Seewölfe - Piraten der Weltmeere 324

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Seewölfe - Piraten der Weltmeere 324
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Impressum

© 1976/2017 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

eISBN: 978-3-95439-721-1

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Burt Frederick

Ehrenhändel

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

1.

Dünn und klagend wehte der Glockenklang. Lebensbäume standen groß und düster, das dichte Zweigwerk von Böen zerzaust. Die vielköpfige Schar der Menschen harrte unter peitschenden Regenschwaden aus.

„Asche zu Asche, Staub zu Staub …“ Die Worte des Geistlichen wurden vom Wind davongetragen.

Das Gesicht Arne von Manteuffels war wie aus Stein. Starr haftete sein Blick auf dem Sarg, der nun ins Grab gesenkt wurde. Eine heulende Bö zerrte an dem Blumenschmuck, als sollte der Toten auch dieses nicht mehr gegönnt werden.

Philip Hasard Killigrew spürte einen Druck in der Kehle, von dem er sich nicht befreien konnte. Mit jeder Faser seiner Gedanken konnte er nachempfinden, wie grausam der Schmerz für Arne sein mußte. Das Liebste auf der Welt war ihm genommen worden. Für Arne gab es keine Hoffnung mehr an diesem grauen Aprilmorgen. Und nur der letzte Rest seiner inneren Kraft hielt ihn aufrecht.

Die Männer, die ihre Schiffe im Hafen von Rügenwalde zurückgelassen hatten, standen stumm und ergriffen. Sie alle, die salzgewässerten Rauhbeine von der „Isabella IX.“ und der „Wappen von Kolberg“ erschauerten noch immer bei der Erinnerung an das furchtbare Geschehen – jenen Moment des Entsetzens, in dem Gisela Freiin von Lankwitz von der Kugel des Meuchelmörders getroffen wurde.

Gewiß, der Mörder hatte dafür mit dem eigenen Leben bezahlt, ebenso wie seine niederträchtigen Kumpane. Doch niemals konnte das den Schmerz Arne von Manteuffels tilgen und niemals; die Trauer der Männer, die mit ihm fühlten.

Nach der Beisetzung führte der Weg der Trauergemeinde vorbei an der Kirche von Rügenwalde. Dort hatten Arne und Gisela noch in diesem Monat vor den Traualtar treten wollen.

Dieser 7. April des Jahres 1593 sollte in bitterer Erinnerung bleiben, durch den Schmerz unauslöschlich eingeprägt in das Gedächtnis der Menschen, denen die Freiin von Lankwitz etwas bedeutet hatte.

Am Abend dieses grauen, wolkenverhangenen Tages kehrte Arne von Manteuffel nach Rügenwaldermünde zurück. Eine einspännige Kutsche des Gutes derer von Lankwitz brachte ihn bis zum Liegeplatz der Schiffe. Es war bereits fast dunkel geworden. Die Hecklaterne der „Isabella“ streute matte Helligkeit aus, auf den Planken und Verschanzungen schimmerte die Nässe des Regens. Anheimelndes Licht fiel aus den kleinen Fenstern der Achterdeckskammern.

Arne von Manteuffel wollte seine Schritte der „Wappen von Kolberg“ zuwenden, als er seinen Vetter erblickte. Hasard, der am Schanzkleid der Kuhl stand, hob die Hand zu einem stummen Gruß. Arne verharrte am Fuß der Stelling. Der Kutscher wendete und trieb das Pferd zurück in den trüben Abend.

„Ich will dich nicht bedrängen“, sagte der Seewolf, „aber ich würde dich jetzt gern bei mir an Bord sehen.“ Er wußte, daß er für diese Worte keinen Übersetzer brauchte und sein Cousin ihn auch so verstand. Ohnehin hatten sie seit ihrer ersten Begegnung in Wisby auf Gotland schon viel von der sprachlichen Barriere abgebaut, die sie trennte. Auch menschlich waren sie einander näher. In der kurzen Zeit ihres Zusammenseins hatten sie immer häufiger feststellen können, daß sie aus dem gleichen harten Holz geschnitzt waren.

„Woher wußtest du …?“ Arne sprach den Satz nicht zu Ende, während er zu seinem Vetter aufblickte. Da war etwas, das seine Stimme erstickte, und sein Gesicht hatte noch immer diesen wie versteinerten Ausdruck.

„Ich habe die Kutsche gehört“, entgegnete Hasard. „Komm an Bord. Ich will nicht, daß du dich verkriechst.“

Arne nickte mit zusammengepreßten Lippen. Dann enterte er über die Stelling auf. Seine Bewegungen waren müde wie die eines alten Mannes, der den größten Teil seines Lebens hinter sich hat.

Hasard gab Gary Andrews einen Wink. Gary war als Bordwache eingeteilt, und er verstand, daß Nils Larsen nun doch als Dolmetscher gebraucht wurde. Hasard legte seinem Vetter den Arm auf die Schulter und führte ihn in die Behaglichkeit der Kapitänskammer. Wenig später war Nils zur Stelle, der seit jenem denkwürdigen Zusammentreffen in Wisby ein besonderes Vertrauensverhältnis in der Beziehung der beiden Vettern erworben hatte.

Der Seewolf nahm eine Flasche Rotwein aus dem Schapp, stellte Gläser auf den Tisch und hängte den regenfeuchten Umhang seines Vetters weg. Dann setzte er sich Arne gegenüber. Nils schenkte ein. Der Wein funkelte rubinrot im geschliffenen Kristall.

„Ich fühle mich elend“, sagte Arne leise, „weil ich Giselas Familie alleingelassen habe. Einerseits glaubte ich mich verpflichtet, in ihrer Nähe zu bleiben. Andererseits hatte ich aber auch das Gefühl, daß sie in ihrer Trauer unter sich bleiben möchten, obwohl sie das natürlich nicht gesagt haben.“ Arne atmete tief durch, wie nach einer schweren Anstrengung.

Nils übersetzte so zügig und lückenlos, wie die Männer es schon seit vielen Gelegenheiten gewohnt waren. Es entstanden keine störenden Gesprächspausen, und für die beiden Vettern war es fast so, als sprächen sie die gleiche Sprache. Hasard hob das Glas und nickte Arne zu.

„Ich, meine, du hast richtig entschieden“, sagte der Seewolf, „die Eltern Giselas betrachten dich sicher nicht als einen Fremden. Trotzdem werden sie ihre Trauer in erster Linie als eine Familienangelegenheit empfinden. Sie haben Erinnerungen an ihre Tochter, die du mit ihnen nicht teilen kannst.“

Arne nickte mit starrer Miene und drehte das Glas zwischen seinen Fingern. Dann hob er den Kopf und sah Hasard fragend an.

„Ich weiß ein wenig über dein Schicksal, aber …“

Hasard lächelte kaum merklich.

„Du hast recht. Was ich gesagt habe, klingt schulmeisterhaft. Das ist es aber nicht.“ Er zögerte einen Moment, preßte die Fingerspitzen gegeneinander, und schließlich gab er sich einen Ruck. Mit wenigen Worten, um nicht seine eigenen Belange in den Vordergrund zu rücken, berichtete er über den tragischen Tod seiner Frau Gwendolyn, der Mutter seiner Söhne Philip und Hasard. Die Naturgewalten hatten ihm Gwen entrissen, damals, im Sturm bei der Flucht nach Calais.

In Arnes Augen entstand deutliche Betroffenheit.

„Das habe ich nicht gewußt. Es tut mir leid, daß ich an deinen Feststellungen gezweifelt habe. Dann ist Dan O’Flynn dein Schwager? Und Old Donegal dein Schwiegervater?“

„So ist es. Aber diese Zeit liegt hinter uns. Der alte Donegal und sein Sohn waren zumindestens genauso betroffen wie ich. Doch wenn die Erinnerung einmal wach werden sollte, verzweifeln wir nicht mehr an uns selbst. Das ist es, was ich zu sagen versuche. Der Schmerz, der einem zugefügt wird, läßt sich niemals ganz auslöschen. Aber die Zeit deckt die Wunden zu. Du wirst es selbst erfahren, Arne. Nur – es dauert lange. Von heute auf morgen kannst du es nicht überwinden.“

„Mein Gott“, flüsterte Arne von Manteuffel kaum hörbar, „ich fange an zu begreifen, welche Kraft du aufgebracht haben mußt. Erst der Tod deiner Mutter, dann das schreckliche Ende deines Vaters, meines Onkels. Und schließlich, als du geglaubt hast, ein kleines persönliches Glück erlangt zu haben …“ Abermals versiegte seine Stimme.

Hasard schüttelte den Kopf.

„Du bist in der Stimmung, die Dinge düster zu sehen. Das ist mehr als verständlich. Auch ich habe damals nicht daran geglaubt, daß das Leben noch einen Sinn haben könnte. Aber du bist nicht so schwach, daß du daran zerbrechen würdest.“

„Wenn ich mir diese Frage stelle, weiß ich im Augenblick keine Antwort darauf.“ Arne atmete schwer. „Es ist nicht allein die Trauer. Was vielleicht noch schwerer wiegt, sind die Selbstvorwürfe. Hätte ich nicht Giselas Tod verhindern können? Trifft mich nicht eine gewisse Schuld?“

Hasard und Nils Larsen wechselten einen Blick.

„Dann sind wir alle mitschuldig“, sagte Nils, der sich sonst nicht in das Gespräch einmischte.

„Allerdings.“ Der Seewolf nickte. „Warum hat keiner von uns daran gedacht, daß Erich von Saxingen und Bruno von Kreye uns auflauern könnten? Der Gedanke lag schließlich nahe, da wir Hugo von Saxingen als Gefangenen bei uns hatten.“

„Um Himmels willen, nein!“ rief Arne erschrocken. „Das habe ich damit nicht sagen wollen. Ich stehe tief in deiner Schuld, Hasard – nach allem, was du für mich getan hast. Das gilt ebenso für deine Männer. Und schließlich wart ihr es, die Erich von Saxingen zur gerechten Strafe für den Mord verholfen habt.“

Der Seewolf beugte sich vor und blickte Arne eindringlich an.

„Was für meine Männer und mich gilt, gilt ebenso für dich. Keiner von uns hat einen Grund, sich mit Vorwürfen zu plagen. Die Schicksalsschläge des Lebens kann man nicht überwinden, indem man sich selbst zerfleischt. Du mußt das begreifen. Und du wirst es begreifen. So gut habe ich dich mittlerweile kennengelernt.“

 

Arne senkte den Kopf. Minutenlang schwieg er. Dann hob er das Glas, nahm einen Schluck und setzte es mit einem entschlossenen Ruck wieder ab.

„Ich danke dir, Hasard. Ich verstehe alles, was du mir erklärt hast. Ich bin auch sicher, daß ich mich danach richten werde. Nur mußt du Geduld mit mir haben. Denn auch damit hast du recht: Von heute auf morgen läßt sich das alles nicht überwinden.“

„Aber du bist auf dem besten Weg dazu“, entgegnete der Seewolf. „Laß uns jetzt nicht mehr darüber reden. Ich habe etwas anderes zu sagen: Du brauchst Abstand von den Dingen, die dich belasten. Räumlichen und auch zeitlichen Abstand. Wie wäre es, wenn du uns begleitest?“

„Oh, es ist meine Pflicht, dir bei der Erfüllung deines Auftrags im Ostseeraum zu helfen. Bislang hast du immer nur etwas für mich getan. Es wird Zeit, daß ich mich auch ein wenig revanchieren kann.“

Hasard schüttelte den Kopf.

„Davon rede ich nicht. Ich meine die Zeit nach diesem Auftrag. Wir werden nach England zurückkehren und dann in die Neue Welt aufbrechen. Die Karibik wird unser Ziel sein. Und dann die Schlangen-Insel.“ Hasard konnte sich eines leisen Gefühls von Sehnsucht nicht erwehren, als er seinem Vetter von jener Insel berichtete, auf der freie Menschen wirklich noch frei sein konnten.

Tief in den Augen Arne von Manteuffels entstand ein Leuchten, kaum erkennbar noch, doch es war vorhanden. Hasard wußte, daß sein Vetter trotz des Schmerzes härter werden würde. Aber diese Härte würde sich nicht in Bitterkeit äußern.

„Du meinst“, sagte Arne schließlich, „ich sollte dich auf deinen Reisen begleiten?“

„Warum nicht? Du bist ein freier Mann.“

Arne zog die Schultern hoch und sog die Luft tief ein.

„Ich muß gestehen, der Gedanke ist verlockend. Und er trifft mich überraschend. Ich muß darüber nachdenken.“

„Natürlich. Ich will dich nicht überreden und dir nicht irgendwelche Träume vorgaukeln. Aber bedenke, daß du auch Nutzen für dein Kolberger Handelshaus ziehen könntest. Die Neue Welt ist in weiten Gebieten noch unerforscht. Da gibt es unbegrenzte Möglichkeiten. Du könntest Beziehungen anknüpfen und Bezugsquellen erschließen für Güter, die es in Deutschland bislang kaum gibt – Edelmetalle, Perlen und Edelsteine, Gewürze und Tabak, Zucker, Kakao, Indigo und vieles mehr.“

„Ich habe von diesen Gütern gehört“, sagte Arne und nickte, „aber der Handel damit wird doch von den Spaniern beansprucht.“

Hasard und Nils Larsen lächelten.

„Dieser Machtanspruch besteht für uns als Engländer nicht“, entgegnete Hasard, „das Recht, auf das sich die Spanier berufen, ist das Recht der Gewalt. Denke an Polens König Sigismund und sein Bernsteinmonopol. Nichts anderes treiben die Spanier auf ihre Weise. Diesem Machtstreben haben wir seit Jahren den Kampf angesagt. Mit Erfolg.“

„Daran zweifele ich nicht“, sagte Arne. Er leerte sein Glas. „Ich werde über deine Worte nachdenken. Im Augenblick habe ich das Gefühl, ein neues Ziel vor Augen zu sehen. Aber ich weiß auch, daß man nicht aus einer anfänglichen Begeisterung heraus entscheiden sollte.“

Kurze Zeit später verabschiedete Hasard seinen Vetter. Eine bleierne Müdigkeit hatte Arne ergriffen. Die seelischen Qualen, die er an diesem Tag durchgestanden hatte, blieben auch für einen Mann wie ihn nicht ohne Folgen.

Schon bei Sonnenaufgang setzten die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ Segel und verließen den Hafen von Rügenwaldermünde. Der 8. April zeigte sich von einer freundlicheren Seite. Die Wolkendecke war aufgerissen und ließ weite Flächen blauen Himmels durchscheinen. Der Wind blies handig aus Nordwest. Die dünnen Schaumkronen der Wellen glitzerten im frühen Sonnenlicht. Beide Galeonen liefen rauschende Fahrt über Backbordbug.

Etwa zwei Stunden nach dem Auslaufen aus Rügenwaldermünde wurden die Männer auf dem Achterdeck der „Isabella“ von der „Wappen von Kolberg“ angepreit. Der Seewolf folgte dem Beispiel seines Vetters und ließ die Segel ins Gei hängen. Arne ließ die Jolle abfieren und enterte Minuten später über die Jakobsleiter der „Isabella“ auf. Hasard begrüßte ihn an der Pforte im Schanzkleid.

„Mir ist verschiedenes durch den Kopf gegangen“, sagte Arne, „ich muß es mir von der Seele reden.“

„Dafür habe ich Verständnis“, erwiderte der Seewolf. Abermals zog er Nils Larsen hinzu, als er sich gemeinsam mit seinem Vetter in die Kapitänskammer begab.

Währenddessen wurde die Jolle zur „Wappen von Kolberg“ zurückgerudert. Dort hatte Renke Eggens, Arnes Erster Offizier, das Kommando übernommen. Auf dem Achterdeck der „Isabella“ war es Ben Brighton, der Erste Offizier, der die erforderlichen Kommandos gab. Befehle hallten über die Decks der beiden Galeonen, und sehr bald füllte der Wind wieder das Tuch.

„Es ist gut, wenn man die Dinge überschläft“, sagte Arne, „ich werde dieses Ziel ins Auge fassen, das du für mich umrissen hast. Vor allem muß ich mit meinem Vater und meinen Brüdern darüber reden. Schließlich gibt es das Handelshaus unserer Familie in Kolberg und außerdem …“ Er unterbrach sich, und es gelang ihm, zu lächeln. „Nun, da ist noch etwas, das mir erst nach unserem Gespräch von gestern abend eingefallen ist. Es handelt sich um unser Gut in Alt-Quetzin. Das ist östlich von Kolberg, ein alter Familienbesitz. Dein Vater, Godefroy von Manteuffel, sollte dieses Gut damals übernehmen.“

Hasard verspürte einen Stich. Er mußte an seine eigenen Worte vom vergangenen Abend denken. Der Schmerz blieb für alle Zeiten. Und selbst wenn man glaubte, ihn vergessen zu haben, drang er doch gelegentlich wieder an die Oberfläche.

„Sprich weiter“, bat er leise.

„Ein Gutshof und ein Handelshaus, das klingt nach einer merkwürdigen Zusammenstellung. Aber die von Manteuffels waren in vielen Generationen Seefahrer und Bauern, und sie haben beides geschickt miteinander verknüpft. Wie dem auch sei, genaugenommen bist du der rechtmäßige Erbe von Alt-Quetzin. Denn nach dem alten Familiengesetz muß immer der Erstgeborene das Gut übernehmen.“

Hasard blinzelte verblüfft. Es verschlug ihm glatt die Sprache.

„Die rechtliche Lage ist folgendermaßen“, fuhr Arne lächelnd fort, „damals war dein Vater, Godefroy, der Erstgeborene. Wenn dieser nun aus irgendwelchen Gründen das Erbe nicht antreten kann, geht das Erbrecht auf den Zweitgeborenen über. Das war in diesem Fall Hasso von Manteuffel, mein Vater.“

„Ein bißchen kompliziert“, sagte Hasard mit einem staunenden Kopfschütteln.

„Das muß es wohl sein. Aber es geht noch weiter. Hat nun der Erstgeborene einen männlichen Erben – das wärst in unserem Falle du –, dann geht der Familienbesitz Alt-Quetzin wiederum auf ihn über. Vorausgesetzt, daß er alt genug ist, das Gut zu übernehmen, so heißt es in den Regularien. Aber diese Frage stellt sich bei dir natürlich nicht.“ Arne lächelte erneut. „Nun muß der Zweitgeborene zurücktreten oder das Gut solange verwalten, bis der rechtmäßige Erbe es übernehmen kann. Kurzum: Das Recht über Alt-Quetzin bleibt also gewissermaßen in einer Familienlinie, bis diese ausstirbt oder zugunsten der Nebenlinie verzichtet. Es ist nicht schön, davon zu reden, jedoch – nach deinem Tod wäre also Hasard junior, der ältere deiner beiden Söhne, der rechtmäßige Erbe von Alt-Quetzin.“ Arne lehnte sich zurück und sah Hasard erwartungsvoll an.

„Du lieber Himmel!“ rief der Seewolf. „Das muß ich erst einmal verdauen.“

Die Eröffnungen Arnes waren mehr als überraschend. Nicht etwa deshalb, weil Hasard vorhatte, auf sein Recht zu pochen und das Gut zu übernehmen. Nein, dies weckte Erinnerungen an seine Kindheit und an jene Jahre, die vor seinem Erinnerungsvermögen lagen.

Da hatte es die Hansekogge „Wappen von Wismar“ gegeben. Auf ihr hatten ihn die Brüder seiner Mutter damals als Säugling nach Deutschland abschieben wollen. Und wäre nicht die raffgierige Lady Killigrew gewesen, die die Kogge im Hafen von Falmouth überfallen und ausplündern ließ, so hätte sein Leben einen völlig anderen Verlauf genommen. Das stand unumstößlich fest. Und noch eins stand fest. Hasard sagte es laut.

„Ich werde dieses Erbe nicht antreten, Arne.“

Arne beugte sich verblüfft vor.

„Warum nicht? Es ist nicht etwa so, daß meine Familie davon abhängig wäre. Außerdem – in diesen paar Minuten kannst du das doch noch gar nicht richtig überlegt haben.“

„Doch, ich denke schon. Die Dinge liegen für mich völlig klar. Ich kann nicht etwas beanspruchen, was mir meinem Gefühl nach nicht zusteht. Sicher bin ich von der Blutsverwandtschaft her ein von Manteuffel.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Ein Gedanke, der für mich immer noch merkwürdig ist. Das mußt du verstehen.“

Arne nickte schweigend.

„Ich bin in England bei den Killigrews aufgewachsen“, fuhr Hasard fort, „und diese Kinder- und Jugendjahre sind nicht wegzuwischen. Ich bin dadurch zum Engländer geworden. Mein ganzes Leben wurde dadurch geprägt.“

Arne von Manteuffel schwieg noch eine Weile.

„Ich habe mit dieser Antwort gerechnet“, sagte er dann, „weil ich selbst nicht anders reagiert hätte.“

2.

Man schrieb den 9. April anno 1593.

Mit rauschender Fahrt, bei halbem Wind über Backbordbug segelnd, liefen die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ auf die Küste von Hinterpommern zu. Die Mittagsstunde war eben vorüber, der Himmel über der Baltischen See versteckte sich hinter schweren grauen Wolken. Der Monat April, soviel hatten die Arwenacks zur Genüge feststellen können, zeigte, daß er in diesem Teil Europas zu Recht als launisch bezeichnet wurde. Mit einem baldigen Regenguß war jedenfalls zu rechnen.

Die beiden Galeonen erreichten die Mündung der Persante, und nach und nach schälten sich die Umrisse der Hafen- und Handelsstadt Kolberg aus dem Dunst. Den Männern, die zum Aufgeien der Segel in die Wanten gescheucht wurden, bot sich zum Lohn für die harte Arbeit der schönste Überblick.

Die Mauern und Türme der Stadt zeugten vom Reichtum ihrer Einwohner, aber auch von der Kraft und Entschlossenheit, das Erworbene zu verteidigen. Trutzige Mauern waren es, die auch vermuten ließen, wie sich diese Ansiedlung zu immer mehr Wohlstand entwickelt hatte.

Die Hafenanlagen, vor den entfesselten Naturgewalten der See hervorragend geschützt, beherbergten einen Mastenwald von beträchtlichen Ausmaßen. Die Frachtsegler, die an Piers und Duckdalben vertäut hatten, stammten überwiegend aus den Ländern rings um die Ostsee. Neben den Skandinaviern gab es etliche polnische und auch holländische Schiffe. Von den letzteren wußte der Seewolf, daß sie in jüngster Zeit mit ziemlichen Anstrengungen in den Tuchhandel eingestiegen waren. In der Mehrzahl waren hier in Kolberg naturgemäß die deutschen Schiffe vertreten, wobei dies wiederum für die meisten von ihnen der Heimathafen war.

Neugierige scharten sich vor den Lagerhäusern und Kontoren am Kai zusammen, nachdem der „Isabella“ und der „Wappen von Kolberg“ ihre Liegeplätze zugewiesen worden waren. Aber auch von den anderen Schiffen waren interessierte Blicke festzustellen, zum Teil nicht ohne einen gewissen Neid. Denn die schlanke englische Galeone war schon allein von ihrem äußeren Bild her ungewöhnlich. Den fast ausnahmslos fachmännischen Blicken blieb nicht verborgen, daß dieser Segler aus dem fernen Britannien über Eigenschaften verfügen mußte, die man nur ahnen konnte. Denn soviel stand fest: einen Dreimaster von dieser neuzeitlichen Bauart hatte man hier in Kolberg noch nicht gesehen.

Eindeutig auch, daß die „Isabella“ nicht allein für friedliche kaufmännische Zwecke gebaut worden war. Bei einem Registergewicht von runden 550 tons und einer Länge von 52 Yards verfügte die Galeone über eine beachtenswerte Armierung. Hinter den jetzt geschlossenen Stückpforten verbargen sich drei 25-Pfünder auf beiden Seiten des Quarterdecks, drei 17-Pfünder je Seite auf dem darunterliegenden Deck, vier 25-Pfünder auf beiden Seiten der Kuhl und drei weitere 17-Pfünder pro Seite unter der Back. Außerdem gab es je zwei Drehbassen auf der Back und auf dem Achterdeck.

Nachdem die Segel aufgetucht und die „Isabella“ und die „Wappen von Kolberg“ vertäut worden waren, hatten die Männer an Deck Gelegenheit, sich in der näheren Umgebung umzusehen.

 

Auf der Kuhl der englischen Galeone wandten sich unvermittelt alle Augenpaare nach Backbord, als die Zwillinge lebhaft zu gestikulieren begannen.

„Schon wieder so ein lausiger Don!“ rief Hasard junior, der seine Zunge nicht im Zaum halten konnte.

„Jetzt treiben sie sich sogar hier schon herum!“ fügte Philip junior prompt hinzu.

Auf dem Achterdeck griffen der Seewolf und Ben Brighton zu den Spektiven. Hasard beschloß, sich seine beiden Söhne später vorzuknöpfen. Die beiden gerieten in jene Jahre, die man auch als „Flegelalter“ bezeichnete. Hinzu gesellte sich ihr Temperament, und so fiel es ihnen manchmal höllisch schwer, gründlich über das nachzudenken, was sie von sich gaben. Wie oft hatte er ihnen bereits eingebleut, daß man auch einem Gegner gegenüber Fairneß zu üben hatte – in Taten und in Worten. Sie wußten das verdammt genau. Er würde sie gehörig daran erinnern müssen.

Auf dem Hauptdeck stemmte Ed Carberry die Fäuste in die Hüften, schob das Rammkinn vor und starrte der Crew nach, die sich samt und sonders der Neugier hingab.

„Welcher Wurm ist euch ins Hirn gekrochen?“ brüllte er. „Ihr glaubt wohl, ihr seid schon fertig mit dem Aufklaren, was, wie? Wenn ihr nicht auf der Stelle …“

Smoky, der breitschultrige Decksälteste, drehte sich um und unterbrach ihn mit einem Grinsen.

„Sei nicht so pingelig, Mister Carberry. Hier liegt was in der Luft, sage ich dir. Da wird man doch mal einen Blick riskieren dürfen.“

Der Profos der „Isabella“ kratzte sich am Hinterkopf. Seine Haarpracht, die er in Wiborg nach einer Wette mit Luke Morgan verloren hatte, begann neu zu sprießen. Dichte Stoppeln bedeckten bereits seinen Schädel, und er verzichtete deshalb seit ein paar Tagen auf die Pelzmütze, die er bisher zur Tarnung getragen hatte.

Smokys Wort hatte Gewicht. Also schluckte Edwin Carberry seinen Groll hinunter, bevor er sich richtig entwickeln konnte. Er schnaufte, gab sich einen Ruck und wandte sich ebenfalls nach Backbord.

Etwa dreihundert Yards entfernt, an einer der Piers, lag eine spanische Galeone. Der Dreimaster, gedrungener und wesentlich massiger gebaut als die „Isabella“, hob sich in prunkvollster Weise von den anderen Schiffen ab. Vorn und achtern war der Spanier mit reichlich Schnitzwerk verziert. Auch die Armierung war allem Anschein nach recht beachtlich. Über der Heckgalerie prangte in riesigen goldenen Lettern der Name des Schiffes: „Santissima Madre“.

„Heiligste Mutter“, übersetzte Ferris Tucker mit einem Seufzer, „das kann man wohl laut sagen.“

Damit sprach er allen Arwenacks aus der Seele. Das alte Mißtrauen meldete sich bei ihnen mit schrillen Alarmtönen. Zwar wurde die Ostsee wahrhaft nicht von den Spaniern beherrscht, die Dons hatten hier eher kleine Brötchen zu backen. Aber der Zwischenfall mit dem spanischen Kapitän Juan de Gravina in Wisby auf Gotland steckte den Männern unter dem Kommando von Hasard und Arne noch mächtig in den Knochen.

Dort auf Gotland hatte der Seewolf seinen Vetter kennengelernt – ausgerechnet in jenem Moment, als sie die Leiche des Kaufmanns Jens Johansen entdeckten. Johansen hatte mit Bernstein gehandelt, was er als sein gutes Recht betrachtete. Doch König Sigismund von Polen beanspruchte dieses Recht für sich allein, und er hatte seine Schergen überall. De Gravina war einer von ihnen gewesen, bis Hasard ihn des Mordes an Johansen überführt hatte.

Ähnlich hatte er sich mit dem dänischen Kaufmann Thorsten Tyndall in Hapsal verhalten. Auch dieser war wegen des Bernsteinhandels umgebracht worden. Dafür hatten Hasard und Arne den polnischen Generalkapitän Witold Woyda als Täter entlarvt, der jetzt in der Vorpiek der „Isabella“ als Gefangener eingesperrt war und den dänischen Behörden zur Verurteilung übergeben werden sollte.

So wurden sie allesamt von bösen Vorahnungen beschlichen, als sie die spanische Galeone erblickten – ausgerechnet hier, im Hafen von Kolberg.

Die Söhne des Seewolfs sonnten sich unterdessen in dem Gefühl, den Spanier im Hafengewirr entdeckt zu haben. Mit stolzem Lächeln verfolgten sie die Bemerkungen der Männer, die nun begannen, sich in düstere Ahnungen zu ergehen. Und noch mehr Stolz erfüllte die Jungen angesichts der Tatsache, daß sie ihren Vater und Ben Brighton immerhin veranlaßt hatten, zum Spektiv zu greifen.

Äußerlich ähnelten sich die beiden Jungen wie ein Ei dem anderen. Schlank und schwarzhaarig, hatten sie den unverwechselbar gleichen Gesichtsschnitt wie der Seewolf. In ihren Bewegungen waren sie geschmeidig wie Katzen. Und schon jetzt, in ihren jugendlichen Jahren, ließen sie erkennen, daß sie als erwachsene Männer einmal alle überragenden Eigenschaften und Fähigkeiten ihres Vaters haben würden.

Ein heranhuschender grauer Schatten unterbrach die Männer in ihren Mutmaßungen. Plymmie, die Bordhündin, hatte ihren Freßplatz vor der Kombüse im Stich gelassen und eilte schwanzwedelnd auf die Zwillinge zu. Federnd richtete sie sich auf, legte ihre Vorderpfoten auf das Schanzkleid, und im selben Moment sträubten sich ihre Nackenhaare. Ein heiseres Knurren drang tief aus ihrer Kehle, und dieses Knurren ging sofort in ein rauhes, zorniges Bellen über.

„Ruhig, Plymmie, ruhig!“ mahnte Hasard junior, und gemeinsam mit seinem Bruder streichelte er die Wolfshündin, die sich jedoch nur dazu bewegen ließ, das Bellen einzustellen. Ihr Knurren hielt an.

„Als ob ich mir das nicht gedacht hätte“, brummte Ed Carberry kopfschüttelnd. „Wenn das Vieh nicht zu jeder Sache seinen Senf dazugeben kann, ist es nicht zufrieden.“

„Sir, du tust ihr wieder mal unrecht“, sagte Philip junior empört. „Plymmie bellt den Spanier an. Sie merkt eben, daß da drüben an Bord unsympathische Leute sind.“

„Womit sie den richtigen Riecher hat“, sagte Old Donegal Daniel O’Flynn. „Hunde haben in der Beziehung einen sehr feinen Instinkt. Da hat es schon Ereignisse gegeben, die hinterher kein Mensch für möglich gehalten hat. Ich erinnere mich an eine bestimmte Geschichte in …“

„Schon gut, Donegal, schon gut“, fiel ihm Smoky eilig ins Wort, und die anderen nickten beifällig. Im Augenblick hatten sie keine Neigung, eine der endlosen Garne des alten O’Flynn anzuhören. Denn was die spanische Galeone dort drüben an der Pier betraf, war jeder mit seinen eigenen Überlegungen hinreichend beschäftigt.

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