen Verhandlungen des Umlageverfahrens würden besser meistern können. Wie ein Wunder überlebte der Kirschbaum auch diese Episode und beobachtete zunehmend beängstigt, wie die Reihenhausbebauung um ihn herum in immer engeren Kreisen an ihn heran kam.

Die Strategie zur Zukunftssicherung habe ich wohl von meinem Postgassen-Großvater übernommen. So reifte sehr früh in mir die Idee, die Erträge der ersten Berufsjahre nicht auf einem Bankkonto, sondern in Form einer Immobilie für die Zukunft und die geplanten Kinder zu erhalten. Ich beschloss deswegen, auf dem Baugrundstück mit dem Kirschbaum einen Neubau zu errichten, zumal mich auch ein §7b der damaligen Steuergesetzgebung dazu ermunterte, der das Wohneigentum förderte. Alle fanden den Plan gut, besonders natürlich mein Postgassen-Großvater, der diese Aktion noch kurz vor seinem Lebensende wohlwollend wahrnahm, während er auf seiner Holzbank in der alten Sonne saß und die Wasser der Weschnitz zum Rhein fließen sah.

Der Bau des Hauses war dann allerdings der Tod des Kirschbaums, von dem ich mir jedoch unbedingt eine Erinnerung bewahren wollte. Das Sägewerk in der Grundelbachstraße - unweit des alten Krankenhauses, in dem ich noch als Zangengeburt auf die Welt gekommen war - zersägte mir damals seinen Stamm in Bretter.

Mein Engagement in einer internationalen pharmazeutischen Firma 'uff ´m Waldhof'1 hat mich, als das Haus gerade bezugsfertig war, weg von der Kurpfalz hinunter nach Oberbayern geführt. Erging es einem Kurfürsten nicht schon einmal ähnlich? Gerade als seine treuen Kurpfälzer ihm das schöne riesige neue Schloss in 'Monnem'2 fertiggestellt hatten, lockte ihn ein saftiges Erbe nach München.

Mir blieb die Immobilie zunächst ein Anker in der Heimat. Dann wird sie aber zunehmend ein Klotz am Bein bei der heutigen Vermieter feindlichen Handhabung der Gesetze. Ich veräußerte sie, damit sie einer jungen Familie ein neuer Anker in der Kurpfalz werden könnte.

 

Gott sei Dank sind mir die Bretter vom Kirschbaum als Andenken geblieben. Aus denen hat ein guter Freund, ein alter Klassenkamerad und, Ironie des Schicksals, ausgerechnet einer der heutigen Teilhaber der 'Fawarik' mir einen wunderbaren Schreibtisch in seiner Werkstatt in Berlin-Kreuzberg gebaut. Ihm ist ein richtiges Kunstwerk gelungen, an dem ich jetzt hier gerne sitze und Geschichten schreibe, die mir die freigelegten rötlichen Jahresringe des Holzes auf der Tischplatte aus meinem Weinheim und dem Rest der Welt erzählen.

Ist er mir jetzt ein Anker in meinem Leben geworden? Er hat nach seinem Bau schon wieder drei Ortswechsel erlebt und begleitete mich vom Pfaffenwinkel nach Thüringen und von da jetzt an die junge Donau im badischen Südosten.

Wird er da bis zu meinem Lebensende stehen bleiben dürfen?

Drei Sorten Kinder

Eva war eine tatkräftige und emsige Frau. Sie kam aus einer reicheren Familie. Ihr Vater, der später durch einen Sturz in einer Tabakscheune zu Tode kommen sollte, war Fuhrunternehmer in einer Zeit, wo die Lasten noch mit Pferden transportiert wurden. Der lokale Güterverkehr war in Evas Kindheit ein wichtiges und deshalb auch ertragreiches Gewerbe. Die Lasten kamen per Schiff über die Flüsse und mussten von den Häfen dann mit dem lokalen Güterverkehr weiter an ihr Ziel gebracht werden. Die kleine Stadt im Rhein-Neckar-Dreieck brauchte diesen Güterverkehr. Der Neckar war nur mit Mühen schiffbar, aber der Rhein nach seiner Begradigung war eine wichtige Verkehrsader und so transportierte Evas Vater zusammen mit ihren zwei Halbbrüdern aus erster Ehe des Vaters viele Waren mit den Pferden. Die Pferde hatten einen Stall und mussten verpflegt werden. Da reichte ein Dieseltank, wie es heute der Fall ist nicht aus. Deshalb war damals ein Fuhrunternehmer auch gleichzeitig ein landwirtschaftlicher Betrieb. Das Heu und der Hafer für die Pferde wurden natürlich selbst erzeugt. Die Frauen erledigten dann die Betreuung der restlichen Tiere, eine Kuh, Ziegen, Kaninchen und Hühner. Deren Haltung bot sich an, da das Futter vorhanden war. Warum sollte man nicht auch das Essen der Menschen erwirtschaften?

Für die Gewinne des Unternehmens wurden neue Äcker gekauft, die waren für die Zukunftssicherung aus der damaligen Perspektive wichtig. Die Ländereien der Fuhrunternehmer bezeugten deshalb auch untrüglich den wirtschaftlichen Erfolg einzelner Familien. Die von Eva mit einem englisch klingenden Familiennamen, von dem keiner wusste wie er in der Kurpfalz plötzlich auftauchte, war offensichtlich sehr erfolgreich, den es gab beim Tod des Vaters einiges Land zu vererben. Die beiden Halbbrüder waren bescheiden und arbeiteten dem Vater für geringen Lohn zu. Nachbarn mutmaßten oft, der Vater würde die Buben ausbeuten. Aus zweiter Ehe wurden dann vier Mädchen geboren, der ganze Stolz des Vaters. Seine vier Prinzessinnen. Eva war eine davon. Dann gab es noch Anna, Elisabeth und Marie.

Die 'Everl' wuchs zu einer stolzen jungen Frau heran, die sich in einen Gardeoffizier der marktgräflichen Leibstandarte verliebte. Es war ein herrliches Paar, das am Wochenende zum Tanze ging. Er mit der schicken Ausgangsuniform, mit einem weißen Federbusch am silbrig blitzenden Helm, ein groß gewachsener Mann, dem die Worte gar allzu leicht und locker aus dem Munde flossen. Ihm stand die Welt offen, woraus er seiner Umgebung gegenüber auch keinen Hehl machte. Einige seiner Freunde wandten sich deshalb auch wieder von ihm ab, da sie ihn zu großspurig fanden. Aber Eva sah in ihm ihren Märchenprinzen und liebte ihn aus ganzen Herzen. Was Wunder, befinden wir uns doch in einer Zeit, wo das Kaiserreich in seiner vollen Blüte stand und das Soldatentum nach dem gewonnenen Kriege von 1871 ein zukunftsträchtiges Gewerbe darstellte, das in der damaligen Gesellschaft - noch ohne die bitteren Erfahrungen der Kriege römisch eins und zwei- einen hohen ja stark überhöhten Stellenwert hatte. Wie stolz war Eva doch auf ihren Gardeoffizier. Die Hochzeit wurde denn auch glanzvoll begangen und Eva erhielt eine schöne Mitgift, zu der sich später nach dem Tode der Eltern noch die etliche Hektar Ländereien dazu gesellten.

Eine Ehe wie im Bilderbuch, den schon kurze Zeit nach der Hochzeit wurde Eva schwanger, obwohl das Paar nach heutigen modernen Maßstäben doch eine Wochenendehe führte. Oder war es gerade deswegen? Fritz ihr Mann fuhr am Sonntagabend mit der Dampfeisenbahn über Friedrichsfeld, Heidelberg und Bruchsal nach Karlsruhe und von da weiter nach Rastatt, wo er in der Kaserne seinen Dienst die Woche über versah. Eva war so in ihrer Familie integriert, dass sie nicht daran dachte, den Hof des Vaters zu verlassen und in die Hauptstadt Karlsruhe in eine kleine Stadtwohnung zu ziehen. Sie brauchte das soziale Umfeld der Mutter und ihrer drei Schwestern.

Doch die Idylle wurde bald getrübt durch bekannte weltpolitische Verstrickungen, die in Sarajewo ihren Ausgangspunkt hatte. Wir nähern uns dem Sommer 1914 und Fritz musste in den Ernstfall, von dem alle dachten er wäre harmlos: Der Krieg römisch eins brach aus. Seine hübsche junge Frau sollte er schwanger zurücklassen.

Der badische Großherzog reihte seine Garde in die Reichswehr ein und Fritz Regiment zog von Rastatt nach Westen gen Frankreich. Schon nach den ersten Gefechten dort und lange vor Verdun und den anderen großen mörderischen Schlachten, erwischte es Fritz bei einem Angriff auf dem ersten Vormarsch und sein Bein wurde von einer Granate abgerissen. Wollte er als Gardeoffizier seiner Vorreiterrolle gar zu gerecht werden und mutige Heldenstückchen nicht nur verbal sondern auch real beweisen?

Halb verblutet wurde er von den Sanitätern aufgegriffen, um dann, noch war der Krieg erst wenige Wochen alt und die Versorgungslogistik in Takt, in ein Lazarett in das nahe Saarbrücken eingeliefert zu werden. Sobald Eva die Nachricht seiner Verwundung erhielt, fuhr sie ihn besuchen, schon erahnend, dass ihr junges Glück durch diesen Schicksalsschlag gefährdet war. Sie fand ihn auch, neben vielen anderen verwundeten Kameraden in einem sauberen und hygienischen Krankenhaus in der Stadt ganz im Westen des Reiches an der Saar, die jetzt durch das Kriegsgeschehen stärker in den Vordergrund kam, soweit weg von Berlin, der Schaltzentrale. Sie fand den stolzen Fritz gedemütigt und im Todeskampf, kaum fähig seine junge Frau zu erkennen. Als er sie dann sah, schienen seine Lebensgeister noch einmal auf zu flammen und Eva fuhr nach einigen Tagen in der Hoffnung zurück, dass er es - wenn auch als Kriegskrüppel - überleben würde. Wie konnte sie wissen, dass das Schicksal immer in Etappen und immer unerbittlicher zuschlägt? Dann kam wenige Tage nach ihrem Besuch die finale Meldung über seinen Tod zusammen mit seinem Nachlass. Darunter war eine Postkarte, die er an sie gerichtet hatte. Nach dem er die Adresse und die Anschrift in seiner deutlichen und aufrechten Schrift mit einem Kopierstift geschrieben hatte und nach der Anrede 'Meine geliebte Eva…' fortfahren wollte, ihr seinen aktuellen Zustand mitzuteilen, verließen ihn die Kräfte. Die Buchstaben kippten um und seine Hand brachte nur noch eine gewellte Linie auf den Karton, die dann in dem Maße in eine Gerade ausliefen, wie sein Leben aus ihm wich. Er verblutete in dem Moment des Schreibens dieser Postkarte an seine geliebte schwangere Frau.

Eva bewahrte diese Postkarte, diesen letzten Beweis seiner Liebe zu ihr, als das Wichtigste in ihrem Leben auf und zeigte sie ihrem Enkel fünfzig Jahre später. Dieser war damals gerade fünf Jahre alt. Er nahm ihr Vermächtnis in sein ungetrübtes kindliches Herz auf und bewahrte es bis lange nach ihrem Tode. Hatte sie ihn damit überfordert? Oder gar missbraucht? War er der einzige, der ihr noch zuhörte, zuhören musste?

Immer wenn der Enkel heute die modernen Monitore mit den Herzschlägen der Schwerverletzten sieht, die auf Intensivstationen liegen, sieht er die Postkarte vor sich. Beim Ableben verlaufen sich die Monitorlinien genau wie auf der damaligen Postkarte im Nichts.

Aber das Andenken an Fritz sollte lange erhalten bleiben. Während viel später im neuen Jahrtausend die Gräber aller seiner Großeltern, auch das von Everl, verschwunden waren, weil der Platz auf dem Friedhof zu gering war, blieb doch das Soldatengrab von Fritz über ein Jahrhundert bestehen. Sein Halbenkel musste zwar bei seinem letzten Besuch den Efeu etwas auf die Seite schieben, aber da stand sein Name in roter Schrift auf grauem Granit. Seine Überreste waren zusammen mit einem gefallenen Bruder in einem kleinen Soldatengrab beerdigt.

Außerdem war sein Name auch in der Liste der gefallenen Soldaten, die auf den gelben Porphyr-Platten des pompösen Nazi-Krieger-Denkmals in zentraler Lage der Innenstadt zu finden. Wie schön fand der Halbenkel doch den Anblick in den siebziger Jahren des letzten Jahrtausends, als eine junge Anhängerin der damaligen Flower-Power-Friedensbewegung die Trommel des marschierenden Soldaten der Steinfiguren in der Pause des nahegelegenen Gymnasiums als Liegestuhl für ihr morgendliches Sonnenbad nutzte. Ein junges Mädchen in bunten kurzen Sommerkleidern mit regenbogenfarbigen Bändern in den Haaren: Ein Brückenschlag über die Generationen, die unterschiedlicher nicht hätten sein können!

Doch zurück zum Everl. Das Leben ging weiter. Wie gut, dass Eva in ihrer Familie einen festen Halt spürte, denn bald darauf wurde das Kind des gefallenen Gardeoffiziers geboren und Paul getauft. Paul, der von Geburt die Stelle seines Vaters übernehmen musste, und deshalb nie eine Gelegenheit hatte, er selbst zu sein. Wundert es dann, dass in Anbetracht der bekannten weltumspannenden Veränderungen in der Folge des Krieges römisch eins, der erwachsene Paul die SS als ein neuzeitliches Äquivalent für das großherzogliche Garderegiment seines Vaters erachtete und Mitglied wurde? Aber wir greifen der Zeit voraus und müssen zunächst einen anderen familiären Wurzelast freilegen und verfolgen, bis wir wieder auf Eva treffen.

Wilhelm war ein kleiner Junge in einer ärmlichen Arbeiterfamilie. Sein Vater war aus der Kurpfalz entflohen und ließ seine Mutter mit den Kindern zurück. Des Öfteren im Familienstammbaum gibt es Lücken bei dieser Familie, weil die Reiselust oder die Sehnsucht nach der großen weiten Welt sie gepackt hatte, die doch so ruhig wirkenden Mitglieder der ursprünglich aus Battenberg stammenden Familie. War nicht hier schon die Auswirkung eines 'Zigeuner-Gens' zu erkennen, das in dieser Familie sich von Generation zu Generation weitervererbte? Das legendäre Zigeuner-Gen, das wir bei späteren Familienmitgliedern wiederfinden werden, vor allem bei mir.

Das Fragezeichen zeigt, wie wenige Informationen überlebt haben. War es Wilhelm nicht wichtig seinem Enkel etwas von sich und seinen Vorfahren zu hinterlassen, oder war sein Leben zu unspektakulär? Oder war es das Abgeschnitten-Sein von den Vorfahren, seine Entwurzelung, nachdem doch der Vater so einfach aus seinem Leben verschwand, ohne Würdigung, ohne Hinterlassenschaft und ohne Grab?

Wilhelm wuchs heran und nach der Schule lernte er das Maurerhandwerk. Er war emsig und fleißig. Das Bauen der Häuser war damals ohne die Kräne, Betonmaschinen, Bagger und Raupen der heutigen Zeit noch echte Handarbeit. Da musste man als Kind schon zäh und ausdauernd sein, um die Maurerlehre zu überstehen. Die Gesellen und vor allem der Polier, der Chef am Bau, achteten streng darauf, dass der Mörtel aus Sand und Zement gut durchmischt wurde. Dieser wurde nach den Regeln des Bauhandwerks so gemacht: Mit einer Schippe wurde ein kleiner Hügel Sand auf einer freien Fläche spitz aufgetürmt, wobei die Anzahl der Schaufeln Sand für das richtige Mischungsverhältnis sorgfältig gezählt werden mussten. Anschließend wurde über den spitzen Sandhaufen die benötigte Anzahl Zement aus den braunen Papiertüten entnommen und darüber gestreut wie Puderzucker. Für die homogene Verteilung des Zements wurde jetzt noch ohne Wasser der Sandhaufen mindestens dreimal 'umgeschippt', d.h. jeweils ein neuer Sandhaufen aus dem alten daneben angelegt. Allmählich änderte das Gelb des Rheinsandes sich durch die Zementdurchmischung in ein Grau. Danach wurde Wasser mit einer Gießkanne zugegeben und spätestens jetzt mussten zwei Lehrjungen zusammen-arbeiten. Der eine schaufelte zum x-ten Male einen neuen Haufen aus dem alten und der andere goss behutsam Wasser darüber. Das Gemisch wurde immer schwerer jetzt und das Schaufeln immer mühsamer. Aber es musste noch ein-, zweimal erfolgen, bis das Homogenisieren von Wasser, Sand und Zement als Mörtel oder Beton bezeichnet werden konnte. Je nach dem wofür er benötigt wurde, durfte er nur erdfeucht oder flüssig sein.

 

Die Lehrjungen buckelten dann mit einer Tragekiepe das schwere Material in Eimern über das Baugerüst zu den Gesellen, die schon ungeduldig darauf warteten, wenn der Mörtel ihnen ausgegangen war. Kaum war der eine versorgt, rief der andere nach Ziegelsteinen, die auf die gleiche Weise mit der Kiepe geschleppt werden mussten.

Ganze Stadtviertel mit Arbeiter-Reihenhäuser wurden in der kleinen Stadt im nördlichsten Zipfel der Kurpfalz so errichtet. Eines davon erhielt dann den bezeichnenden Name 'Die Kolonie'. Die boomende Industrie benötigte Arbeitskräfte, Gerbereien vor allem gab es am Standort, die sehr erfolgreich betrieben wurden. Diese zogen auch andere Gewerbe als Zulieferer nach: Sondermaschinenbau, Metallverarbeitung, Gießereien, Drehereien, bis hin zur Brauerei, denn auch für das leibliche Wohl der Arbeiter musste gesorgt werden. Diese wohnten mit ihren Familien in der Kolonie nur ein Steinwurf von der Firma und der Brauerei entfernt. Transport war damals teuer und deshalb musste alles auf engstem Raum erfolgen. Bis zum großen Brauereisterben nach Weltkrieg römisch zwo wurde dort gebraut Es gab damals natürlich auch einen Biergarten, also alles was zu einer Brauerei dazugehört, wie in der Hauptstadt Berlin am Prenzlauer Berg zum Beispiel, nur im Kleinen.

Die Pferdefuhrwerke starben aus und mit ihnen die Brauereien. Plötzlich konnte das Bier mit einem motor-betriebenen Lastkraftwagen auch von Heidelberg aus der Großbrauerei herangefahren werden. Die Globalisierung begann. Aber wir eilen der Zeit voraus.

Wilhelm half also mit, die Häuser dieser Kolonie zu bauen, am nördlichen Stadtrand, damals. Er wurde vom Lehrjungen zum Gesellen an dieser Großbaustelle und später sogar zum Polier. Eine harte Laufbahn.

Er lernte dann auch eine bescheidene Frau kennen, heiratete und kurz darauf wurde eine Tochter Anna geboren.

Welche ein Schicksalsschlag war es dann für ihn, dass seine Frau bei der Geburt starb. Wie sollte er sein Leben jetzt organisieren, allein mit einer Tochter? Er musste zwölf Stunden an sechs Tage auf dem Bau arbeiten. Deshalb war er gezwungen, die Tochter notgedrungen wegzugeben. Das schmerzte ihn sehr, er hing an dem Kind. Am Sonntag konnte er sie sehen. Eine seiner Schwestern nahm sich dem Kleinkind an, das seine Mutter nie sah und ein Leben lang vermissen sollte. Wiederholt sich hier nicht das Schicksal des Vaters? Das ja sogar noch schwerer zu tragen war, da er den Elternteil ja im Gegensatz zu seiner Tochter noch kannte, bevor dieser verschwand.

Wilhelm hatte ein sehr kleines Gartengrundstück an den abfallenden Hängen des Odenwalds von seinen Eltern übernommen und betrieb dort eine Feierabendlandwirtschaft. Es gab einen Süßkirschenbaum, Pfirsich- und Aprikosenbäume, Him- und Brombeeren, sowie 'Kanztrauben', übersetzt ins Hochdeutsche 'Johannisbeeren'.

Die Bergstraße ist bekannt für ihr mildes Klima und der Obstanbau floriert, italienische Verhältnisse vorgaukelnd. Das Grundstück liegt im Gewann 'Forstweg'. Der ganze Gemeindegrund ist in solche zusammenhängenden Gewanne eingeteilt, die mit trefflichen Dialektbezeichnungen versehen sind und oft schwer in hochdeutscher Form im Grundbuch eingetragen werden konnten: 'Mittlerer Weg', war noch verständlich, 'Loch' auch noch, an eine Stelle erinnernd, wo Lehm für die Ziegelherstellung gewonnen wurde, und eben ein Loch hinterlassend, 'Stripphabern' war schon sehr schwierig und ohne längere sprachwissenschaftliche Studien unerklärlich.

Am Gewann 'Forstweg' hoch über dem Birkenauer Tal, in dem die Weschnitz aus dem Odenwald ihren Weg in die Ebene sucht, um dann bei Worms in den Rhein zu münden, stießen zwei Grundstücke zusammen: Das von dem kleinen emsigen Wilhelm und das von der durch die weltpolitischen Großwetterlagen der Politik gedemütigten Eva. Der Grund war übrigens ein Vermächtnis ihres Fritz und nicht aus dem Besitz ihres Vaters, des Großfuhrunternehmers. Ein Grasrain verband die beiden Immobilien. Dort haben sie sich beobachtet, im Frühling, wenn die Bäume beschnitten wurden, im Frühsommer, wenn mit der Hacke der Boden vom Unkraut sauber gehalten werden musste, im Sommer und Herbst bei der Ernte. Zwei Menschen auf benachbarten Grundstücken, durch das Leben gebeugt, ihrem Schicksal hingegeben. Sie beobachteten sich, soweit es ihre Zeit zuließ. Das Städtchen war klein, natürlich wusste Wilhelm, wer die einsame Eva dort unten war und sie wusste ebenfalls, dass der Wilhelm dort oben nicht gerade eine standesgemäße Partie, sein verschwundener Vater überschattete doch sein bürgerliches Ansehen, aber ein ehrlicher und rechtschaffener Kerl und Witwer war. Jedoch war die große Liebe ihres Lebens und blieb bis zu ihrem seligen Ende nur einer: der gefallene Gardeoffizier in Form seines Sohnes.

Wilhelm wiederum, kannte Eva, die Tochter aus gutem Hause und war mit ihrem Kriegerwitwen-Schicksal vertraut. Auch er war in diesem Krieg Soldat gewesen, aber er musste keine Heldentaten verbringen, wie der Fritz, und deshalb kam er gesund zurück. Er war in seiner Militärzeit vor dem Kriege Kellner beim 4. badischen Inf.-Regiment Prinz Wilhelm Nr. 112 in Mülhausen im Elsass. Davon gibt es eine Fotografie. Hatte er im Krieg auch gekellnert? Es gibt keine Überlieferungen oder Ideen dazu. Deswegen muss das offen bleiben.

Wir stellen uns vor, erste schüchterne Gespräche zwischen den Beiden. Wer hat angefangen? Bestimmt Eva, eine mutige Frau, die wusste, dass sie ohne Mann auf die Dauer in der damaligen Gesellschaft nicht überlebensfähig war. Der Schmerz über den Verlust ihres Fritz war nach einiger Zeit der Sorge um die Zukunft gewichen. Man redete nicht über seine Sorgen und Probleme in der Stadt der Kurpfalz der Jahre 1919/20. Das Zeitalter der großen flächendeckenden Kommunikation auch zwischen den Geschlechtern über das Handy ist den Zeiten nach 2000 vorbehalten. Ich stelle mir vor, sie hat also den Anfang gemacht, das Eis gebrochen. Er hat sie dann nach Hause begleitet, mit der Hacke auf der Schulter, nachdem sie mit der niedergehenden Sonne im Westen ihren Feierabend gemeinsam beschlossen hatten. Schob sie schon damals ihr Marktwägelchen vor sich her, mit dem sie bis in die hohen Achtziger Jahre ihres Lebens weite Wege zu Fuß zurück legte? Eine moderne Gehhilfe wie ein Rollator für sie in Zeiten, wo Vieles pragmatischer und zweckmäßiger gelöst wurde?

Er hat sie nie bedrängt und sie beschloss nach kurzer Zeit ihn zu einem Heiratsantrag zu überreden. Er, eingedenk seiner kleinen Tochter Anna, die er gerne bei sich gehabt hätte, nahm den Wink von ihr auf, gab sich eines Abends einen Ruck und bat sie um das 'Jawort'. Es lief nach ihrem Plan, sie willigte schnell ein und die Heirat wurde in kleinem Rahmen gefeiert. Ein bescheidenes kleines Anwesen kauften die beiden für ihre eheliche Gemeinschaft. Ein Haus über einer Hofeinfahrt gebaut, ein Seitengelass und eine kleine Scheune. Neben ihnen wohnte Evas Schwester Anna, da konnte ja mit der Nachbarschaft nichts schiefgehen. Das sollte sich später allerdings als sehr trügerisch herausstellen: Waren doch die Meinungen und Ansichten der angeheirateten Ehepartner gar zu divergent und führten zu Familienfehden, die über Generationen andauern sollten.

Es schien jedoch zunächst, als ob das Leben es mit Eva und Wilhelm jetzt besser meinte und ein kleines häusliches Glück kam auf, vielleicht ist Liebe ein zu große Wort dafür, aber immerhin eine große Zuneigung. Aus dieser Zuneigung wurde ein zweiter Sohn gezeugt im Frühjahr und geboren dann im Dezember. Sie haben ihn Reinhard getauft. Warum eigentlich? Keiner der Großväter trug diesen Namen. Ein Ausdruck der Neuen Zeit?

Damit war eine nach heutigem Maßstab moderne 'Patchwork-Familie' in einer Zeit perfekt, wo man diesen Begriff noch lange nicht geprägt hatte und man schlicht von drei Sorten Kinder sprach. Im Gegensatz zur heutigen Harmoniesucht, wunderte sich damals keiner, dass die sich alle drei nicht mochten und sogar sehr aggressiv gegeneinander waren. Das wurde von den Leuten einfach so hingenommen, ja sogar gut verstanden, wo doch das Schicksal der Familie so extrem zugesetzt hatte. Familienstreitereien, in der Hauptsache wegen Erbangelegenheiten waren doch an der Tagesordnung damals. Verbitterte Fehden mit oft jahrelangen 'Nebeneinanderher-leben-ohne-ein-Wort-miteinander-zureden' waren normal. Niemand war denn auch da, der Integrations- oder gar Mediationsarbeit geleistet hätte, wie heute.

So wundert es nicht, dass die ersten Erschütterungen auch in unserer Familie bald eintrafen. Anna, das kleine Mädchen von Wilhelm, wurde trotz heftigem Verlangen nicht in der Familie aufgenommen. Paul, der kleine Prinz seiner Mutter dominierte das Feld und ließ kein andersartiges Geschwister zu, sehr zum Gram vom Stiefvater, der sich doch nichts sehnlichster wünschte, als seine Tochter auch bei sich zu haben. Dann haben wir noch das jüngst geborene Nesthäkchen Reinhard, um das sich niemand besonders kümmerte.