Greifswalder Gespenster

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Greifswalder Gespenster
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Burkhard Wetekam

GREIFSWALDER GESPENSTER


»Greifswalder Gespenster« ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, Gegebenheiten und Institutionen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Wolfram, den Freund der Biber

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

DER AUTOR

Prolog

»Du weißt, was du tun musst.« Unter der Maske klang die Stimme des Mannes dumpf und irgendwie verwaschen. Eine Hand, von der er nicht wusste, zu wem sie gehörte, presste seinen Kopf auf den Boden. Er konnte die feuchte Erde riechen und abgestorbene, faulige Biomasse.

»Was sagst du? Unterschreibst du?«

Er zog es vor zu schweigen. Das konnte er: schweigend protestieren. Eigenartigerweise verspürte er kaum Angst, nur eine sonderbare Form von Aufregung, gepaart mit Ungläubigkeit und der Lust, diesen Typen zu sagen, was er von ihnen hielt. Noch immer erstaunte es ihn, dass es solche Typen wirklich gab.

»Los, antworte!«

Ein Fußtritt traf ihn in die Seite, unterhalb des Rippenbogens. Für einen Augenblick blieb ihm die Luft weg. Hätte er nicht vorsichtiger sein müssen? War so etwas nicht zu ahnen, ja beinahe zu erwarten gewesen? Jetzt fühlte es sich doch ganz anders an, als er sich das ausgemalt hatte. Seine Hände krampften sich ins Gras, er spürte zarte Halme zwischen den Fingern, aber auch eine Gruppe fester Stängel, wie von Binsen. Konnte das sein? War es an diesem Ort, diesem Niemandsland zwischen Hafen und altem Friedhof, feucht genug für Binsengewächse? Es gab ja viele Arten, Hunderte mussten es sein, bekannt war vor allem die Flatter-Binse, Juncus effusus, mit ihren dichten, dunkelgrünen Horsten und den geradlinig aufstrebenden Halmen.

»Na, was ist?«

Der Kerl, der ihn bislang zu Boden gedrückt hatte, setzte nun einen kantigen Schuh auf seinen Nacken. Warum er das tat, wurde Sekunden später klar: Der Typ packte seinen linken Arm und drehte ihn schwungvoll nach oben. Zum ersten Mal machte ihm der Schmerz ernsthaft zu schaffen.

»Gut, dann eben anders. Wenn du bei Drei nicht gesagt hast, was ich hören will, breche ich dir einen Finger.«

Er versuchte ruhig zu atmen. Finger brechen! Waren die denn verrückt? Und so dämlich, bleibende Schäden zu hinterlassen? Um sich selbst zu beruhigen, begann er, die lateinischen Namen der ihm bekannten Binsenarten lautlos aufzuzählen: Juncus effusus, Juncus maritimus, Juncus subnodulosus, die aus Nordamerika eingewanderte und schon lange heimische Zarte Binse, Juncus tenuis, und nicht zu vergessen Juncus gerardii, die Bodden-Binse, die gern auf salzhaltigen Böden siedelt.

»Also: Du gehst jetzt nach Hause und unterschreibst das Papier, das in deinem Briefkasten liegt.«

»Arschloch. Sag deinem Chef, dass es so nicht läuft.«

Es war eindeutig nicht der richtige Moment, um über angemessene Formen von Kommunikation zu diskutieren. Seine Wange wurde noch fester in den lehmigen Boden gepresst. Er versuchte aus den Augenwinkeln etwas von dem Idioten zu erkennen, der ihn malträtierte. Aber er sah nur einen schwarzen Lederstiefel und ein Stück von einem Bein, das in einer Jeanshose steckte. Zwischen den Büschen hing die Morgendämmerung. Er liebte diese Zeit, gerade im Herbst. Fast jeden Tag drehte er hier eine Laufrunde.

»EINS!«

Der Mann gab seiner Stimme einen betont scharfen Klang. Aber war da nicht auch etwas Schwankendes? Die würden es nicht tun. Die blufften.

»ZWEI!«

Eine Hand packte seinen linken, kleinen Finger. Er musste schlucken. Jetzt war sie da. Die Angst. Er hatte es nicht wahrhaben wollen, aber jetzt hatte er Angst. Trotzdem sagte er nichts. Einfach nichts sagen. Nicht nachgeben. Sich nicht wegducken. Atmen und schweigen. Schweigen und atmen. Wenn er jetzt anfing, seine Grundsätze aufzugeben – wofür hatte er dann acht Jahre lang standgehalten?

»DREI!«

Das Knacken in seinem Finger war unverschämt laut. Und der Schmerz leuchtete greller als alles, was er bis dahin hatte leuchten sehen. Dieser Schmerz konnte einen Menschen in den Wahnsinn treiben. Vielleicht empfand er den Schmerz deshalb als so unverschämt durchdringend, weil er sich angebahnt hatte. Es fehlte das Überraschungsmoment, das seinen Körper veranlasst hätte, eine größere Menge betäubendes Adrenalin auszuschütten. Der Schmerz raste seinen Arm hinauf und setzte seinen ganzen Körper unter Strom. Er wand sich jammernd auf dem feuchten Boden und rollte in eine Pfütze. Sein Magen rebellierte, er spuckte eine Portion Karottensaft ins schlammige Wasser, wo die orangefarbene Flüssigkeit ein florales, an den Jugendstil erinnerndes Muster ausbildete. Er krümmte sich zusammen und lag da wie ein Embryo, die kalte Nässe kroch wie ein Vorbote des Todes unter seine Jacke und sog sich in seine Jogginghose.

Als er wieder etwas klarer denken konnte, war der Maskenmann verschwunden. Er traute sich nicht, nach seinem entstellten Finger zu sehen, dem er zwischen den Oberschenkeln ein weiches Lager bereitet hatte. Stattdessen fiel sein Blick auf ein kleines, aber gut ausgebildetes Exemplar der Knäuel-Binse, Juncus conglomeratus. Die Schmerzstöße schüttelten den Namen spielend leicht aus seinem Gedächtnis. Auf dem Brachland war es also tatsächlich feucht genug für diese Art Binsen – eine überraschende und schöne Erkenntnis an einem sonst fürchterlichen Morgen.

 

1

Tanja Grundler war pünktlich und sie stand genau dort, wo sie sich verabredet hatten: an der Spitze der Mole, auf einer kleinen Aussichtsplattform. Sie trug eine weinrote Daunenjacke und blickte hinaus auf die Dänische Wiek, besser gesagt: in einen weiten Raum undurchdringlicher Grautöne. Als sie Toms Schritte hörte, wandte sie sich um.

Sie mochte um die vierzig Jahre alt sein, ihre Gesichtshaut war hell und auffallend glatt, unter dem Saum der Kapuze lugten braun gelockte Haare hervor.

»Ich mag diesen Nebel«, sagte sie.

»Ich hasse ihn.«

Er wollte nicht ganz so schroff wirken und schob noch eine Erklärung hinterher. »Mir wäre da draußen beinahe ein Angler vor den Bug gefahren.«

Sie hatte ihre Hände tief in den Taschen ihrer Jacke versenkt. So tief, dass Tom darauf verzichtete, sie mit einem Handschlag zu begrüßen. Er beschränkte sich auf ein Nicken.

»Ich habe beobachtet, wie Sie in den Hafen reingefahren sind. Das war fantastisch.«

»Wieso fantastisch?«

»Kennen Sie Rain, Speed and Steam – das Gemälde?«

Tom schüttelte den Kopf.

»Kennen Sie William Turner?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Dann haben Sie etwas verpasst. Niemand malt Dunst und Nebel so wie Turner. Auf Rain, Speed and Steam sieht man einen Zug mit Dampflok, genauer gesagt, man ahnt, dass es diesen Zug gibt, so sehr verschwimmt er mit den aufgewirbelten Elementen. Und obwohl man diesen Zug kaum erkennt, hat man das Gefühl, dass er mit einer großen Geschwindigkeit durch diese Dunstwolken rast – das ist einfach fantastisch. Und daran musste ich gerade denken. Ihr Boot war allerdings etwas langsamer.« Sie lächelte mitleidig. »Sie interessieren sich nicht für Kunst, oder?«

»Nicht wirklich. Meine Freundin ist zwar Künstlerin, aber …«

»Ach ja? Ist sie hier?«

»Nein, sie ist in Philadelphia, da hat sie ein Stipendium bekommen und …« Er brach ab. Nie im Leben hatte er vorgehabt, mit einer ihm völlig unbekannten Frau über Clara und ihre etwas überraschende Reise in die Vereinigten Staaten zu plaudern. Es war ein merkwürdiger Anfang. »Lassen Sie uns über Ihr Anliegen sprechen«, sagte er und fragte sich, warum sie sich überhaupt mit ihm verabredet hatte. Wollte sie ihn testen?

»Ist das Ihr eigenes Boot?«

Er nickte.

»Und während Sie hier sind, wohnen Sie darauf?«

Wieder nickte er.

»Toll. Das ist … irgendwie romantisch, oder?«

Tom hatte inzwischen den dringenden Wunsch, zur Sache zu kommen. Ihm war kalt, in seinem Gesicht hingen Wassertropfen, die lange Fahrt ohne Sicht hatte ihn angestrengt. »Wenn man es schafft, nicht an die Unterhaltskosten zu denken, ist das eine schöne Sache. Die MATHILDA ist nicht mehr die jüngste. Ich werde in den nächsten Tagen einige Reparaturen durchführen lassen, hinten in Greifswald.«

Die Frau in der weinroten Jacke lächelte. »Na, da schlagen Sie ja zwei Fliegen mit einer Klappe. Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dachte, dass Sie extra meinetwegen …«

»Um ganz ehrlich zu sein: Wenn ich diesen Aufenthalt hier nicht sowieso geplant hätte, dann wäre ich gar nicht nach Greifswald gekommen.«

Seine Offenherzigkeit enttäuschte sie, das spürte er. Aber so war es nun mal: Die dürftigen Informationen, die sie am Telefon herausgerückt hatte, deuteten darauf hin, dass er vermutlich nicht helfen konnte.

»Also«, begann sie, »ich denke …«

Abermals unterbrach Tom sie. »Wäre es wohl möglich, dass wir das Gespräch woanders als auf dieser nasskalten Mole führen? Drüben auf der anderen Seite des Hafens ist mindestens ein Restaurant geöffnet.«

Sie schüttelte den Kopf. »Lieber nicht. Entschuldigung. Aber ich möchte hier nicht zu vielen Menschen begegnen. Ich habe meine Gründe.«

Tom schluckte seinen Ärger herunter. Er war nun entschlossen, die Sache möglichst zügig zu beenden. Tanja Grundler schien das zu spüren. Sie wurde plötzlich nervös. Mit einer ruckhaften Bewegung öffnete sie ihre Handtasche und reichte ihm eine Fotografie. »Dieser Mann ist verschwunden. Ich habe mehrmals bei ihm geklingelt, er reagiert nicht auf Anrufe und seine Nachbarn haben ihn auch seit etwa einer Woche nicht mehr gesehen.«

Die Fotografie zeigte einen Mittvierziger, der mit zusammengekniffenen Augen in die Welt blickte. Sonnengebräunte Haut, leicht zerzaustes Haar, Dreitagebart. ›Das Bild eines Abenteurers‹, dachte er. »Haben Sie die Polizei eingeschaltet?«

»Hab’s versucht. Ich bin keine direkte Angehörige. Die Polizei hat mit seiner Frau gesprochen, die von ihm getrennt lebt. Sie hält das Verschwinden wohl für normal und dieser Meinung hat sich die Polizei dann angeschlossen. Aber ich mache mir große Sorgen um Malte.«

Tom blickte über die Frau hinweg. Aus dem Nebel über dem Greifswalder Bodden tauchte das Bild eines Beziehungsdreiecks auf: Eine gekränkte Nicht-mehr-Ehefrau, eine besorgte Geliebte und dazwischen ein cooler Naturbursche, dem vielleicht alles zu viel geworden war. »Haben Sie mal darüber nachgedacht, ob Malte sich vielleicht absichtlich zurückgezogen hat?«

Seine Möchtegern-Auftraggeberin nahm ihm ohne Vorwarnung die Fotografie aus der Hand. »Das ist genau die Frage, die ich jetzt nicht hören wollte. Das ist so eine Beamtenfrage.«

»Sorry, aber solche Fragen müssen möglich sein.«

»Er hat sich noch nie auf diese Weise zurückgezogen! Er ist sonst sehr verbindlich, sehr klar im Umgang mit mir. Ja, er fährt manchmal spontan eine Weile weg. Aber er hat sich dann bislang immer bei mir gemeldet. Und ich weiß, dass er in Gefahr ist.«

»Was für eine Gefahr?«

Sie wich seinem Blick aus. Es schien so, als merke sie, dass alles komplizierter war, als sie sich das ausgemalt hatte. »Ja«, sagte sie zögernd, »das muss ich Ihnen dann wohl erzählen.«

Beinahe hätte Tom laut gelacht. »Wenn ich etwas für Sie tun soll«, rief er, jetzt fast schon wütend, »dann müssen Sie mir noch viel mehr erzählen. Sie müssen mir alles erzählen. Und Sie müssen sich darauf einstellen, dass ich vielleicht weniger für Sie tun kann, als Sie hoffen. Ich will ganz ehrlich sein: Ich habe nicht die gleichen Möglichkeiten wie die Polizei. Telefone abhören kann ich nicht, Wohnungen durchsuchen auch nicht. Ich habe andere, aber insgesamt weniger Möglichkeiten. Und ich brauche Anhaltspunkte. Alles, was Ihnen einfällt. Orte, Kontakte, private und berufliche Probleme. Sie werden mich von Anfang an bezahlen müssen, unabhängig vom Erfolg meiner Arbeit. Denken Sie darüber nach, ob Sie mich wirklich engagieren wollen.«

Während er gesprochen hatte, war Tanja Grundler einen Schritt zurückgewichen, bis an das Eisengeländer der kleinen Plattform. Sie sah ihn überrascht an. Dann musste sie lachen. Es war ein etwas hilfloses, fast schon verzweifeltes Lachen. »Das war jetzt aber keine Bewerbungsrede, oder?«

2

Tom hatte sich darauf eingelassen, weiter über den Auftrag zu sprechen, nachdem Tanja Grundler sich ihrerseits darauf eingelassen hatte, das Gespräch in ein Restaurant zu verlagern. Sie gingen zurück über den Steinwall, von rechts trafen sie die mürrischen Blicke dreier Holzfiguren, die hier Wind und Wetter ausgesetzt waren. Verhangener Gesichtsausdruck, stoischer Geradeausblick, hängende Mundwinkel – war das die besondere Herzlichkeit, mit der man von Greifswald hinaus in die Welt blickte?

Sie passierten das Hotel Utkiek, das auf Betonstelzen errichtet war, dann folgte der futuristisch anmutende Sperrwerksbau, der das Landesinnere vor Überflutungen schützen sollte. Es waren nur wenige Menschen unterwegs, auch auf den vereinzelten Booten im Hafen regte sich nichts. Ein Angler saß zusammengekauert auf einem Poller und hielt seine Angel so reglos ins Hafenbecken, dass man ihn für eine Statue hätte halten können.

Sie überquerten den Ryck auf der berühmten Wiecker Klappbrücke, aber an diesem dämmerigen Spätnachmittag schien sich niemand für das beliebte Fotomotiv zu interessieren. Die galgenartige Balkenkonstruktion erhob sich bedrohlich über dem braun-grünen Wasser.

Das Restaurant Il Ponte hatte nach der Nachmittagspause gerade erst wieder aufgemacht. Für die Gäste, die zum Abendessen hier einkehren würden, war es noch zu früh, sodass sie vorerst den gesamten Gastraum für sich hatten. Über den verschwundenen Mann wusste Tom nach wie vor nicht viel.

Seine potenzielle Auftraggeberin unterhielt sich weiterhin lieber über Kunst. »Die Klosterruinen von Eldena kennen Sie wohl auch eher nicht? Die berühmten Bilder von Caspar David Friedrich? Wundervoll! Sie zeigen, wie vergänglich die großen menschlichen Leistungen sind, aber sie trösten uns auch mit ihrer Schönheit. Wenn Sie schon hier sind, können Sie sich natürlich auch die ganz realen Ruinen ansehen.«

»Die sind in der Nähe, oder?«

Tanja Grundler schien ein Seufzen über Toms Unwissenheit unterdrücken zu müssen. Sie deutete über das Hafenbecken hinweg. »Zehn Minuten zu Fuß von hier. Ich denke, wir müssen Sie etwas fit machen, damit Sie bei Ihrer Künstlerfreundin mithalten können, wenn die aus Amerika zurück ist. Die Ruinen müssen Sie sich unbedingt ansehen, am besten morgen früh, da soll es wieder sehr nebelig werden. Das gibt eine fantastische Atmosphäre.«

»Leider muss ich dann das Boot startklar machen, um die erste Brückenöffnung nicht zu verpassen.«

Sie schüttelte den Kopf, fast schon verzweifelt über seine Ignoranz, und erzählte etwas von einem weiteren Bild, das im Pommerschen Landesmuseum zu sehen war: Der Greifswalder Hafen, gemalt von einem gewissen Johann Friedrich Boeck. »Ein majestätisches Segelschiff im Zentrum, dahinter Speichergebäude und die Altstadt mit ihren Kirchtürmen. Die Szene ist in ein ganz eigenartiges Licht getaucht, mit einem gelb-bläulichen Abendhimmel. Im Vordergrund drei Männer, sie wirken etwas unheimlich, weil man nur ihre dunklen Silhouetten sieht. Aber sie haben einen Topf über ein Feuer gehängt. So eine Suppe hat ja dann auch wieder etwas Gemütliches.«

»Vielleicht kochen sie ja auch Pech, zum Abdichten für einen Schiffsrumpf.«

Tanja Grundler gab ihre Bemühungen lachend auf. »Nein, Sie sind kein Romantiker, wirklich nicht.«

Tom wurde nicht schlau aus ihr. »Sollten wir vielleicht wieder über … «

Sofort unterbrach sie ihn. »Ja, ich bin einfach nicht auf Kurs – Entschuldigung. Aber diesen einen Satz muss ich noch loswerden: Wenn ich diese Gemälde betrachte, dann habe ich das Gefühl, mich an einem magischen Ort zu bewegen. Und das wiederum verzaubert die realen Orte. Wenn du dann zum Hafen gehst, hörst du die Rufe der Schiffer, das dumpfe Grollen, wenn sie Fässer auf die Mole rollen, du riechst das Holz, den Duft von Gewürzen …«

Gerade in diesem Augenblick schlug Tom aus der Küche eine Wolke entgegen, die mit dem Aroma von Knoblauch und gebratenen Sardellen gesättigt war. ›Greifswald an der Adria‹, dachte er. »Sie mögen es, sich in andere Welten zu versetzen, oder?«

Sie sah ihn von der Seite an. »Der Traum von einer anderen Existenz ist das, was mich am Leben hält.«

Damit waren sie endlich wieder beim Thema. Während Tom an einem starken, schwarzen Kaffee nippte, bekam er einen vorläufigen Überblick: Malte Naujock war studierter Biologe und engagierter Umweltschützer. Er hatte bis vor eineinhalb Jahren in einem Dorf im Landkreis gewohnt und dort ehrenamtlich ein Naturschutzgebiet betreut. Nach der Trennung von seiner Frau hatte er seinen unbefristeten Job bei der Kreisverwaltung gekündigt und war in die Innenstadt von Greifswald gezogen. Inzwischen lebte er von spärlichen Honoraren, die ein Lehrauftrag an der Universität und Schulungen für Angestellte aus Naturschutzbehörden abwarfen. Malte brachte den Sachbearbeitern praktische Naturschutzarbeit nahe, indem er mit ihnen spätabends oder frühmorgens in unwegsamen Flussauen Vögel, Biber und Reptilien beobachtete. Er erklärte den Büromenschen, wie alles zusammenhing und warum es sinnvoll ist, in einem Bibergebiet wasserdichte Schuhe zu tragen.

»Für mich klingt das so, als ob da jemand ein wenig aus der Bahn geraten ist«, kommentierte Tom das, was ihm Tanja Grundler berichtete. Aber sie hob abwehrend die Hand. »Das stimmt so nicht. Ich würde es genau andersherum sehen: Malte ist von der breiten Straße der Kompromisse auf den Pfad abgebogen, der seiner inneren Wahrheit entspricht. Er hat sich von einigen Lebenslügen getrennt und ist sich dabei selbst ein Stück nähergekommen. Viel näher.«

 

»Bemerkenswert«, sagte Tom. Es sollte nicht abfällig klingen, aber er konnte den ironischen Unterton nicht vollständig unterdrücken. Er musste sich zusammenreißen. »So eine Richtungsänderung hat sicher ihren Preis, oder?«

Sie schien für einen Moment in sich hineinzuhorchen. »Es war ein tiefgreifender Bruch, ganz bestimmt. Das Verhältnis zu seiner Ex-Frau ist schwierig. Er hat auch eine neunzehnjährige Tochter, die sich anfangs komplett von ihm abgewandt hat. Inzwischen geht es wohl etwas besser. Aber entscheidend für Malte sind die Kontinuitäten: Er hat schon immer für die Natur gelebt – das kann er jetzt kompromissloser und ehrlicher. Er zeigt Menschen, wie lebendig die Welt abseits der Straßen ist, wie wunderbar alles zusammenwirkt. Und wie bedroht das ist, was scheinbar selbstverständlich neben uns her existiert. Das mag ich so an ihm: Diese Konsequenz und wie er ganz in seiner Leidenschaft für Pflanzen und Tiere aufgeht. So haben wir uns auch kennengelernt, bei einer Exkursion in seinem früheren Biberrevier. Ich war so hingerissen von der Art, wie er alles erklären kann. Er hat ein ganz eigenes, manchmal inniges, manchmal auch kumpelhaftes Verhältnis zu dem, was da fleucht und kreucht. Das klingt jetzt komisch, aber er ist mit der Natur tief im Innern verbunden, und das kann er so vermitteln, dass du das Gefühl hast …«

Sie hielt plötzlich inne und sah Tom peinlich berührt an. »Jetzt habe ich angefangen zu schwärmen. Und ich habe ‚du’ gesagt. Das ist ja hier alles sehr persönlich. Sollen wir beim Du bleiben? Ich mache mir wirklich große Sorgen um ihn.«

Tom musste lächeln. Eigentlich war es ihm wichtig, zu seinen Auftraggebern eine gewisse Distanz zu bewahren. Aber in diesem Augenblick empfand er für die Frau, die sich in einem Strudel der Gefühle drehte, zum ersten Mal Sympathie. »Gut, bleiben wir beim Du«, sagte er etwas onkelhaft. »Aber du solltest mir jetzt erzählen, warum du dir Sorgen machst. Habe ich das vorhin richtig gehört: Du glaubst, Malte sei in Gefahr?«

Tanja stellte ihre Tasse, die sie gerade erst zum Mund führen wollte, mit ernster Miene wieder ab.

»Nicht ohne Grund. Malte besitzt ein Stück Land, das er von einer Tante geerbt hat. Es liegt in einem Gebiet, das die Friedländer Große Wiese genannt wird, eine trockengelegte Moorlandschaft, von vielen Gräben durchzogen. Man kann dort nur in Maßen Landwirtschaft betreiben, die Bauern mähen das Gras, um es ans Vieh zu verfüttern oder für die Erzeugung von Biogas. Eigentlich nichts Spektakuläres. Nun soll aber auf der Friedländer Großen Wiese ein Windpark gebaut werden. Die Pläne existieren seit Jahren. Malte weigert sich, sein Land zu verkaufen oder zu verpachten. Er hat Bedenken, weil durch die Windräder Vögel und Fledermäuse getötet würden. Und von beiden gibt es da recht viele.«

»Kann denn ein einzelner Grundstücksbesitzer die Pläne blockieren?«

Sie nickte. »Maltes Land liegt so zentral im Planungsgebiet, dass der Windpark ohne seine Zustimmung nicht gebaut werden kann.«

»Seine Weigerung ist also der Grund, warum du dir Sorgen machst?«

Tanja presste die Handflächen aneinander. »Er hat anonyme Drohanrufe bekommen, sein Auto wurde zerkratzt und ein toter Vogel lag in seinem Briefkasten. Bei dem Projekt geht es um viele Millionen. Die Firma, die den Park geplant hat, steckt da seit Jahren Geld rein. Und die anderen Landbesitzer könnten mit den Pachtzahlungen gut verdienen. Ich weiß nicht, wer hinter diesen Attacken steckt. Es kommen einige in Frage.«

Instinktiv blickte Tom sich um, aber das nahezu leere Restaurant machte einen zutiefst friedlichen Eindruck. Nur ein Kellner lehnte seitlich an der Theke und blätterte in einem Notizblock.

»Hast du auch Angst?«, fragte Tom. »Ist das der Grund, warum du niemandem begegnen willst?«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht das Problem. Aber ich bin verheiratet und mein Mann weiß nichts von Malte und mir. Er ist Pastor in Ueckermünde. Das macht die ganze Sache kompliziert. Wenn mich hier zufällig jemand aus unserem wunderschönen, aber auch beengenden Ort sieht, zusammen mit einem unbekannten Mann, dann geht das Gerede los.«

Allmählich vervollständigte sich das Bild. Nach wie vor hatte Tom große Zweifel, dass er viel erreichen würde. Er stellte Tanja die Frage, vor der sie sich zu fürchten schien. »Ich hätte gern eine ehrliche Einschätzung von dir. Was, denkst du, ist mit Malte passiert?«

Sie hob die Schultern und zögerte lange mit der Antwort. »Ich … ich weiß es nicht. Vielleicht haben sie ihn entführt. Eingesperrt, irgendwo in einem Keller. Vielleicht wollen sie ihn zwingen, das Land zu verkaufen. Oder schlimmer noch: Er wurde … ich darf gar nicht dran denken. Das ist es, was mir Angst macht. Wirklich.«