Seewölfe Paket 27

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6.

Die Zeit lief dahin, ein Tag nach dem anderen verging, ohne daß eine Änderung eintrat.

Sie hatten einen mittelprächtigen Sturm abgeritten, gut überstanden und eine zwei Tage währende Flaute hinter sich.

Auf den Decks waren Sonnensegel gespannt worden. Sie sollten auch gleichzeitig dazu dienen, Regenwasser einzufangen, das jetzt immer dringender gebraucht wurde.

Ihren genauen Standort konnten sie immer noch nicht bestimmen, denn der provisorische Kompaß hatte die unangenehme Eigenschaft, immer nervös zu tänzeln. Hin und wieder schlug er auch wie verrückt aus, oder die Nadel drehte sich.

Der Seewolf hatte alle drei Ausgucks besetzen lassen. Dan O’Flynn leistete dabei den Großteil freiwillig, denn wenn wirklich eine Insel irgendwo auftauchte, dann stand mit Sicherheit fest, daß er sie sah.

Sie brauchten nur ein paar lächerliche Meilen an der Sichtweite von Land vorbeizusegeln, dann liefen sie wieder ins Leere, und das konnte tödlich werden.

Jeder an Bord wußte das, und so wurde mit scharfen Augen und wachen Sinnen pausenlos die Kimm abgesucht.

Die Hoffnung, Land zu entdecken, schien jedoch seltsamerweise immer aussichtsloser zu werden, je weiter sie in den Pazifik vorstießen.

Es war wie verhext, und es wirkte bedrückend, keinen einzigen Seevogel oder mal einen Landstrich zu sehen.

An diesem Tag segelten sie sozusagen in eine neue Flaute.

Noch am Morgen hatte sie der Wind kräftig geschoben, und sie waren mit Steuerbordhalsen, über Backbordbug liegend, gesegelt. Doch dann war Äolus es leid geworden, das kleine Schiffchen weiter über das Meer zu blasen. Vielleicht dachte er auch, daß sich das gar nicht lohne.

Der Atem des Windgottes wurde schwächer und schwächer, bis es nur noch ein leises Seufzen war.

Smoky hockte mit ein paar anderen unter einem Sonnensegel. Zu tun gab es so gut wie nichts, das Schiffchen war in Ordnung und – von außen her gesehen – in einem guten Zustand.

Langeweile kam auf – ein Zustand, den die Seewölfe kaum kannten. Doch hier gab es nichts zu tun. So hatten sie sich die Zeit mit Spielen oder Würfeln vertrieben, doch auch das brachte jetzt keinen richtigen Spaß mehr.

Man sann auf Abwechslung, und die hatte Mac Pellew gebracht, weil der sich über die Kakerlaken geärgert hatte. Da seien ganz besonders bösartige und triefäugige dabei, hatte er versichert. Boshafte Viecher, die es ausschließlich darauf anlegten, nur ihn und keinen anderen zu ärgern.

Natürlich hatte wieder einmal Edwin Carberry die Sache persönlich in die Hand genommen und kurzerhand ein paar der Biester eingefangen, weil Mac sie nicht anfassen mochte.

Jetzt hatten sie drei Kakerlaken „gezähmt“ und ihnen auch noch Namen verpaßt. Eine gehörte dem Decksältesten Smoky, der sie auf den Namen Jonny getauft hatte. Die zweite gehörte Gary Andrews und wurde Benny gerufen. Der Profos hatte seiner Cucaracha den sinnvollen Namen Mac verpaßt, eine boshafte Anzüglichkeit gegenüber dem Zweitkoch. Aber Carberry behauptete unerschütterlich, daß Mac immer einen ganz besonders traurigen Gesichtsausdruck habe, was wohl auf verwandtschaftliche Verhältnisse zurückzuführen sei.

Die drei Kakerlaken hockten auf den warmen Planken unter dem Sonnensegel und warteten ergeben ab. Sie flüchteten auch nicht, wenn sich Hände nach ihnen ausstreckten. Außerdem waren sie satt und vollgefressen von den Abfällen. Sie waren von dunkelbrauner Farbe und hatten verkürzte Flügel. Schön sahen sie nicht gerade aus, aber sie halfen mit, die Langeweile an Bord ein wenig zu vertreiben.

Mac, Jonny und Benny hockten, tiefäugig blickend, auf den Planken und sahen zu, wie der Profos Seewasser in die Waschbalje putzte. Ob sie das überhaupt mitkriegten, wußte der Profos nicht, aber sie mußten mitspielen, weil sie schließlich ebenfalls zur See fuhren und damit dem Kommando Edwin Carberrys unterstanden. Er hatte sich selbst dazu ernannt, weil Hasard und Ben großzügig darauf verzichtet hatten.

Unter dem allgemeinen Gegrinse der Kerle wurde Carberry somit feierlich zum Kakerlaken-Oberbefehlshaber zur See ernannt.

Nachdem der Profos zwei Daumenbreiten Wasser in die Balje geputzt hatte, erklärte er noch einmal die Spielregeln.

„Das Spiel nennt sich Sturmfahrt über den Pazifik“, sagte er. Dann holte er grinsend drei kleine Federn aus der Hosentasche und verteilte sie. Die Federn stammten von Sir John und waren bei der täglichen Reinigung verlorengegangen.

Die Zwillinge Hasard und Philip waren dazu ausersehen, den Kakerlaken die „Segel“ zu setzen und Vierkant zu brassen, was sie auch mit großer Hingabe taten.

Zuerst wurde Benny das Sturmsegel auf den schmalen Rücken geklebt. Er ließ es widerstandslos über sich ergehen, als ihm die Feder auf den Rücken gepappt wurde. Da die Feder knallrot war, unterschied er sich jetzt ganz beträchtlich von seinen Genossen. Außerdem, fand Gary, sah Benny jetzt richtig verwegen aus, fast wie ein kleiner Pirat.

Dann war Jonny an der Reihe und kriegte eine grüne, etwas gekrümmte Feder verpaßt, was seinen Besitzer Smoky mit sichtlichem Stolz erfüllte. Die beiden Kakerlaken wurden wieder auf die Planken gesetzt und glotzten sich erstaunt an.

Der Profos reichte Mac an die Zwillinge weiter. Die klebten ihm eine gekrümmte gelbleuchtende Feder auf den Rücken. Mac ließ das mit traurigen Blicken über sich ergehen. Offenbar mißfiel ihm Gelb.

„Na, die sehen doch prächtig aus“, meinte Carberry. „Natürlich müßt ihr sie als eine Art Galeeren betrachten, denn die Burschen werden kräftig mit ihren Beinen rudern. Hier vorn“, er deutete auf das Ende der Waschbalje, „ist China. Achteraus befindet sich das Festland, von dem sie absegeln werden. Verhältnisse also wie bei uns an Bord. Wer von den drei Piraten zuerst China erreicht, der hat gewonnen. Kursabweichungen können durch leichtes Pusten korrigiert werden. Habt ihr das alle kapiert?“

„Klar!“ rief Smoky. „Und um was geht es? Schließlich können wir die Strapazen nicht umsonst auf uns nehmen.“

Inzwischen hatten sich fast alle Arwenacks um die seltsame Prozession versammelt und hieben sich vor Lachen auf die Schenkel, als sie die drei prächtig gekleideten „Piraten“ auf den Planken sahen. Ein bißchen verstört wirkten die Burschen schon, ganz besonders die Kakerlake Mac, deren Mimik fast betroffen war.

„Die hat tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Mac“, sagte Sam Roskill erstaunt. „Kaum zu glauben, aber das ist eine Tatsache.“

Mac Pellew stand im Hintergrund und hörte finster zu. Im Geiste versprach er dem dämlich grinsenden Sam Roskill die Hölle auf Erden.

„Sicher, deshalb habe ich sie auch Mac genannt“, erklärte Carberry. „Solche Ähnlichkeiten muß man ausnutzen. Ach ja, um was geht es bei der Sturmfahrt eigentlich? Hm, um ein Goldstück. Oder es werden Wetten abgeschlossen, wer Erster wird.“

„Das halte ich für noch besser!“ rief Smoky. „Grünjonny scheint ein guter Segler zu sein. Dann soll jeder setzen, einverstanden?“

„Die Chancen von Rotbenny dürften noch besser sein“, meinte Gary voller Stolz.

„Gelbmac wird Erster“, widersprach der Profos. „Der untersteht meinem ganz persönlichen Kommando. Dem werde ich Wind in die Segel blasen, bis er backbrassen muß, damit er in China nicht an Land läuft.“

Die Heiterkeit kannte jetzt keine Grenzen mehr. Das, was sich der Profos da ausgedacht hatte, war mal eine feine und abwechslungsreiche Sache. Dabei kam keine Langeweile auf.

Dann wurde gewettet und jeder setzte auf eine der drei federbewehrten Kakerlaken ein paar Münzen.

Auf dem Achterdeck waren Hasard und Ben zwar ebenfalls entzückt von dem tollen Einfall des Profos’, aber da war noch etwas anderes, was sie wesentlich weniger begeisterte. Die Männer auf der Kuhl waren abgelenkt und merkten noch nichts. Hasard ließ sie daher ihr Spielchen auch weiterhin treiben. Es war ja doch nichts zu ändern.

Der Seewolf blickte besorgt in die Takelage. Die Segel standen nicht mehr voll und bei. Ein paar zeigten „Ermüdungserscheinungen“.

Sie blähten sich nicht, killten aber auch noch nicht, sondern fielen fast unmerklich in sich zusammen.

„Sieht wieder mal nach einer Flaute aus“, meinte Hasard. „In ein oder zwei Stunden liegen wir bewegungslos auf dem Wasser.“

„Ja, das sieht wirklich so aus“, bestätigte Ben. „Der Wind wird immer schwächer. Aber gerade eine langanhaltende Flaute können wir uns nicht leisten.“

Hasard lachte kurz und trocken auf.

„Das hast du gut gesagt, Ben. Wir können uns wahrhaftig keine langandauernde Flaute leisten, schon was Trinkwasser und Lebensmittel betrifft. Da sieht es immer schlechter aus. Aber leider fragt uns niemand, ob wir uns das leisten können oder nicht.“

„Wir müssen die Verdrießlichkeiten dieser Reise eben in Kauf nehmen, wir haben nun einmal so entschieden. Noch befinden wir uns in keiner ausgesprochen kritischen Situation. Möglicherweise stoßen wir in den nächsten Tagen doch noch auf eine Insel.“

„Falls die Flaute nicht dazwischenkommt und uns längere Zeit aufhält. Eine Kalmenzone kann unseren sicheren Tod bedeuten.“

„Ich weiß“, sagte Ben gepreßt. „Ich denke leider auch immer allzuoft daran.“

Während sie sich auf dem Achterdeck besorgt unterhielten, ging auf der Kuhl das lustige Spielchen weiter.

Die drei „Segler“ waren in Position gebracht und befanden sich an der Ziellinie, die das südamerikanische Land markierte. Ihre Federn sahen wie geblähte kleine Segel aus.

Carberry setzte Mac vorsichtig auf das Wasser und tauchte dann die Hand ein, damit sich Yellowmac an die fremde Umgebung gewöhnen konnte.

 

Aber Yellowmac wollte nicht so richtig. Er sah zwar kühn und verwegen aus, doch das Wasser gefiel ihm nicht. Er wollte auch nicht vierkant über den Pazifik segeln. Schnell machte er sich aus dem Staub und kroch am Arm seines Oberbefehlshabers nach oben.

„Ähäh“, sagte der Profos, „das gilt nicht. Du triefäugige Wanze wirst jetzt absegeln, sonst wickel ich dich zwölf mal ums Bratspill.“

Smoky verfuhr mit Jonny auf die gleiche Weise, ebenso Gary Andrews.

„Das sind vielleicht ein paar undankbare Elchwanzen“, wetterte Smoky. „Oder sind denen noch keine Seebeine gewachsen? Die haben einfach keine Lust, die Lausekerle.“

„Vielleicht können sie gar nicht schwimmen“, meinte Matt Davies besorgt. „Dann ist ihre Angst erklärlich.“

„Ach was, das ist reine Faulheit“, erklärte Carberry. „Die müssen einfach, sonst können sie sich den richtigen Pazifik von außen ansehen.“

Der Versuch wurde wiederholt, und diesmal gehorchten die drei. Aber Angst vor dem Wasser hatten sie doch.

Erst als der Profos lautstark drohte, ihnen die Affenärsche zu kalfatern, ging es besser.

Yellowmac paddelte los, Benny folgte, und dann bequemte sich auch Jonny, das Wagnis der großen Reise einzugehen. Gleich darauf flitzten sie nach drei Seiten auseinander. Yellowmac versuchte, so schnell wie möglich die Backbordseite der Waschbalje zu erreichen.

„Jetzt ist es zu spät“, sagte Carberry grinsend. „Wenn man erst mal den Hafen verlassen hat, dann muß man auch auf See. So, und jetzt werdet ihr mit einer frischen Backstagsbrise losklüsen.“

Er blies die Wangen auf und spielte Windgott, wobei er gebückt an der Waschbalje entlangschlich und Yellowmac genau im Auge behielt.

Smoky blies ebenfalls auf die Feder, und Gary ging fast die Luft aus, so sehr strengte er sich an.

Alle drei segelten jetzt unter vollem Preß. Ihre Füße paddelten im Wasser wie die Riemen von einer Galeere. Bei der nächsten Flaute wären sie fraglos abgesoffen, denn Schwimmen war überhaupt nicht ihre Stärke. So aber hielt ihr Tempo sie über Wasser, und sie hatten immer achterlichen und frischen Wind, wenn der auch verdächtig nach Rum und Dünnbier roch.

Die Kerle bliesen, was sie konnten. Und je mehr sie bliesen, um so mehr nahmen die drei farbenprächtigen Segler Fahrt auf und schossen nur so über das Wasser dahin. Durch das Pusten war das Wasser jetzt auch gekräuselt, und damit die Reise nicht so glatt ging, rührten die Zwillinge mit den Händen in der Balje, bis eine hochgehende Dünung entstand.

Da kannte die Begeisterung keine Grenzen mehr. Die Kakerlaken tanzten und hüpften auf den Wellen und wurden immer wieder durch lautstarkes Gebrüll der Arwenacks angefeuert.

„So ganz einfach dürfen die das aber nicht haben“, meinte Jeff Bowie. „Kurz vor China schralt nämlich der Wind, dann springt er um, und die Armada muß auf Kreuzkurs gehen.“

„Das war nicht vereinbart!“ brüllte Carberry, aber dann mußte er ganz schnell wieder blasen, denn Yellowmac luvte zu hart an und gierte hart aus dem Kurs.

„Wieder mal der Rudergänger besoffen, was, wie?“ fluchte Ed. Schnell brachte er den verstörten Yellowmac wieder auf Kurs. Aber der hing jetzt im spärlichen Kielwasser von Grünjonny eine Mini-Kabellänge achteraus und mußte erst aufholen.

Smokys Gesicht war knallrot angelaufen. Er registrierte mit Mißbehagen, daß Grünjonny zwar verteufelt gut segelte, aber mittlerweile am chinesischen Festland drei Kerle aufgekreuzt waren, die für mächtigen Gegenwind sorgten. Und Grünjonny, diese Landratte, breitete auch hoch die kurzen Stummelflügel aus, um seine rasende Fahrt abzubremsen.

„Der hat die Beisegel gesetzt, oder er säuft ab“, meinte Stenmark kritisch. „Der gerät in Seenot, Smoky. Ich an deiner Stelle würde ihn aus dem Bach fischen.“

„Mich fischt auch keiner aus dem Bach“, empörte sich Smoky. „Ich muß so und so über den Pazifik – und Jonny auch. Der segelt weiter, und wenn ihm die Rahen um die Ohren fliegen.“

Rotbenny geriet für kurze Zeit ebenfalls in Seenot. Er lag zwar noch vorn und hatte die halbe Strecke fast hinter sich, doch der Waschbaljen-Pazifik hatte seine Tücken. Bob Grey blies ihn von der Seite her an, was auch nicht vereinbart war, und so driftete er ab und kollidierte mit Yellowmac, der mächtig aufgeholt hatte. Yellowmac wurde mit dem Klüver auf der Backbordseite gerammt, schoß in den Wind und geriet auf einen gefährlichen Kurs, weil der Profos jetzt blies und pustete, was seine mächtigen Lungen hergaben.

In der Waschbalje war wildbewegte Kreuzsee. Die Kerle nahmen ihr Spielchen verteufelt ernst und benahmen sich so, als gäbe es im Augenblick nichts Wichtigeres auf der Welt als die Sturmfahrt über den Pazifik.

Da wurde Empörung laut, da wurde mal eine Faust geschüttelt, oder da fluchte einer wie wild, wenn die Lage bedrohlicher wurde.

Yellowmac lag nunmehr vorn. Der Profos wollte grinsen, aber er konnte nicht, sonst fehlte der Wind, und den brauchte der Kleine jetzt, als er sich dem chinesischen Festland näherte.

Dort hatte sich mittlerweile der Himmel in Gestalt dreier grinsender Kerle verfinstert, die unbedingt verhindern wollten, daß die drei farbenprächtigen Flibustier landeten und Unheil über das Land brachten.

Ein feines Spielchen war das, so fanden sie alle, und es bereitete eine Menge Spaß, weil immer wieder etwas passierte, was nicht einkalkuliert war.

Grünjonny hatte heute seinen miesen Tag. Der Decksälteste scheuchte und beschwor ihn, fluchte oder bat oder verwünschte ihn lautstark. Aber der Kleine war fix und fertig und konnte nicht mehr, als er in den harten Gegenwind geriet. Er tauchte voll mit dem Bug unter, kam wieder hoch und krängte stark nach Backbord, was Smoky zum Anlaß nahm, einen entsetzten Schrei auszustoßen. Aber da war es um Grünjonny bereits geschehen. Er kenterte, sein Großsegel wurde von einer überkommenden See unter Wasser gedrückt, und damit war es aus. Grünjonny blieb kieloben und ging langsam auf Tiefe.

Dabei zappelte er, als würden auf einer absaufenden Galeere die Riemen immer noch in vollem Takt geschlagen.

„Der kriegt eine würdevolle See-Bestattung“, versprach Pete Ballie.

„Kriegt er nicht“, sagte Smoky sauer. „Der wird ausgepeitscht wegen Unfähigkeit vor dem Feind.“

Er langte in die Waschbalje und holte Grünjonny heraus. Dann setzte er ihn vorsichtig auf die Planken. Grünjonny hatte die Sturmfahrt verloren und war todunglücklich. Um ihn her breitete sich eine Wasserlache aus. Im allerletzten Augenblick war er aus Seenot gerettet und abgeborgen worden.

Blieben noch Yellowmac und Rotbenny im Rennen, um die sich jetzt Gary und der Profos lebhaft bemühten. Als sie in den starken Gegenwind gerieten, wurde der Profos ganz fuchtig. Verbissen versuchte er, Yellowmac an Land zu bringen, doch da blies ein ablandiger Taifun aus drei kräftigen Hälsen.

Yellowmac war total verbiestert und verzweifelt, das glaubte der Profos ganz deutlich an seiner Mimik zu erkennen, denn der Kleine übertraf in seiner Traurigkeit Mac Pellew bei weitem.

Rotbenny driftete ebenfalls ab, doch dann fehlte Luke Morgan die Puste, und auch Jack Finnegan mußte verschnaufen.

Rotbenny nutzte die Gunst der Stunde und segelte total abgeschlafft an Land. Sein rotes Segel sah wie ein winziger zerfranster Pinsel aus.

Gary Andrews riß die Arme hoch und brüllte los.

„Geschafft! Ich bin Sieger! Ar-we-nack!“

Carberry ärgerte sich grün und blau, als Yellowmacs Segel wie ein nasser Lappen zusammenfiel. Es killte noch einmal, dann ging Yellowmac übergangslos auf Tiefe, als hätte ihn eine Breitseite erwischt.

Edwin Carberry hieb voller Ärger mit der Faust in die Waschbalje. Das aktivierte Yellowmac noch einmal. Mit dem Tempo einer Kanonenkugel flog er aus dem Wasser, segelte über den Rand der Balje und landete auf den Planken.

„Ha!“ rief Carberry. „Der Sieger bin ich! Yellowmac ist wesentlich weiter ins Landesinnere vorgedrungen als Rotbenny.“

„Das gilt nicht“, sagte Gary. „Du hast ihm geholfen.“

„Hättest du ja auch tun können. In den Spielregeln ist es nicht ausdrücklich verboten.“

„Aber abgesprochen war es nicht.“

„Meiner ist jedenfalls weiter gesegelt, oder willst du das abstreiten?“

„Der ist nicht gesegelt, der ist geflogen.“

Fast hätte es noch Streit über den Sieger gegeben, aber dann beruhigten sich die Gemüter, als Carberry vorschlug, man werde sich den Sieg eben teilen.

Smoky ging diesmal leer aus und ärgerte sich über Grünjonny, der verbiestert auf den Planken hockte und langsam trocknete. Dann sammelte er die drei heldenhaften Kakerlaken ein und brachte sie in einer kleinen Holzschachtel unter, damit sie ihre Angst vor der Helligkeit verloren.

„Das war wirklich ein feines Spielchen“, sagte der Profos. „Wir werden das in den nächsten Tagen natürlich noch verfeinern und ausbauen. Wir könnten eine ganze Armada durch die Waschbalje scheuchen. Ich stelle mir etliche als Zweimaster, Karavellen, Karacken oder ein paar größere auch als Galeonen vor. Man muß ihnen eben nur ein paar größere Federn auf den Rücken kleben.“

„Dann will ich aber auch meine eigene Karavelle!“ rief Blacky, der von dem neuen Spiel begeistert war. Die anderen wollten natürlich ebenfalls, und so wurde beschlossen, sich noch ein paar besonders kräftige Exemplare zu „besorgen“, die auch als Galeonen oder Kriegsschiffe geeignet waren.

Der einzige, der nicht mitspielte, war Mac Pellew.

„Eine Sauerei ist das“, schimpfte er, „diese mistigen Triefaugen durch die Waschbalje segeln zu lassen! Vielleicht füttert ihr die Mistviecher auch noch.“

„Die fressen sowieso nur Abfälle“, beruhigte ihn der Profos. „An den Proviant lassen wir sie nicht mehr heran. Aber richtige Seeleute müssen auch gut im Futter stehen, sonst sind sie saft- und kraftlos, Mister Seltenfroh.“

„Ich spiel da jedenfalls nicht mit. Das ist mir zu dämlich, Mister Großmaul. Wenn ihr an den Kakerlaken keinen Spaß mehr habt, fangt ihr noch mit Ratten an, was?“

„Du bringst mich da auf eine verdammt gute Idee“, sagte Carberry anerkennend. „Das ist auch mal was anderes.“

Sie waren so in ihre Unterhaltung vertieft, daß sie gar nicht merkten, als der Seewolf plötzlich hinter ihnen stand.

„Ist euch Kakerlaken-Seglern eigentlich schon aufgefallen, daß wir keinen Wind mehr haben?“ fragte er sanft.

7.

Köpfe führen erstaunt herum. Auf einigen Gesichtern lag verblüfftes Staunen. Smoky starrte entgeistert zu den Segeln, die schlaff und faltig von den Rahen hingen.

Die anderen sahen sich ebenfalls um. Die See war ruhig, fast spiegelglatt. Nur hin und wieder bewegte sich das Wasser ganz leicht. Es gab kein Kielwasser mehr, keine Bugwelle schäumte. Der Himmel war samtig-blau, und die Sonne stand wie ein Riesenrad über ihnen. Es war erdrückend schwül und still.

Das Spiel hatte alle in ihren Bann geschlagen, und darüber hatten sie Gott und die Welt vergessen.

„Himmel, Arsch und Flaute“, murmelte der Profos. „Seit wann sind wir denn bekalmt? Ist mir aufrichtig peinlich, Sir, aber ich habe das nicht bemerkt.“

„Seit einer guten halben Stunde rührt sich nichts mehr“, erwiderte Hasard. „Aber das braucht dir nicht peinlich zu sein. Wir haben um uns her nur die Weite der See, und da kann nichts passieren. Immerhin sind die Ausgucks alle besetzt.“

„Hm, daß man sich so in ein Spiel vertiefen kann“, murmelte Carberry.

„War offenbar sehr interessant, das Wettsegeln“, meinte Hasard lächelnd. „Wer hat denn gewonnen?“

„Gary und ich. Was sollen wir jetzt tun, Sir?“

„Warten, bis der Wind wieder bläst. Und beten, daß er es möglichst bald tut, sonst wird es sehr eng werden.“

Das Flammenrad der Sonne hatte seinen höchsten Punkt überschritten und neigte sich jetzt seiner westlichen Bahn entgegen. Meer und Himmel unterschieden sich an der Kimm nur durch eine feine gekrümmte Linie. Die Hitze nahm noch zu, und nach einer weiteren halben Stunde rührte sich kein Lüftchen mehr.

Sie waren in einem Meer der Ruhe und Stille gefangen, das scheinbar keinen Anfang und kein Ende hatte. Sie fühlten sich wie auf dem Boden einer riesigen gläsernen Kugel eingeschlossen.

Der Zustand war bedrückend, zumal das Gesicht des Kutschers immer besorgter und länger wurde. Er dachte an den Proviant und das Trinkwasser. Beides begann knapp zu werden. Wenn diese Flaute noch längere Zeit anhielt, dann …

 

Er mochte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn er war sehr beunruhigend.

Alle halbe Stunde wechselten die Ausgucks. Doch sie sahen immer und ewig das gleiche Bild. Eine spiegelglatte See und einen zeitlosen Himmel, der sich über ihnen wölbte. In diesem Himmel war die Sonne der einzige Punkt, der sich bewegte. Gnadenlos herabbrennend, zog dieser helle Punkt seine Bahn und bewegte sich auf die Kimm zu.

Die Sonne ging unter. Nicht in einem farbenprächtigen Schauspiel wie sonst, sondern lichtarm und unauffällig. Als sie hinter der Kimm versank, brach die Dunkelheit herein. Am Himmel funkelten Sterne, und etwas später stand der Mond als Sichel über dem Pazifik.

In den Räumen war es heiß, stickig, brühwarm und drückend. Die Luft legte sich beklemmend auf die Lungen, das Atmen fiel schwer.

Daher zogen es alle vor, an Deck zu schlafen.

Am folgenden Morgen begann die Langeweile erneut. Im Osten erschien aus dem Meer ein tastender Lichtstrahl, grellen Fingern gleich, die sich nach dem Himmel streckten. Dann tauchte der obere Rand einer hellen Scheibe auf, und gleich darauf wurde es wieder schwül-warm.

Der Stille Ozean peinigte sie mit einem neuen Tag voller einschläfernder Monotonie.

Da half es auch nicht, daß Old O’Flynn sämtliche Meermänner, Geister und Götter beschwor, und auch die Schutzheiligen ließen nichts von sich hören.

So langsam breitete sich Niedergeschlagenheit aus. Sie waren hilflos und konnten nichts tun als warten und nochmals warten. Doch das ewige Warten war nicht ihre Sache.

Ein paar Arwenacks wanderten ruhelos über die Decks. Andere hockten unter den überall gespannten Sonnensegeln und dösten.

Der Tag verging, ohne daß etwas geschah.

Am darauffolgenden Tag, der genauso wie der andere verlief, ließ Hasard die Rationen für Trinkwasser kürzen.

„Ein Entschluß, der mir schwerfällt“, sagte er. „Aber wir müssen uns von nun an einschränken. Ich weiß, daß ihr die Entscheidung akzeptieren werdet.“

Sie akzeptierten sie, hockten unter den Sonnensegeln und starrten trübsinnig auf die Planken, die unter der Gluthitze einer erbarmungslosen Sonne immer mehr austrockneten.

Die Beschäftigungstherapie bestand darin, daß Rumpf und Planken ständig mit Seewasser übergossen wurden.

Hin und wieder war ein trockenes Knacken im Holz zu hören, oder ein Block knarrte. Das waren – abgesehen von ihren eigenen Stimmen – die einzigen Laute weit und breit.

Die Stille in der unendlichen Weite des Pazifiks war körperlich spürbar, seit die vertrauten Geräusche verschwunden waren. Da war nicht einmal mehr das Gluckern von Wasser zu hören – oder der Wind, wenn er durch die Takelage pfiff. Auch das Raunen der See war verschwunden und der entsetzlichen Stille gewichen.

Die Kalme hielt an, und die See blieb glatt wie ein Spiegel. Sobald sich einmal das Wasser auch nur leicht kräuselte, sprangen sie hoch und starrten sich die Augen aus. Aber das war kein Wind, vielleicht hing es nur mit einer unterseeischen Strömung zusammen.

Als auch der Proviant gekürzt wurde, murrte zwar niemand, dafür waren sie viel zu einsichtig und diszipliniert, aber die Stimmung wurde noch schlechter.

Ständig wechselten die Ausgucks, und so manch hoffnungsvoller Blick richtete sich auf die Kimm. Doch jedesmal wurde eine Enttäuschung daraus.

Sie befanden sich irgendwo in der trostlosen Weite des riesigen Meeres und kannten nicht einmal genau ihren Standort.

Trinkwasser gab es jetzt nur noch zweimal am Tag. Einmal morgens, dann erst wieder am späten Nachmittag. Das Frühstück fiel ebenfalls sehr sparsam aus, aber zum Glück hatten sie bei der wilden Hitze sowieso keinen großen Hunger. Der Durst war schlimmer.

Die Kalme hielt jetzt bereits dreieinhalb Tage an, und immer noch war kein Ende abzusehen. Der Wind, den sie herbeisehnten, der über Leben oder Tod entschied, blieb weiterhin aus.

„Regnen müßte es“, sagte der Kutscher, „wenigstens ein paar Stunden lang. Dann wäre das Trinkwasserproblem für eine Weile gelöst.“

„Und das Hungerproblem?“ fragte Matt Davies, „wie lösen wir das?“

„Verdursten ist schlimmer. Bevor wir verhungern, sind wir längst verdurstet.“

„Sehr beruhigend.“

„Ja, das ist das einzige, was wir mit Sicherheit annehmen können. Aber wie wäre es, wenn wir es mal mit Angeln versuchen würden?“

„Daran habe ich auch schon gedacht“, sagte Ben Brighton. „Aber zum Angeln brauchen wir Köder, und woher nehmen wir die?“

„Salzfleisch vielleicht“, murmelte der Kutscher. „Immerhin können wir es versuchen.“

Nach einer Stunde waren die ersten Angelleinen ausgeworfen und mit Salzfleisch bestückt. Anfangs waren sie noch mit Feuereifer bei der Sache, doch als sich nach zwei, drei Stunden immer noch nichts rührte, verloren einige langsam die Geduld.

Der Kutscher schlug vor, die Leinen zu verlängern. Das wurde getan, aber es brachte keinen Erfolg. Kein einziger Fisch biß an.

„Die haben ja recht, die Außenbordkameraden“, motzte der Profos, „ich an ihrer Stelle würde auch kein ungenießbares und steinhartes Salzfleisch fressen, wenn in der Tiefe bessere Brocken lauern. Die haben doch ihren Tisch gedeckt, die Burschen.“

Sie ließen die Angelleinen auch über Nacht hängen. Am anderen Morgen hingen die Köder unberührt dran. Die Pazifik-Bewohner hatten offenbar einen besseren Geschmack.

Von nun an ging es bergab. Jeden Morgen erwartete sie ein strahlend blauer Himmel, an dem nicht die Andeutung einer Wolke zu sehen war. Das glatte Meer regte sie auf. Wenn sie Durst hatten, dann mußten sie warten, bis ihnen die Zungen zum Hals heraushingen, und wenn sie Hunger hatten, mußten sie ebenfalls warten, bis der Kutscher und Mac ihnen die spärlich bemessenen Rationen zuteilten.

Eines Mittags war plötzlich ein ungewohntes Geräusch in der entsetzlichen Stille zu hören. Wie elektrisiert stürzten die Arwenacks an das Schanzkleid.

Sie sahen einem Schauspiel zu, das sie schon mehr als einmal erlebt hatten.

Tief unter ihnen glitzerte das Wasser wie Silber. Riesige Schwärme kleinerer Fische flitzten aufgeregt dahin. Sie veränderten blitzschnell ihre Richtung, gingen tiefer oder stießen näher zur Oberfläche hoch.

Ganze silbrig blinkende Fischschwärme flüchteten in wilder Panik. Einige gerieten der Oberfläche dabei so nahe, daß man sie mit der Hand hätte fangen können.

„Räuber sind hinter ihnen her“, sagte Mac Pellew. Er zuckte zusammen, als ein paar silbrige Leiber blitzschnell aus dem Wasser sprangen. Sie sprangen mehrere Fuß hoch und fielen dann wieder zurück.

„Los, in die Jolle“, sagte Carberry eifrig, „vielleicht fangen wir ein paar der Burschen.“

Die Jolle hing schon seit zwei Tagen außenbords. Sie benutzten sie zum Zeitvertreib, pullten ein wenig um das Schiff oder schwammen in dem kühlenden Wasser.

Die Aussicht, den mageren Speisezettel aufzufrischen und gebackenen Fisch zu essen, beflügelte sie. Sie waren ganz versessen darauf, und ihnen lief schon das Wasser im Mund zusammen.

Ferris, Ed, Smoky und Bill enterten in die Jolle und pullten zu jener Stelle, wo immer wieder mal ein paar Fische aus dem Wasser sprangen. Sie starrten ihnen mit hungrigen Augen nach.

Unter ihnen spielte sich ein Drama in der See ab. Unsichtbare Räuber fuhren wie verrückt in den Schwarm. Sie sahen es daran, wenn winzige Fetzen an die Oberfläche trieben. Die Räuber selbst waren jedoch nicht zu entdecken. Ferris Tucker tippte auf Barracudas, gierige und räuberische Pfeilhechte, die mit ihren scharfen Zähnen Brocken aus den Fischen rissen, dann umkehrten und sie verschluckten.

Dicht neben dem Boot kochte und brodelte das Wasser.

Smoky zuckte zurück, als etwas vor ihm ins Wasser fuhr. Er sah den Pfeil nicht einmal, den Batuti mit seinem Bogen abgefeuert hatte. Er hörte ihn nur ins Meer zischen. An dem Pfeil hing eine dünne Leine aus Kabelgarn. Der Riese aus Gambia hatte auf gut Glück mitten in den quirligen Fischschwarm geschossen.

Als er jetzt die Leine einholte, zappelten am Pfeil zwei mehr als handgroße Fische, was ein lautstarkes „Hurra“ bei den Arwenacks auslöste. Der nächste Schuß brachte ein weiteres Exemplar an Bord, zwei weitere sprangen in ihrer Angst vor den Räubern ins Boot.