Seewölfe - Piraten der Weltmeere 476

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 476
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Impressum

© 1976/2018 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-884-3

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Auf der Großen Bank

Die Riffe waren gefährlich genug – aber nicht für den Kapitän der „Empress“

Mit dem Ausplündern nichtspanischer Schiffe auf der Reede vor Havanna war es aus, wie Alonzo de Escobedo, der neue Gouverneur, zu seinem Leidwesen feststellen mußte. Er erinnerte sich jedoch an gewisse Transporte, die sein ehrenwerter Vorgänger nach Süden hatte durchführen lassen. Unter der Folter verriet ihm Miguel Cajega, der Fuhrunternehmer, das Geheimnis dieser Transporte – vor allem ihren Endpunkt, nämlich das Versteck, wo Kisten, Truhen und Fässer lagerten. Dorthin brach de Escobedo mit dem gefangenen Fuhrunternehmer auf, ohne zu ahnen, daß ihm zwei Männer folgten: Jean Ribault und Roger Lutz. Es nutzte de Escobedo gar nichts, nach Erreichen des Verstecks Cajega umzubringen: Jetzt waren auch Jean Ribault und Roger Lutz Mitwisser …

Die Hauptpersonen des Romans:

Jean Ribault – was er zusammen mit Roger Lutz entdeckt hat, ist mehr als Gold wert.

Alonzo de Escobedo – würde am liebsten in einer Truhe voller Münzen ein Bad nehmen.

Jussuf – der Türke richtet eine neue Taubenflugroute ein.

Old Donegal O’Flynn – beweist sein Talent, der „große Aufbrummer vom Dienst“ zu sein.

Don Antonio de Quintanilla – sieht für sein trauriges Dasein doch noch einen Hoffnungsschimmer.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Es war ein Paradies.

Die Menschen in der Alten Welt konnten davon bestenfalls träumen. Aber nicht einmal die blühendste Phantasie reichte aus, um sich diese überwältigende Pracht vorstellen zu können. Dies mußte man mit eigenen Augen gesehen haben. Ohne die Erinnerung daran, davon waren Jean Ribault und Roger Lutz überzeugt, konnte man vor seinem geistigen Auge auch kein Abbild dieser üppigen landschaftlichen Schönheit entstehen lassen.

Als die Morgensonne an diesem 8. Mai 1595 ihr goldenes Licht über die Höhenzüge in das Tal schickte, war es wie das Erblühen einer kostbaren Blume, die ihren Betrachter mit einem von Sekunde zu Sekunde wechselnden Farbenspiel verwöhnt.

Für die beiden Männer, die aus ihrem Versteck in das idyllische Flußtal hinunterblickten, war es ein überwältigendes Schauspiel. In ihrer Schönheit war die Szenerie geradezu unwirklich.

„Wie eine Frau, die sich dir Stück für Stück offenbart“, sagte Roger Lutz hingerissen und mit verklärtem Blick. „Da kannst du mit dem Auge Entdeckungsreisen unternehmen, und du wirst jedesmal etwas finden, was dich von neuem begeistert.“

Jean Ribault bedachte seinen Gefährten mit einem spöttischen Seitenblick.

„Jetzt mal eine ehrliche Antwort, Roger. Gibt es auf dieser Welt irgend etwas, das dich nicht an eine Frau erinnert?“

Der schwarzhaarige Charmeur grinste. Jedes Mitglied der Ribault-Crew kannte alle Einzelheiten seiner vielen Abenteuer. Denn er pflegte keine Gelegenheit auszulassen, den Kameraden brühwarm über seine Erfolge beim schwachen Geschlecht zu berichten.

Lediglich den einen Bericht pflegte Roger zu unterschlagen – nämlich jene Schilderung der Ereignisse, die sich in Zusammenhang mit der Galeone der Komödianten vor der Westküste Neuspaniens zugetragen hatten. Diese Geschichte brauchte Roger ohnehin niemandem zu erzählen, denn sie erinnerten sich alle nur zu gut daran. Schließlich hatten sie ihn sich gehörig vorgeknöpft, nachdem er sie alle ausgetrickst und trotz der ausdrücklichen Anweisung des Seewolfs den Schürzenzipfeln in der munteren Schauspielertruppe nachgestellt hatte. Von Erfolg war keine Rede gewesen, und so hatte Roger diese traurige Episode seither nie wieder erwähnt.

„Willst du behaupten, daß ich irgendwann geflunkert habe?“ entgegnete er mit zwinkernden Augen.

„Was deine Amouren betrifft, trägst du manchmal ein bißchen dick auf. Das kannst du nicht abstreiten.“

„Alles Tatsachen“, erklärte Roger. „Ich lasse nichts weg, und ich beschönige nichts.“

„Schon gut, schon gut.“ Jean seufzte in gespielter Enttäuschung. „Ich sehe, du weichst aus.“

„Überhaupt nicht“, entgegnete Roger protestierend. „Wenn du dir das Wörtchen ‚ehrlich‘ geschenkt hättest, wäre ich gleich zur Sache gekommen.“

„Und die wäre?“

Der Schwarzhaarige, der im übrigen einer der besten Degenkämpfer in der Ribault-Crew war, grinste noch breiter.

„Die Welt ist weiblich, Jean. Da gibt es wirklich nichts, was einen nicht an eine Frau erinnert.“

Jean Ribault schüttelte den Kopf und wandte sich wieder dem geradezu berauschenden Anblick des Tales zu. Wenn es um das bewußte eine Thema ging, konnte man mit Roger Lutz meist kein vernünftiges Wort reden. Er hätte es sich denken müssen.

Dieses Flußtal an der Südküste von Kuba lud indessen wahrhaftig zu einer Entdeckungsreise mit dem Auge ein.

Und doch war es kein Paradies ohne Makel.

Ein Mord war geschehen.

Aus den niederträchtigsten Beweggründen, die man sich nur denken konnte, hatte ein Raffgieriger seinen lästigen Mitwisser aus dem Weg geräumt. Miguel Cajega, der Fuhrunternehmer aus Havanna, war gewiß kein Engel gewesen. Denn immerhin hatte er mit Don Antonio de Quintanilla zusammengearbeitet. Der Fettsack, der unterwegs war, um sich beim Allerkatholischsten in Madrid den Titel eines Vizekönigs abzuholen, gehörte ohne jeden Zweifel zu den menschlichen Zerrbildern, die nichts als Abscheu erregen konnten.

Und Alonzo de Escobedo, Nachfolger des Gouverneurs in Havanna, stand seinem Amtsvorgänger an Niedertracht und Verschlagenheit keineswegs nach. Es gab nichts, womit sich de Escobedo für den heimtückischen Mord rechtfertigen konnte, den er an diesem paradiesischen Ort begangen hatte.

Das Flußtal befand sich etwa drei Meilen westwärts von Batabanó an der kubanischen Südküste. In ihrem Versteck, einer kleinen Höhle am nördlichen Hang des Tales, hatten die beiden Franzosen während der Nachtstunden abwechselnd gewacht. Jetzt, da sie das Tal im gleißenden Licht der Morgensonne vor sich sahen, stellten sie fest, daß sich offenbar nichts geändert hatte.

De Escobedo war nicht zu sehen.

Das Flußtal, soviel wußten die Freunde, schlängelte sich an der Küste entlang etwa eine Meile ostwärts, bog dann nördlich von Batabanó nach Süden ab und mündete ins Meer – in den Golf von Batabanó.

Ein stetes Rauschen war von jener Stelle zu hören, die nur einen Steinwurf weit vom Versteck der beiden Männer entfernt war. Die Geräuschkulisse, die bisweilen einen dumpfen, grollenden Unterton zu haben schien, wurde von einem mächtigen Wasserfall hervorgerufen. Vor einer felsigen Steilwand, die zugleich das westwärtige Ende des Flußtales bildete, stürzten die Fluten in die Tiefe – im Licht der Morgensonne wie ein schillernder Vorhang aus Millionen silbriger Fäden.

Was sich hinter diesem Wasserfall verbarg, konnte niemand auch nur im entferntesten vermuten. Nirgendwo gab es auch nur den winzigsten Hinweis auf das Geheimnis der Felswand. Und wären Jean Ribault und Roger Lutz nicht Zeugen gewesen, wie de Escobedo von seinem späteren Opfer Cajega hinter den Wasserfall geführt worden war, dann wären sie wahrscheinlich ahnungslos an den verborgenen Schätzen de Quintanillas vorbeimarschiert.

Das zusammengeraffte Vermögen des bisherigen Gouverneurs von Kuba befand sich hier, in diesem paradiesischen Flußtal. Doch war er natürlich nicht in der Lage gewesen, seine Schätze allein und unbemerkt hierher zu schaffen. Er hatte Helfer für den Transport gebraucht. Der Mann, der das alles für Don Antonio in die Wege geleitet hatte, war Miguel Cajega gewesen, Fuhrunternehmer in Havanna. Sein Wissen um das Schatzversteck hatte er mit dem Leben bezahlen müssen.

Alonzo de Escobedo, der sich jetzt Gouverneur von Kuba nennen durfte, hatte seinen Informanten an Ort und Stelle ermordet.

Dabei war Cajega zweifellos voller Hoffnung gewesen. Eine trügerische Hoffnung, wie sich gezeigt hatte. Ihm war es nicht anders ergangen als so vielen Menschen, die man unter der Folter zerbrochen hatte. Wie in Havanna und an anderen Orten der Welt glaubten die Geschundenen und Gedemütigten, mit ihrer Aussage alle Qualen abschütteln und neu beginnen zu können. Es war der Trugschluß, dem sie durch ihre gemarterten Sinne erlagen. Denn sie glaubten, in ihren kaltlächelnden Bezwingern einen Hauch von Menschlichkeit zu sehen, den es nicht gab.

De Escobedo mußte ein Musterbeispiel für solche Kaltschnäuzigkeit sein.

 

Die Männer vom Bund der Korsaren hatten miterlebt, wie der sehr ehrenwerte neue Gouverneur von seinen Schergen die auf Reede liegenden Handelsschiffe überfallen, in eine abgelegene Bucht verholen und ausplündern ließ. Und Jean Ribault und Roger Lutz hatten es immerhin geschafft, die verbrecherischen Machenschaften de Escobedos von einem Tag auf den anderen zu beenden. Gerade noch rechtzeitig war die Meute der Schnapphähne mit ihren angebohrten Booten auf Tiefe gegangen und von Haien zerfleischt worden. Denn anderenfalls wären ein französischer Kapitän und seine Mannschaft den menschlichen Haien zum Opfer gefallen.

Möglicherweise hatte diese jäh versiegte Einnahmequelle zum Entschluß de Escobedos beigetragen, die Mitwisserschaft Cajegas zu nutzen und sich zur Quelle traumhaften Reichtums führen zu lassen. Cajegas Bereitwilligkeit war durch das hochnotpeinliche Verhör herbeigeführt worden – und zum Schluß hatte er doch sein Leben lassen müssen. Der Emporkömmling, der sich Gouverneur von de Quintanillas Gnaden nennen durfte, erwies sich als geldgierige Bestie, die ihren Handlanger mit einer Kugel entlohnte.

Am gestrigen Nachmittag war de Escobedo unvermittelt aus dem Versteck aufgetaucht, nachdem er Cajega ermordet hatte. Dieser Bastard von einem Gouverneur schien eindeutig übergeschnappt gewesen zu sein. Sein Kichern hatte irre geklungen. Vermutlich fühlte er sich bereits als Krösus, und das konnte die wahnwitzigsten Folgen haben. Plötzlicher Reichtum vernebelte nur allzuoft das Gehirn jener Menschen, die davon befallen wurden – was im Fall de Escobedos zu besonders verrückten Überlegungen führen mußte.

Wahrscheinlich wälzte er schon die nächsten Mordpläne, während er mit gierigen Fingern in Gold und Edelsteinen wühlte.

Denn Alonzo de Escobedo mußte über kurz oder lang mit der Rückkehr des neuen Vizekönigs rechnen. Nach den Grundsätzen der Logik blieben dem Mörder nur zwei Möglichkeiten. Entweder brachte er Don Antonio um – dann konnte der Schatz zunächst im Versteck hinter dem Wasserfall bleiben. Oder er ließ den Schatz bergen, dann jedoch mußte er in eine Gegend verschwinden, in der ihn keine Häscher jemals aufspüren konnten.

Beide Möglichkeiten waren nach Einschätzung der beiden Männer vom Bund der Korsaren mit erheblichen Risiken verbunden. Deshalb warteten sie voller Spannung darauf, wie sich de Escobedo weiter verhalten würde.

Vielleicht trauten sie ihm aber auch zuviel zu. Vielleicht hatte er an diesem Morgen ganz andere Gedanken, und es kam ihm überhaupt nicht in den Sinn, all diese Probleme zu wälzen. Denn irgendwie schien er haargenau die Art Mensch zu sein, die sich vom Reichtum Trugbilder vorgaukeln ließ.

Was die beiden Männer in ihrem Versteck jedoch nicht wissen konnten, war eine andere Tatsache. Don Antonio de Quintanilla war zu diesem Zeitpunkt bereits ein Gefangener des Seewolfs. Aber genau das wußte auch Alonzo de Escobedo nicht.

Eine tausendköpfige Menge hatte sich auf der Plaza versammelt. Düstere Hausfassaden säumten die gepflasterte Fläche. Es schien, als würden die Giebel jeden Moment einstürzen und ihn, den einsamen Mann, erschlagen. So einsam wie in diesen letzten Minuten seines Lebens war er nie zuvor gewesen – und das, obwohl die vielen Gaffer da waren.

Die Folterknechte hatten ihn an einen mannshohen Pfahl gefesselt, mit den Händen auf dem Rücken. Auf einer seltsam hohen Tribüne saßen prunkvoll gekleidete Adlige mit kalkigen Gesichtern, die abwechselnd in Nebelschwaden zerfaserten und wieder auftauchten. Nur die Augen schienen an diesen Pudergestalten zu leben – Augen voller boshafter Schadenfreude.

Der Scharfrichter war deutlicher zu erkennen, ein vierschrötiger Kerl mit nacktem Oberkörper und kahlem Schädel. Sein lederner Hüftgurt war mehr als handtellerbreit, daran hingen Säbel, Messer und Äxte wie ein eiserner Lendenschurz über der Leinenhose.

„Angeklagter!“ ertönte eine schrille Stimme aus den Reihen der Kalkgesichter. „Angeklagter Alonzo de Escobedo! Sie haben versagt – versagt – versagt …“

Es war wie ein hohlklingendes Echo aus der Tiefe einer Felsenschlucht.

„Nein!“ wimmerte er und schloß gequält die Augen. „Ich habe immer meine Pflicht getan – meine Pflicht – meine Pflicht …“

Die schrille Stimme peitschte dazwischen.

„Schweig! Du hast fremde Handelsschiffe im Hafen von Havanna vertäuen lassen, statt sie um ihre Ladung zu erleichtern. Wir haben mit dieser Einnahmequelle gerechnet, de Escobedo! Was sollen wir jetzt tun?“

„Den Versager bestrafen!“ schrie eine meckernde Stimme aus den wabernden Nebelschwaden, in denen die Kalkgesichter auf merkwürdige Weise zu tanzen schienen.

„Sehr richtig“, meldete sich wieder die Stimme, die zuvor zu hören gewesen war. „Versager werden mindestens mit dem Tode bestraft. De Escobedo, du wirst sterben – sterben – sterben …“

Er wollte schreien und abwehrend die Arme ausstrecken, doch wegen der Fesseln konnte er sich nicht bewegen. Dann schob sich plötzlich die grinsende Visage des Scharfrichters in den Vordergrund. Ein unangenehmer Geruch stieg auf.

Im nächsten Moment verschwand die grinsende Visage hinter gleißender Helligkeit. Eine glühende Säbelspitze!

Sie blendeten ihn!

„Wenn wir dich hinrichten“, rief der Scharfrichter höhnisch, „brauchst du keine Augenbinde mehr! Das erspart uns Kosten!“

Die Meute der hoch oben thronenden adligen Pudergestalten stimmte ein meckerndes Lachen an.

Grell und sengend heiß stach der Schmerz in de Escobedos Augen. Auf einmal waren es zwei glühende Säbelspitzen, die ihn gleichzeitig trafen und seinen Schädel zu durchbohren schienen.

Schweißgebadet fuhr er hoch und hörte das Echo seines Angstschreis.

Es dauerte lange Sekunden, bis er in die Wirklichkeit zurückfand. Sein Herzschlag raste, er stierte entsetzt in diese sengende, alles verzehrende Helligkeit, bis er endlich begriff. Es war die Morgensonne, die ihm in die Augen gestochen hatte. Im Traum war daraus der glühende Säbel des Scharfrichters geworden.

De Escobedo setzte sich auf. Er wandte den Kopf zur Seite, und die Blendwirkung ließ nach. Das idyllische Flußtal mit den rauschend herabstürzenden Fluten des Wasserfalls war Wirklichkeit. Und in dieser Wirklichkeit existierte kein Scharfrichter, der ihn erst blendete, um ihn dann vermutlich auf grausamste Weise umzubringen. Der Anblick des Flußtales war wohltuend, erleichternd und beruhigend. Denn es verschwand nicht, löste sich nicht in Nebelschwaden auf und ließ auch keine höhnisch grinsenden Visagen auftauchen.

Er sah den Wasserfall. Beinahe schlagartig kehrte die Erinnerung zurück.

Er war reich!

Unermeßlich reich.

Er mußte nicht sterben, sondern er war dazu ausersehen, ein Leben in Luxus zu führen. Das wirkliche Schicksal meinte es unendlich besser mit ihm als der schreckliche Alptraum.

Ein Freudenschrei war es, der sich seiner Kehle entrang. Er sprang auf und rannte mit ausgebreiteten Armen los, auf den Wasserfall zu. In den staubfeinen Wasserschwaden, die am Fuß der Felswand aufstiegen, brach sich das Sonnenlicht und erzeugte schillernde Farbbögen. Es war ein Anblick überwältigender Schönheit, doch de Escobedo hatte nur den Sims im Auge, den er in fieberhafter Hast erklomm.

Dann erreichte er den Höhleneingang. Feucht und kühl war die Luft, die ihn empfing. Dröhnend hallten seine Schritte von den glitzernden Wänden des Ganges zurück. Dann sah er die ersten Kisten vor sich. Bei Gott, es war noch alles vorhanden. Auch dies war Wirklichkeit, berauschend schön. Alonzo de Escobedo war überzeugt, in dieser Minute der glücklichste Mensch der Welt zu sein.

Er ging ein paar Schritte weiter und erreichte eine abzweigende Höhle, in der die Zahl der Kisten beinahe unüberschaubar war. Don Antonio hatte saubere Arbeit leisten lassen. Alle Behälter, ob Kisten, Fässer oder Truhen, waren in gewachste Leinwand eingeschlagen, damit sie auf diese Weise gegen die Feuchtigkeit geschützt wurden.

Alonzo de Escobedo hatte das Gefühl, auf watteweichen Wolken zu schweben. Er zog sein Messer und stürzte mit einem Freudenschrei zu einem der Behälter. Mit ein paar kraftvollen Rucken schlitzte er das Wachstuch auf.

Eine messingbeschlagene Truhe kam zum Vorschein. Der Deckel war nicht einmal verschlossen, sondern lediglich mit dem Siegel des Gouverneurs gesichert. De Escobedos Augen leuchteten, als er das Siegel zerbrach und erwartungsvoll den Truhendeckel öffnete. Natürlich war dieses Versteck so sicher, daß Don Antonio es sich leisten konnte, auf Vorhängeschlösser zu verzichten.

Das Gleißen blendete den Nachfolger de Quintanillas. Einen Atemzug lang schloß er die Augen, und dann, als er sie wieder öffnete, hatte er den Eindruck, sie müßten ihm aus dem Kopf fallen.

Die Truhe war mit Goldmünzen gefüllt – bis an den Rand.

Minutenlang stand de Escobedo wie erstarrt.

Gewiß, er hatte geahnt, was sich hier verbarg. Es aber jetzt mit eigenen Augen zu sehen und fühlen zu können, war überwältigend.

Fühlen!

Der Gedanke ließ ihn vorstürzen. Beide Hände stieß er tief in die Münzen, schaufelte die unteren nach oben, genoß die Berührung mit dem kühlen Edelmetall und stieß dabei grunzende Laute des Wohlbehagens aus. Es war wie ein Rausch, und wenn die Truhe größer gewesen wäre, hätte er sich ohne jeden Zweifel kopfüber in den Reichtum gestürzt, der jetzt ihm gehörte – ihm allein.

Endlos scheinende Minuten vergingen, bis er ruhiger wurde und zum zweiten Male an diesem Morgen in die Wirklichkeit zurückfand.

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