Seewölfe - Piraten der Weltmeere 607

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 607
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Impressum

© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-96688-021-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Die Pilgerschiffe

Das neue Leben fordert schon in London die ersten Opfer

Der Kerl übertönte, sogar den Lautenspieler.

„Eine holde Maid im grünen Hain …“, sang der Musikant.

Sofort grölte dieser aufgeblasene Kerl, was ihm dazu einfiel: „Ja, was mag ihr wohl geschehen sein?“

Röhrendes Gelächter und schrilles Kichern waren die Folge. Der Mann mit der Laute gab auf. Er nahm sein Instrument herunter, stieg von dem kleinen Podest neben der Theke des „Red Dragon“ und schickte sich an, zu gehen.

Der Gröler wurde auf ihn aufmerksam. Im Kreis der Weiber, die sich um ihn geschart hatten wie Motten um eine Ölfunzel, sprang er auf.

„He, he, mein Freund! Wirst du hier fürs Klampfen und Krächzen bezahlt oder nicht?“

„Ja, Sir“, antwortet der Musikant und drehte sich um. „Aber nicht dafür, mir einen blökenden Esel anzuhören.“

Die Hauptpersonen des Romans:

Robert Granville – der Kapitän der „Discoverer“ ist ein Hundesohn, der sich an armen Auswanderern bereichern will.

Delia Mercer – ist jung und hübsch und schafft es, für ihre Familie die Reisekosten für die Fahrt in die Neue Welt zu verdienen.

Frank Davenport – der adlige Nichtstuer meint, auf der Schebecke der Seewölfe große Töne spucken zu können.

Elisabeth I. – erteilt dem Seewolf einen Auftrag, von dem weder er noch seine Männer besonders entzückt sind.

Philip Hasard Killigrew – braucht Härte und diplomatisches Geschick, um sich durchzusetzen.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Schlagartig wurde es so still in der Schenke, daß es wie ein Kanonenschuß geklungen hätte, wenn in diesem Moment eine Muck zerbrochen wäre. Der Gröler, ein gutgekleideter Mann mit blasierter Miene und vornehm blasser Gesichtshaut, riß die Augen weit auf und kriegte den Mund nicht wieder zu. Dann wich das Blasierte einem Ausdruck blanker Wut.

Die Hafenmädchen, die ihn umlagerten, hatten erschrocken die Hand vor den Mund geschlagen. Einige sahen den respektlosen Lautenspieler empört an, als seien sie auf der Seite ihres Gönners. Andere schienen unschlüssig zu sein, was sie mehr bewundern sollten – den Mut des Mannes mit der Laute oder das heilige Donnerwetter, das der sehr ehrenwerte Mister Frank Davenport gleich vom Stapel lassen würde.

Auch im übrigen Schankraum war die Reaktion unterschiedlich. Jene Hälfte, wo Tische und Stühle standen, war den gut zahlenden Gästen vorbehalten. Handwerksmeister, Kaufleute und Kapitäne ließen sich dort nieder, um sich mit Getränken und Gunstbeweisen verwöhnen zu lassen. Auch Gäste adliger Herkunft waren dort gelegentlich anzutreffen – wie jener grölende Mister Davenport.

All die anderen scharten sich rings um die Theke. Dichtgedrängt standen sie mit den Bierkrügen in der Hand und starrten den Musikanten an, den sie nur als einen zurückhaltenden und fast scheuen Mann kannten.

Ein Raufbold war er ohnehin nicht. Daß er auf diese Weise aufbegehrte, bewies wohl nur, wie sehr ihn das Getue dieses Schnösels Davenport getroffen hatte. Jeder der einfachen Männer – Seeleute und Hafenarbeiter zumeist – war auf der Seite des Lautenspielers.

Die käuflichen Weiber und ihre Zechkumpane an den vornehmeren Tischen hatten sich unterdessen die ganze Zeit von Davenports albernen Scherzen aufheitern lassen. Keine Frage also, daß sie daher auf seiner Seite stehen würden.

Davenport klappte endlich den Mund zu und schluckte trocken. Er war sich der Wirkung seiner Worte bewußt, als er betont leise sprach: „Ich nehme an, daß ich mich nicht verhört habe. Nun, wenn dem so ist, mußte ich es mir soeben bieten lassen, mich mit einem äußerst dummen Tier vergleichen zu lassen. Und das von einem Strolch, der sich Sänger nennt, obwohl er jault wie ein Köter, dem gerade auf den Schwanz getreten wurde!“

Gelächter der Männer und unterdrücktes Kichern der Weiber hinter vorgehaltener Hand waren sein Beifall.

Davenport blickte in die Runde und nickte in dem grimmigen Bewußtsein, es recht zu tun. Er war entschlossen, sich noch nicht zufriedenzugeben. Der unverfrorene Lautenzupfer würde zu spüren kriegen, was es hieß, einen Mann von Rang und Namen zu beleidigen.

Beleidigung? Ach was! Was dieser Wurm sich geleistet hatte, grenzte geradezu an frevlerisches Benehmen. Einer aus dem Pöbel, der sich erdreistete, einen Adligen mit verbalem Schmutz zu bewerfen. Ungeheuerlich!

Davenports Wut wuchs, je mehr er darüber nachdachte. Hölle und Teufel, er hatte im Grunde das Recht, diesen Strolch auf der Stelle niederzuschießen.

Der Musikant, ein schlanker Mann namens Anthony Armstrong, stand stocksteif und war zu einer Entgegnung nicht mehr in der Lage. Sein Mut hatte ihn verlassen. Die Männer, die in seiner unmittelbaren Nähe ausharrten, sahen, wie er sich bemühte, ein Zittern zu unterdrücken.

Wieder herrschte Stille in der Schenke. Der Wirt und seine Helfer hinter der Theke wußten, daß es ratsam war, sich aus einer Auseinandersetzung herauszuhalten. Die große Schar der Männer auf der Thekenseite des Schankraums stand stumm und regungslos. Aus ihrer Bewunderung für Armstrong wurde mehr und mehr Wut auf jenen Schnösel, der hier den dicken Mann markierte. Die harten Gesichter der Männer zeigten dies deutlich genug.

Die Zechkumpane des Hochwohlgeborenen wurden unsicher. Das spöttische Grinsen verschwand aus ihren Gesichtern. Wenigstens sie wußten die Lage richtig einzuschätzen. Denn die Männer, die dort dem Musikanten eine unverholene Rückenstärkung gaben, waren von einer Sorte, die sich nicht so leicht unterdrücken ließ. Ungerechtigkeiten wurden nicht einfach mehr hingenommen. Mancher Schikanierer unter den Handwerksmeistern, Kaufleuten und Kapitänen hatte schon erleben müssen, daß ihm in dunkler Nacht das Fell versohlt worden war – ohne Zeugen.

Frank Davenport scherte sich nicht um diese Feinheiten. Ebensowenig taten es die käuflichen Weiber, die fest daran glaubten, daß Geld die Welt regiere. Und sie hielten Davenport für einen reichen Mann, der alles und jeden kaufen konnte. So wie er auftrat, mußte er wirklich reich sein.

Davenport hob die Nase ein Stück höher. „Du hast jetzt noch Gelegenheit, dich zu äußern, Sangesbruder. Mag sein, daß du dich für deine Frechheit entschuldigen willst. Noch hast du die Möglichkeit, es zu tun. Obwohl es dir die Strafe nicht ersparen wird.“

Anthony Armstrong biß sich auf die Lippen. Von allen Anwesenden hatte er am wenigsten getrunken. Deshalb fühlte er sich höchst ernüchtert. Welcher Teufel hatte ihn nur geritten, daß er gewagt hatte, dem Gröler die Meinung zu sagen? Er räusperte sich und war soweit, sich tatsächlich zu entschuldigen.

Bewegung entstand hinter ihm. Eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Erstaunt drehte er sich um. Der Mann, der sich her angeschoben hatte, war einen halben Kopf größer als die meisten anderen, hatte Schultern wie ein Kleiderschrank und ein gutmütiges Gesicht, in dem jetzt allerdings harte Furchen entstanden waren.

„Oh, hallo, Gregory“, sagte Armstrong leise, als dürfe der Hochwohlgeborene es nicht hören. „Dich habe ich noch gar nicht gesehen heute abend.“

„Bin auch erst vor zehn Minuten reingekommen“, antwortete Gregory Mulhollen. Er wandte sich der höhergelegenen Seite der Schenke zu, wo die Tische von einer Balustrade abgegrenzt wurden. Mulhollen war Zimmermann. Jeder kannte ihn, da er als Vorarbeiter auf der Kinsgate-Werft einen guten Ruf hatte. Er erhob seine Stimme zu dröhnender Lautstärke. „Allerdings bin ich noch früh genug dagewesen, um das Wichtigste mitzukriegen.“

Oben, an den Tischen, standen die ersten auf und gingen. Der Lautenspieler atmete erleichtert auf. Die Männer rings um Mulhollen knurrten zornig zustimmend. Erst jetzt zeigten auch die Dirnen Anzeichen von Unsicherheit. Immer mehr Männer entfernten sich aus ihrer Nähe, zum Ausgang hin.

Davenports vornehme Blässe wurde wächsern. Die erhobene Nase sank tiefer. Von einem Atemzug zum anderen erweckte er den Eindruck, daß er sich sehnlichst ein Loch im Boden wünschte, um darin versinken zu können. Um so mehr schien es ihn zur Verzweiflung zu bringen, daß er sich wie festgewurzelt fühlte.

Der riesenhafte Mulhollen bewirkte das.

Fast ein Dutzend Männer schlossen sich dem Zimmermann an, als dieser sich der Balustrade näherte.

 

Anthony Armstrong strahlte vor Freude. Er ging zu dem Podest zurück, setzte sich auf den Hocker und hob die Laute auf die Oberschenkel.

Jetzt konnte er über die Köpfe der anderen hinwegblicken. Wenn Mulhollen und die anderen aufrechten Burschen es wünschten, würde er ein Spottlied anstimmen.

Die ersten im Kreis von Davenports Weibern wollten aufspringen.

„Ihr bleibt!“ donnerte Mulhollen.

Sie erstarrten und wagten nicht mehr, sich zu rühren.

Bis auf wenige Kaufleute, die an den entferntesten Tischen ausharrten, waren Davenports Zechkumpane verschwunden.

Mulhollen schob die Jackenärmel hoch und legte seine muskulösen Unterarme auf die Balustrade.

„Nun, Mister Davenport“, sagte er mit spöttischer Höflichkeit. „Jetzt möchtest du am liebsten weglaufen, was?“

Die „Ladys“ in der Umgebung des Hochwohlgeborenen sperrten den Mund auf. Daß jemand so respektlos mit ihrem sehr ehrenwerten Gönner redete, hatten sie noch nicht erlebt – abgesehen von der Unverschämtheit des Musikanten vor wenigen Minuten. Was fiel diesem ungehobelten Klotz ein! Gab es denn niemanden, der ihn zurechtwies?

Nein. Man konnte sich in der ganzen Schenke umsehen, da war keiner, der sich noch auf Frank Davenports Seite geschlagen hätte. Die wenigen Kaufleute, die eben noch mit ihm gezecht hatten, waren zu schadenfrohen Zuschauern geworden.

Das Erstaunen der Dirnen wuchs noch, als sie ihren adligen Freund in einer unerwarteten Vertraulichkeit antworten hörten.

„Ich befehle dir, Mulhollen, mich in Ruhe zu lassen. Du hast nicht das Recht, dich in eine Angelegenheit einzumischen, in der ich kraft meines Standes die rechtmäßige Gewalt ausübe.“

„Weißt du was?“ Mulhollen grinste.

Davenport blinzelte irritiert. „Was denn?“

„Ich nehme mir das Recht. Einfach so.“

Davenport schnappte nach Luft. Er sah dabei aus wie ein Fisch auf dem Trockenen. „Aber – das – das …“

„Das hättest du nicht gedacht, was?“ Die Männer, die einen Halbkreis um Mulhollen gebildet hatten, lachten glucksend. Der Zimmermann grinste breiter. „In Ordnung. Über was wollen wir zuerst reden? Über die Frage, warum du dich als Mann von Stand in Kneipen wie diese verirrst?“

„Das – das geht niemanden etwas an“, stammelte Davenport.

„Doch, mich und ein paar von den anderen hier. Oder müssen wir dir erst die Schuldscheine, die du unterschrieben hast, unter die Nase halten? Wie wär’s, wenn du mal etwas arbeiten würdest, um uns das Geld zurückzuzahlen? Wo hast du dir diesmal was zusammengeschnorrt, damit du dich hier aufspielen kannst?“

„Das ist ungeheuerlich!“ keuchte der Hochwohlgeborene.

Mulhollen überhörte es. „Nennen wir die Dinge beim Namen, Davenport. Meine Freunde und ich waren so unvernünftig, dir Geld zu leihen, als wir dich noch nicht richtig kannten. Auch wir sind auf dein Gefasel vom unverschuldet notleidenden Adligen hereingefallen. Natürlich nur, weil wir alle schon was getrunken hatten. Sonst hätten wir ja auch kein Mitleid mit so einem Dreckstück wie dir gehabt. Du leihst dir Geld von unsereinem, der dafür hart arbeiten muß, und du schämst dich nicht, einen rechtschaffenen Mann wie Anthony Armstrong anzustänkern? Wer gibt dir dazu das Recht, he?“

Davenport zuckte zusammen. „Ich – ich weiß nicht, von was du redest.“

„Dann müssen wir deinem Gedächtnis wohl auf die Sprünge helfen“, knurrte Mulhollen. „Oder war es jemand anders als du, der ständig dazwischenbrüllte, als Anthony versuchte, das zu tun, wofür er vom Wirt bezahlt wird – zu singen?“

Die „Ladys“ blickten zu Davenport auf, gespannt, welche Antwort er geben würde. Aber alles, was sie hörten, war ein immer verworreneres Stammeln. „Be-be-stimmt, da-da mu-muß ein an-anderer …“

Mulhollen schwang sich mit einem Satz über die Balustrade, dessen Eleganz ihm bei seiner Körpergröße kaum jemand zugetraut hätte. Davenport duckte sich, als ahnte er den ersten Hieb, der ihn treffen mußte, voraus. Dann wollte er fliehen und nach hinten weg. Aber da war die geballte Ansammlung weicher weiblicher Formen, die sich nicht so schnell durchdringen ließ.

Die enttäuschten, ungläubigen Blicke der Käuflichen trafen ihn bis ins Mark. Der Zimmermann packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich heran. Davenport zappelte vergeblich. Die Augen schienen ihm aus den Höhlen zu quellen.

„Du wirst dich bei Anthony entschuldigen“, zischte Mulhollen. Sein Gesicht war nur um Fingerbreite von dem käsigen Weiß des anderen entfernt. „Jetzt sofort. Mit folgendem Wortlaut: Sehr geehrter Mister Armstrong, ich bitte Sie für meine Unverschämtheit vielmals um Entschuldigung. Hast du das? Wiederhole das!“ Er schüttelte ihn.

„Niemals!“ kreischte Davenport. „Das ist unter meiner Würde! Das brauche ich nicht zu tun!“

„Dann werden wir dich eben ein bißchen zwingen“, entgegnete Mulhollen mit hartem Grinsen.

Er wollte sich mit dem Zappelnden in Bewegung setzen, um ihn zum Podest des Lautenspielers hinüberzuschleifen.

Urplötzlich begann Davenport, sich wie wahnsinnig zu gebärden. Mit aller Kraft, die er hatte, schlug und trat er um sich. Dazu schrie er mit schriller Stimme.

Mulhollen war auf diese Verrücktheit nicht gefaßt gewesen. Deshalb traf ihn ein Tritt des Ehrenwerten sehr empfindlich. Er krümmte sich und ließ den Kerl ungewollt los. Mulhollens Gefährten, die eingreifen wollten, waren nicht rechtzeitig zur Stelle.

Davenport warf sich herum und schnellte auf die Front der „Ladys“ zu. Kreischend wichen sie auseinander. Einige stürzten, und ein zeterndes Knäuel von buntgewandeten Leibern entstand.

Der Hochwohlgeborene schaffte es, sich freizukämpfen und auf den Ausgang zuzustürmen. Die Kaufleute mischten sich nicht ein. Gregory Mulhollen und die anderen nahmen die Verfolgung auf. Ihre Schritte hallten durch die Gassen.

Anthony Armstrong stimmte sein Lied an.

„Er war ein ra – ha – ben – schwa – ha – rzer Hund!“ Er synkopierte die darauffolgenden Akkorde mit grellem Klang, und die in der Schenke Verbliebenen klatschten begeistert. Es gab jetzt niemanden mehr, der den Lautenspieler unterbrochen hätte.

„Seine Seele, die war ein Abgrund!“

2.

Luke Morgan und Roger Brighton legten in ihrem gemächlichen Rundgang über das Hauptdeck eine Pause ein. Wie auf ein nicht ausgesprochenes Kommando schoben beide ihre Unterarme auf die Backbord-Verschanzung und blickten über die Themse.

Die Schebecke lag nach wie vor an der Towerpier, und die Männer der nächtlichen Deckswachen waren längst mit dem Bild vertraut, das die Stadt bei Dunkelheit bot.

Auf dem schwarzen Wasser des Flusses erzeugten die Lampen der Tower Bridge Reflexe, die wie tanzende kleine Irrlichter aussahen. Die Häuser Londons waren kantige Schatten, die sich vor der Helligkeit weniger Lampen und Fackeln in Stangenkörben nur verschwommen abzeichneten.

„Nach allem, was man so gesehen hat“, murmelte Luke nach einer Weile, „ist es eher schlechter geworden.“

„Von was redest du?“ fragte Roger, der Bruder des Ersten Offiziers.

„Von London. Oder besser: vom Leben in London.“

„Wie sollte es besser werden? Immer mehr Leute verlassen die ländlichen Gebiete, weil sie von den Lords doch nur geknechtet werden und nicht genug zu beißen haben. Was bleibt ihnen? Sie suchen Zuflucht in London, weil irgendein Schwachkopf ihnen erzählt hat, es gäbe hier Arbeit und Brot. Und wenn sie nach fürchterlichen Strapazen dann endlich hier sind, müssen sie feststellen, daß es ihnen noch verdammt viel schlechter als unter der Tyrannei ihres Landlords geht. Es gibt keine Arbeit, und in den Unterkünften werden sie für teures Geld zusammengepfercht wie Vieh.“

„Stimmt.“ Luke, der einst aus der englischen Armee desertiert war, nickte. „Es brauchen dann nur noch Seuchen auszubrechen, und sie sterben wie die Fliegen. Aber weißt du, was ich glaube?“

„Was?“ Roger sah den kleinen dunkelblonden Mann an.

„Ich glaube, die meisten, die herkommen, leben von der Hoffnung. Zum Beispiel von der, daß sie eine Passage in die Neue Welt ergattern. Daß man dazu aber eine Menge Geld zusammenkratzen muß, ist wohl den wenigsten bewußt.“

Roger Brighton brummte zustimmend. „Ganz zu schweigen von den Kapitänen, die den armen Seelen das Fell über die Ohren ziehen. Ich kann mir vorstellen, daß manche drüben anlangen und an Hunger krepieren.“

„Wenn es sie nicht schon während der Überfahrt erwischt hat“, sagte Luke. „Hast du mal davon gehört, wie es auf diesen Kähnen aussieht, wenn sie mit ihrer menschlichen Ladung über den Atlantik klüsen?“

Roger wollte etwas entgegnen, aber ein Geräusch hielt ihn davon ab. Es hallte in den Gassen nach. Die beiden Männer drehten sich um. Erst bei näherem Hinhören war festzustellen, daß es sich um Schritte handelte, sehr schnelle Schritte.

Luke und Roger liefen zur Backbordseite. Noch während sie die Verschanzung erreichten, sahen sie den hastenden Schatten. Er huschte durch den Lichtkreis eines Pechfeuers, das in einem doppelt mannshohen Stangenkorb an der Landseite der Pier brannte. Gleich darauf dröhnten weitere Schritte aus den nahen Gassen. Eine ganze Meute von Verfolgern schien dem Kerl im Nacken zu sitzen.

Im nächsten Moment glaubten die beiden Deckswachen, ihren Augen nicht mehr trauen zu dürfen.

Der Fliehende rannte haargenau auf sie zu. Noch bevor sie ihre Verblüffung überwunden hatten, war er bei ihnen an Bord. Sie schafften es eben noch, ihn an den Oberarmen zu packen und daran zu hindern, sich irgendwo an Deck zu verkriechen.

Der Fremde ruckte und zerrte verzweifelt. Aber gegen den eisenharten Griff der Arwenacks konnte er nichts ausrichten.

Bevor sie eine Frage stellen konnten, polterten die Verfolger mit harten Stiefelsohlen über die Planken der Pier.

„Nein!“ kreischte der Zappelnde in panischem Entsetzen. „Laßt mich los! Laßt sie nicht an Bord! Sie schlagen mich! Sie bringen mich um! Sie zerstückeln mich mit ihren Messern!“

Luke und Roger dachten nicht daran, den Kerl freizugeben. An Bord der Schebecke hatte er nichts verloren. Schließlich war der Dreimaster kein Zufluchtsort für alle möglichen Londoner Halunken, die sich in irgendeine Auseinandersetzung verstrickt hatten.

Andererseits verbot das Gerechtigkeitsempfinden den beiden Männern, den Kreischenden einfach auf die Pier zurückzustoßen und ihn den Verfolgern auszuliefern. Es war immerhin nicht auszuschließen, daß man damit einem Verbrechen den Weg bereitete. Wer konnte wissen, ob dieser Bursche etwas ausgefressen hatte oder nicht?

Auf der Pier gelangte der Pulk der Verfolger zum Stehen. Ungefähr zwanzig Männer waren es, die sich dem bläßlich aussehenden Kerl an die Fersen geheftet hatten. Ihr Anführer war ein riesenhafter Mann, ebenso ordentlich gekleidet wie alle anderen. Wie Galgenstricke sahen sie wahrhaftig nicht aus.

„Ich bin Gregory Mulhollen“, sagte der Riese. „Wir verfolgen diesen Strolch, weil er eine Tracht Prügel verdient hat.“ In kurzen Sätzen schilderte er, was sich in der Schenke „Red Dragon“ zugetragen hatte.

Luke Morgan und Roger Brighton nickten im Schein der Bordlaterne. Sie drehten Davenport zur Pier hin um, so daß er gezwungen war, Mulhollen und die anderen anzusehen. Er zitterte spürbar und stemmte sich gegen den harten Griff der beiden Männer. Aber gegen ihre Muskelkraft hatte er keine Chance.

„Stimmt es, was Mister Mulhollen sagt?“ herrschte Luke ihn an.

„Wenn es so ist, sollten wir ihn tatsächlich von Bord scheuchen“, sagte Roger Brighton zu seinem Gefährten.

Davenport straffte seine Haltung und warf den Kopf in den Nacken.

„Ich bin nicht ohne Grund auf dieses Schiff geflohen“, schnarrte er mit neu erwachendem Dünkel. „Ich bin Passagier dieses Schiffes. Durch Order der Königin!“

Die Männer auf der Pier waren ebenso verblüfft wie Luke und Roger.

„Fein“, sagte Luke schließlich. „Spielen wir ruhig weiter Märchenstunde. Ich bin der Kaiser von China. Wenn die Königin von England einen Passagier auf meinem Schiff unterbringen möchte, muß sie mich erst mal um eine Audienz bitten.“

Mulhollen und die anderen lachten. Auch Roger Brighton grinste.

„Ich habe nicht nötig, mit einfachem Decksvolk zu diskutieren“, sagte Davenport von oben herab. „Ich verlange, den Kapitän zu sprechen. Und zwar sofort. Als Passagier seines Schiffes genieße ich mindestens die Rechte eines Offiziers.“

 

„Weißt du, was du genießt?“ brüllte Mulhollen. „Das Recht auf einen Tritt in den Hintern!“

„Du sprichst mir aus der Seele, Mister Mulhollen“, sagte Luke Morgan.

Roger Brighton zeigte Anstalten, mit dem linken Fuß auszuholen und tatsächlich zuzutreten.

Davenport zuckte zusammen und bog sich in der Körpermitte entsetzt vor, um dem Tritt auszuweichen. Die Männer auf der Pier grölten Beifall. Roger trat jedoch nicht zu.

„Ich verbitte mir solche Unverschämtheiten“, zischte der Hochwohlgeborene. „Ich verlange, losgelassen zu werden und den Kapitän zu sprechen. Auf der Stelle! Eure Strafe wird empfindlich ausfallen, wenn ihr nicht gehorcht.“

Luke und Roger wechselten einen Blick und konnten nur ungläubig den Kopf schütteln. Sie hatten ja nun schon einige Erfahrung mit jener Sorte Adliger, die sich durch besonders hirnrissige Blasiertheit auszeichnete. Aber dieser Bursche schien wirklich allem die Krone aufzusetzen.

„Laßt euch nicht von diesem Drecksack einwickeln“, warnte Gregory Mulhollen. „Wahrscheinlich will er sich nur davor drücken, uns das Geld zurückzuzahlen, das er uns schuldet. Bestimmt denkt er, wir geben auf, wenn er die Geschichte nur genug in die Länge zieht.“

„Unverschämtes Pack!“ schnaubte Davenport. Abermals wurde seine Stimme schrill. „Wenn ich jetzt nicht sofort zum Kapitän gebracht werde …“

„Was dann?“ unterbrach ihn eine eisige Stimme vom Achterdeck her.

Wieder schien es, als hätte Davenport einen Hieb erhalten. Er zog den Kopf ein Stück ein und drehte sich furchtsam um. Luke und Roger grinsten erleichtert. Mulhollen und die anderen blickten gespannt herauf. Wieder gewann Davenport seine Selbstherrlichkeit zurück.

„Sind Sie der Kapitän?“ schnarrte er.

„Allerdings“, erwiderte Philip Hasard Killigrew und trat an die Verschanzung, so daß er auch die Männer auf der Pier sehen konnte. Mit einem einzigen Blick erfaßte er, daß es sich ausnahmslos um Kerle handelte, die das Herz auf dem rechten Fleck hatten. Offenheit und Ehrlichkeit in ihren Gesichtern waren zweifelsfrei zu erkennen.

„Höchste Zeit, daß Sie erscheinen“, sagte Davenport in einem Ton, als spräche er mit einem Dienstboten. „Ich bin Ihr Passagier, Kapitän. Killigrew, nicht wahr?“

„Für Sie Sir Hasard“, entgegnete der Seewolf trocken.

Davenport schluckte. Ihm war klar, daß er sich normalerweise als kleines Licht betrachten mußte. Verglichen mit dem Rang dieses hochgewachsenen breitschultrigen Mannes hatte er weder besondere Titel noch irgendwelche Auszeichnungen vorzuweisen.

Nichtsdestoweniger kam es aber darauf an, als was man sich fühlte. In dieser Beziehung stand er natürlich haushoch über allen anderen. Je länger man sich etwas einredete, desto mehr war man schließlich davon überzeugt.

Dieser Grundsatz hatte ihn stets weitergebracht. Dabei würde es auch bleiben. Man mußte seiner Umgebung nur durch ein geeignetes eigenes Verhaltensmuster vor Augen führen, wie tief sie unter einem stand.

„Selbstverständlich, wie Sie wünschen, Sir Hasard“, sagte er steif. „Ich bin gern bereit, die Situation aufzuklären. Wenn Sie zunächst freundlicherweise veranlassen wollen, daß diese Schiffsknechte mich endlich loslassen …“

„Mister Morgan und Mister Brighton sind gleichberechtigte Mitglieder der Crew“, unterbrach ihn der Seewolf unverändert kühl. „Eine Rangordnung gibt es an Bord dieses Schiffes nur für den Zweck, einen reibungslosen und disziplinierten Betrieb zu ermöglichen. Mister Morgan und Mister Brighton werden Sie dann loslassen, wenn ich es für richtig halte. Zunächst sind Sie nichts weiter als ein Eindringling, der sich unerlaubt Zutritt verschafft hat.“

Davenport blinzelte. Sein Adamsapfel bewegte sich ruckend auf und ab.

„Nun gut“, sagte er gepreßt, „dann werde ich den Sachverhalt schildern.“

„Nicht Sie“, sagte der Seewolf. Er wandte sich zur Pier. „Mister Mulhollen, das Wesentliche Ihrer Geschichte habe ich bereits mitgehört. Wieviel Geld schuldet Ihnen dieser Mann?“ Er deutete mit einer Handbewegung auf Davenport, der die Nase schon wieder ein Stück höher hielt.

Der Zimmermann nickte, denn er begriff, auf was Hasard hinauswollte.

„Einen Augenblick, Sir!“ Er drehte sich zu seinen Gefährten um und befragte sie. Dann, nach kurzem Zusammenzählen, wandte er sich wieder dem Seewolf zu. „Insgesamt sechs Pfund, Sir.“

„Gut“, erwiderte Hasard. „Würden Sie sich zufriedengeben, wenn Mister Davenport Ihnen das Geld zurückzahlt? Jetzt, sofort?“

Der Hochwohlgeborene wurde weiß wie ein Laken.

Mulhollen beratschlagte abermals mit den anderen Männern. Dann stimmte er zu. „Ich fürchte allerdings, Sir, daß wir die Sache lediglich verlagern. Wenn er Geld bei sich hat, dann nur solches, das er sich woanders geborgt hat.“

„Das ist dann sein Problem“, erwiderte Hasard grinsend. Er gab Luke und Roger einen Wink. „Durchsuchen!“

„Mit Vergnügen“, antwortete Roger.

Davenport schrie voller Empörung, als sie ihm kurzerhand die Arme auf den Rücken drehten. Roger hielt ihn fest, während Luke seine Taschen durchwühlte. Es klimperte vernehmlich. Luke brachte eine Handvoll Silbermünzen zum Vorschein. Mulhollen hatte unterdessen die Schuldscheine eingesammelt, trat an die Verschanzung und reichte sie herauf. Hasard warf einen kurzen Blick auf die zerknitterten Papierfetzen. Die errechnete Summe stimmte.

„Sechs Pfund“, sagte der Seewolf. „Und ein Pfund zusätzlich als Entschädigung für den Musikanten.“

Die Männer auf der Pier johlten Beifall.

„Also sieben Pfund!“ rief Luke Morgan und zählte mit erhobenen Händen sieben Münzen ab. Den Rest steckte er wieder in Davenports Tasche, dazu die Schuldscheine, die Hasard ihm übergab. Luke händigte dem Zimmermann die Münzen aus.

„Was die Behauptung dieses sehr ehrenwerten Gentleman betrifft“, sagte Hasard, „werden wir morgen überprüfen, was daran stimmt. Wenn er wirklich Passagier sein sollte, muß er das ja beweisen können. Solange wird er wegen unbefugten Betretens unseres Schiffes in die Vorpiek gesperrt.“

Mulhollen und die anderen taten erneut lauthals ihren Beifall kund.

Davenport schrie voller Empörung. „Dazu haben Sie kein Recht, Killigrew! Das dürfen Sie nicht! Ich werde Sie vor Gericht bringen! Sie werden …“

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