Es reicht

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Aus der Reihe: Franziskanische Akzente #21
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Burkhard Hose

Es reicht

Auf dem Weg zu einer neuen Kultur des Teilens

Franziskanische Akzente

herausgegeben von Mirjam Schambeck sf und Helmut Schlegel ofm

Band 21

BURKHARD HOSE

Es reicht

AUF DEM WEG ZU EINER NEUEN KULTUR DES TEILENS

echter

Herzlicher Dank geht an Eva Kasper für die sorgfältige Zuarbeit bei den Korrekturen sowie an die Provinz Sankt Elisabeth der Franziskaner-Minoriten, OFM Conv. in Deutschland für die finanzielle Unterstützung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2020

© 2020 Echter Verlag GmbH, Würzburg

www.echter.de

Umschlag: wunderlichundweigand.de (Foto: © Elisabeth Wöhrle sf)

Satz: Crossmediabureau, Gerolzhofen

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

ISBN

978-3-429-05397-0

978-3-429-05040-5 (PDF)

978-3-429-06450-1 (ePub)

Inhalt

Vorwort: Die Entdeckung einer Kultur des Teilens – das Abendmahl von Herne

1. Hürden auf dem Weg zu einer neuen Kultur des Teilens – von alten Ängsten und überholten Ordnungen

Der Weg zum Teilen führt über die Angst vor dem Teilen

Von der Angst, zu kurz zu kommen

Welchen Wolf füttern wir?

Der Weg zum Teilen führt über die Wahrnehmung der eigenen Privilegien

„Jesus is black“

Der „Sommer der Barmherzigkeit“

Charity-Teilen: Wir geben und alles bleibt, wie es ist

Armut und Reichtum – es geht um mehr als Geld

Die existentielle Bedeutung von Arm und Reich: die Frage nach Würde und Anerkennung

Die politische Bedeutung von Arm und Reich: die Frage nach Teilhabe und Zugehörigkeit

2. Teilen als Grundprinzip in Gottes neuer Welt – biblische Konturen einer neuen Kultur des Teilens

Gottes Parteinahme für die Armen – Teilen als Erfüllung des Gesetzes in der hebräischen Bibel

„Wenn bei dir ein Armer lebt …“ (Dtn 15,7) – von Zehnten, Erlassjahren und zinslosen Krediten

„… der Gerechte aber gibt, ohne zu geizen“ (Spr 21,26) – Abschied von der Gier nach Mehr

„Ist nicht das ein Fasten, wie ich es wünsche …?“ (Jes 58,6) – Wer fromm sein will, muss teilen

Jesu Parteinahme für die Letzten – Teilen als Statusverzicht im Neuen Testament

„Leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr …“ (Mk 10,25) – vom Besitz, der einsam macht, und vom Teilen, das verbindet

„Und alle aßen und wurden satt“ (Mk 6,42) – Teilen im Vertrauen, dass es für alle reicht

„Umsonst habt ihr empfangen, umsonst sollt ihr geben“ (Mt 10,8) – Teilen, weil wir selbst Beschenkte sind

„Macht euch Geldbeutel, die nicht alt werden!“ (Lk 12,33) – Teilen, um frei zu werden

„ Und wenn ich meine ganze Habe verschenkte …“ (1 Kor 13,3) – Teilen aus Liebe

„Wollt ihr jene demütigen, die nichts haben?“ (1 Kor 11,22) – Teilen, weil wir alle die gleiche Würde besitzen

„… sie hatten alles gemeinsam …“ (Apg 4,32) – eine Utopie von Kirche

3. Franziskanische Akzente für eine neue Kultur des Teilens

Nichts brauchen, weil wir schon alles haben

Vom geteilten Besitz zum geteilten Leben

Solidarität als Lebensprinzip

Im Teilen Würde leben

Stachel im Fleisch einer reichen Kirche

4. Die neue Kultur des Teilens und die utopie einer Gesellschaft in Würde 69

Von der Leistungsgesellschaft zur Würdegesellschaft

Teilen aus der Perspektive der Benachteiligten

Für uns gemeinsam wird es reichen

Zum Weiterlesen

Abkürzungsverzeichnis

Gib mir die Kraft, die Armen nie zu verleugnen und meine Knie vor frecher Macht nie zu beugen.

Rabindranath Tagore

Vorwort: Die Entdeckung einer Kultur des Teilens – das Abendmahl von Herne

Eine offene Tür. Ein Küchentisch. Eine Scheibe Brot und ein Becher Wein. Und keiner, der peinliche Fragen stellt. Das reicht für ein Abendmahl, vielleicht sogar für mehr.

Es muss im Winter 1989 gewesen sein, als ich zum ersten Mal während meines Theologiestudiums begriffen habe, worum es bei den Mählern ging, die Jesus mit Menschen seiner Zeit gefeiert hat. Meine Lehrer waren an diesem Abend drei Franziskaner. Anfang der 1980er Jahre hatten sie eine Wohnung in der Obdachlosensiedlung Buschkampstraße in Herne bezogen. Freiwillig. Und das unterschied sie von allen anderen, die hier lebten. In der städtischen Notunterkunft wohnten Menschen, die wegen einer Zwangsräumung ihre Wohnung verlassen mussten, ihren Job verloren hatten oder nach einer Haftzeit auf dem freien Wohnungsmarkt keine Bleibe fanden. Freiwillig kam hier keiner hin. Deshalb wurde die kleine franziskanische Gemeinschaft anfangs auch skeptisch beäugt.

Warum zieht jemand aus freien Stücken in so eine Straße? Ich hatte mich bei einem Besuch bei einem befreundeten Franziskaner, den ich während des Studiums in der Schweiz kennengelernt hatte, auf einige ruhige Tage im Kloster in Münster eingestellt. Stattdessen nahm er mich mit nach Herne. In meiner Erinnerung hat sich die ausweglose Lage der Obdachlosensiedlung eingeprägt, in der sich der Konvent der Franziskaner niedergelassen hatte. Die Ausweglosigkeit, die viele Menschen hierhergebracht hatte, stellte sich für mich ganz konkret dar: An zwei Seiten war die Siedlung umgrenzt von einer Autobahn und von einem Bahndamm. Wer hier gelandet war, musste sich fühlen wie in einer Sackgasse. Die Franziskaner, die hier wohnten, teilten das Leben der Menschen, die das Leben hierherverschlagen hatte – vielleicht müsste ich besser sagen: Die Umstände hatten die Menschen hierherverschlagen. Und sie hielten sie hier fest. Denn wer die Buschkampstraße als Adresse angab, hatte es schwer, aus ihr wieder herauszukommen. Kein guter Absender, um einen Job oder eine bessere Wohnung zu finden. Diese Erfahrung machten auch die Franziskaner, die sich ja eigentlich freiwillig hier niedergelassen hatten und die sich vorgenommen hatten, sich ganz auf die Umstände einzulassen.

Als ich die kleine Gemeinschaft kennenlernte, bestand sie schon einige Jahre, und es war bereits Vertrauen gewachsen, vielleicht sogar so etwas wie eine neue Kultur des Zusammenlebens. Menschen, die freiwillig auf Privilegien verzichteten, lebten zusammen mit Menschen, denen Privilegien versagt blieben. Sie wollten sie nicht missionieren, aber ihnen war anzumerken, dass sie eine Mission hatten. In der Obdachlosensiedlung zu leben war die Erfüllung eines Auftrags, den sie für sich aus dem Evangelium und ihrer franziskanischen Lebensweise heraus formulierten. Dabei ging es nicht um eine asketische Übung oder um Selbstkasteiung. Es war vielmehr der Versuch, eine neue Kultur des Teilens zu praktizieren. Und zu dieser neuen Kultur gehörte dazu, das eigene Leben so weit zu verändern, dass benachteiligte Menschen nicht durch die Begegnung beschämt wurden. Mit Beschämung meine ich das Gefühl, das sich in Menschen einstellt, denen aus einer Position der Überlegenheit heraus geholfen wird. Mir wurde klar, dass die Beschämung vielleicht die größte Barriere ist, die privilegierte und nichtprivilegierte Menschen voneinander trennt.

 

Am Küchentisch, an den die Franziskaner zum Abendmahl einluden, wurde mir endgültig klar, was der franziskanische Konvent hier zu leben versuchte. Damals begann ich zu verstehen, was Jesus vermutlich im Sinn hatte, als er mit Menschen zu Tisch saß, die nicht zu den Privilegierten gehörten. Diese Mähler brachten Jesus einen zweifelhaften Titel ein, der sich in den Evangelien erhalten hat: „ein Fresser und Säufer, ein Freund der Zöllner und Sünder“ (Mt 11,19).

Die Verhältnisse in der Welt werden sich wohl erst verändern, wenn Teilen nicht mehr länger die Festlegungen der Gesellschaft verstärkt, indem Reiche nur etwas von ihrem Überfluss abgeben und Armen dadurch zwar in ihrer materialen Not geholfen wird, sie aber innerlich beschämt in einer grundsätzlich unveränderten Lage zurückbleiben. Am Küchentisch in Herne wurde mir klar: Gerechter wird die Welt erst durch eine neue Kultur des Teilens, die gleichzeitig alte Trennlinien zwischen Besitzenden und Benachteiligten in Frage stellt. Echtes Teilen beginnt da, wo mein Leben andere Menschen nicht mehr länger beschämt, sondern dazu beiträgt, dass bislang Benachteiligte ihre Würde leben können.

Manchmal genügt dafür eine offene Tür, ein Küchentisch, eine Scheibe Brot und ein Becher Wein. Und keiner, der peinliche Fragen stellt.

1. Hürden auf dem Weg zu einer neuen Kultur des Teilens – von alten Ängsten und überholten Ordnungen

Woran liegt es, dass uns das Teilen so schwerfällt, obwohl uns das Leid so vieler Menschen vor Augen steht und obwohl uns sowohl die Vernunft als auch das Gewissen aufrufen, daran etwas zu ändern? Die Hürden, die es auf dem Weg zu einer neuen Kultur des Teilens zu nehmen gilt, sind nur in wenigen Fällen mit Logik oder vernünftigen Argumenten aus dem Weg zu räumen. Tiefsitzende Ängste und scheinbar nicht hinterfragbare Ordnungen stellen vielleicht die größten Hindernisse dar, mit denen auf diesem Weg zu rechnen ist.

Manchmal geht einem dabei an persönlichen Verhaltensweisen oder an Eigenheiten von Menschen im nahen Umfeld etwas auf, was fast wie ein Erklärungsmuster oder wie ein Abbild für größere Kontexte oder für gesellschaftliche Muster wirkt.

Der Weg zum Teilen führt über die Angst vor dem Teilen

Von der Angst, es könnte nicht reichen

Eigentlich sollte es nur eine Autofahrt von gut zwei Stunden sein, die vor uns lag. Als ich meine Tante zu Hause abholte, um gemeinsam zur Hochzeit meines Bruders und seiner Frau zu fahren, bot sich mir jedoch ein Bild, das eher an den Aufbruch zu einer mehrwöchigen Treckingtour erinnerte. Meine Tante stand reisebereit vor ihrer Haustür. Vor ihr aufgebaut begrüßten mich zwei große Kühlboxen voller Essen und eine weitere Tasche mit Getränken, Obst und Kuchen. Ich konnte mir meinen ironischen Kommentar nicht verkneifen. „Tante Inge, wir fahren als Gäste, nicht als Catering auf diese Hochzeit!“ Für einen Moment stutzte meine Tante, lachte kurz auf und begann damit, den Proviant griffbereit für die Fahrt im Auto zu verstauen. Erst als wir bereits losgefahren waren, erwiderte sie meinen Kommentar, zuerst beinahe entschuldigend: „Ich habe immer Angst, mir könnten die Vorräte ausgehen. Und ich bin mir ziemlich sicher, ich weiß auch selber die Erklärung für dieses Gefühl. Als wir im Februar 1945 aus Oberschlesien geflüchtet sind, habe ich unterwegs so viel Hunger gehabt. Das hat sich mir tief eingeprägt, so dass ich immer Angst habe, es könnte nicht reichen.“

Die Angst, es könnte nicht reichen. Bei meiner Tante löste diese Angst ein Verhalten aus, mit dem sie in ihrer Generation nicht alleine war und das bei vielen Kriegskindern beinahe charakteristische Merkmale ausprägte. Dazu gehörte zum Beispiel eine stets gut gefüllte Speisekammer mit Einmachgläsern, die sorgfältig in Regalen aufgereiht wurden. Neben dem praktischen Nutzen hatte dies vielleicht auch noch einen psychologischen Effekt: Es war eine Art Behandlungsraum für die tiefsitzende Angst, die Vorräte könnten wieder einmal ausgehen. Diese Mangelerfahrung, die viele Menschen aus dem eigenen Kriegserleben an die nächste Generation gleichsam weitervererbt haben, konnte aber auch andere Symptome hervorbringen. Als ich während meines Studiums ein Praktikum in einer Pfarrei absolvierte und während dieser Zeit im Pfarrhaus untergebracht war, wurden wir von der Mutter des Pfarrers bekocht. Es verging kaum ein Mittagessen, das nicht von einem etwas merkwürdigen Ritual begleitet wurde. Erst wurde gebetet, dann eröffnete die Mutter des Pfarrers das Essen mit einem skeptischen Blick und mit der Bemerkung: „Ich glaube, das ist zu wenig.“ Anders als bei meiner Tante, die ihren eigenen Hunger auf andere Menschen projizierte und einen nach Besuchen nie ohne ein Glas Marmelade und Eingemachtes ziehen ließ, sorgte der Standardsatz der Pfarrersmutter bei jedem Essen eher für eine negative Grundstimmung. Egal wie viel auf dem Tisch stand, ich bekam als Gast immer das Gefühl, der behauptete Mangel hätte irgendwie mit meiner Anwesenheit zu tun.

Während die einen ihre eigene Angst, es könnte nicht reichen, in Vorratskammern und in einer ausgesprochenen Großzügigkeit und selbstverständlichen Bereitschaft zum Teilen ausleben, scheint bei anderen Menschen diese Angst gerade das Gegenteil zu bewirken. Die gleiche Angst produziert bei ihnen eher eine Art Futterneid. Andere Menschen werden grundsätzlich als Konkurrent*innen im Kampf um begrenzte Ressourcen empfunden. Während meine Tante von der Annahme ausging, ihr eigener Hunger könnte auch der Hunger anderer Menschen sein, und sie deshalb großzügig mitbedachte, gab mir die Mutter des Pfarrers zu verstehen, ich sei ein Esser mehr am Tisch und damit ein Problem.

Situationen, wie ich sie mit meiner Tante Inge und mit der Mutter des Pfarrers erlebt habe, erkenne ich wie ein Verstehensmuster in ganz anderen Kontexten wieder. Ich kenne den Typus „Tante Inge“ aus der Zusammenarbeit mit Freiwilligen in der Flüchtlingshilfe, deren Herz sich für das Schicksal geflüchteter Menschen öffnet, weil sie als Kind im Krieg selber Mangel erlebt haben. Sie schaffen es, großzügig zu sein, nicht obwohl, sondern weil sie mit der tiefsitzenden Angst leben, es könnte nicht reichen. Und ich habe Diskussionen in kirchlichen oder anderen gesellschaftlichen Kontexten in Erinnerung, die kamen mir vor, als sei ich umgeben von Vertreter*innen des Typus „Pfarrersmutter“. Sie entwickeln aus ihrer Angst heraus eine Haltung, die man am ehesten als „Geiz“ bezeichnen kann.

Von der Angst, zu kurz zu kommen

Menschen, deren Leben von dem Grundgefühl bestimmt ist, die Vorräte könnten ausgehen, können also durchaus unterschiedliche Programme ausprägen, um auf ihre Angst zu reagieren. Die einen produzieren Fülle für sich und andere – das „Modell Tante Inge“. Andere versuchen ihre eigene Angst an ihre Umgebung weiterzureichen und behaupten den einmal erlebten Mangel weiterhin wie ein unverbrüchliches Dogma – das „Modell Pfarrersmutter“.

Daneben gibt es aber noch dieses andere Mangel-Gefühl, das weniger auf einer konkreten persönlichen Erfahrung beruht, sondern sich eher diffus äußert. Am besten lässt es sich vielleicht in diese Kurzformel bringen: Es ist die Angst, zu kurz zu kommen. Wer von dieser Angst bestimmt wird, sieht in jedem anderen Menschen erst einmal eine potentielle Gefahr für das eigene Überleben. In dieser Logik scheint die Devise zu gelten: Wer mit am Tisch sitzt, nimmt mir eigentlich etwas weg. Diese Haltung ist mir gerade in den letzten Jahren in der öffentlichen Diskussion rund um die Themen Flucht und Migration häufig begegnet – gerade auch bei Menschen, die selber noch nie erleben mussten, dass es tatsächlich nicht reicht und realer Mangel herrscht.

„Wir können doch nicht die ganze Welt bei uns aufnehmen!“ Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Satz gehört oder gelesen habe – bei Diskussionsveranstaltungen, in Talkshows, in wütenden E-Mails oder sogar aus dem Munde mancher Politiker*innen und Kirchenvertreter*innen. Verbunden war dieser Ausruf mit dem unterschwelligen Vorwurf, das Eintreten für eine humanitäre Aufnahme von Geflüchteten ohne festgelegte Obergrenze sei naiv und gefährlich.

Bilder von Menschen, die im Sommer 2015 nicht nur vereinzelt, sondern in größerer Anzahl auf unseren Bahnhöfen und Straßen sichtbar wurden, haben sich tief eingeprägt. Diese Bilder, weniger tatsächliche Veränderungen in unserem Alltag, haben Ängste aktiviert, die in jedem Menschen schlummern. Dazu gehört die Angst, nicht genug zu bekommen. Das Sichtbarwerden von Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, hat zwar zunächst eine Welle der Hilfsbereitschaft ausgelöst. Das Ausmaß, in dem sich viele Menschen in dieser Zeit von der Not der Menschen auf der Flucht persönlich berühren ließen, hat dabei manche in Deutschland überrascht – mich auch. Bereits nach wenigen Wochen wurde jedoch immer häufiger davon geredet, man müsse die Sorgen und Ängste der Menschen ernst nehmen, die gegen die Aufnahme von Geflüchteten zu Felde zogen. Diese Forderung bestimmt seither viele Reden von Politikerinnen und Politikern. Wie eine Zauberformel oder wie ein Mantra wird dieser Satz quer durch die Parteien wiederholt: „Wir müssen die Ängste ernst nehmen.“ Wer will einem solchen Satz schon widersprechen? Ängste von Menschen ernst zu nehmen ist eine Forderung, die man nur schwer mit Nein beantworten kann. Wer Ängste ernst nimmt, muss jedoch mit gleichem Ernst das Ziel verfolgen, Ängste zu beseitigen. Stattdessen wurden in den vergangenen Jahren die Angst, zu kurz zu kommen, und die Angst, es könnte nicht reichen, genährt und geschürt. Diese unbestimmten Ängste vor einem möglichen eigenen Mangel verstellten zunehmend den Blick für die tatsächliche Not der geflüchteten Menschen. Wie aber soll man dieser Entwicklung begegnen?

Welchen Wolf füttern wir?

Ängste wirklich ernst zu nehmen setzt nicht nur das Ziel voraus, sie schließlich aufzulösen. Ernst nehmen heißt zunächst vor allem, dass Ängste konkret benannt werden. Sonst behalten diffuse oder behauptete Ängste weiterhin die Oberhand. Den Dingen einen Namen geben heißt, Macht über sie zu gewinnen. Diese Erfahrung prägte bereits die biblische Vorstellungswelt. In den Evangelien ist davon die Rede, dass Jesus den Dämonen, die Menschen besetzen, die Macht nimmt, indem er sie konkret benennt. Dem Dämon, der Jesus bei seinem Namen anspricht und damit Macht über ihn erlangen will, nimmt Jesus den Wind aus den Segeln, indem er den Spieß umdreht und den Dämon direkt anspricht (vgl. Mk 2,23–26). Der Angst, es könnte nicht reichen, und der Angst, zu kurz zu kommen, muss konkret begegnet werden, indem wir sie gleichsam beim Namen nennen: Was genau befürchte ich? Wo in meinem Leben reicht es nicht, weil seit 2015 Menschen auf der Flucht nach Deutschland gekommen sind? Kann ich konkrete Situationen in meinem Leben benennen, in denen mir in meinem Alltag durch die Anwesenheit geflüchteter Menschen bereits etwas genommen wurde oder ich mich einschränken musste? Diese Fragen, die Ängste zu konkretisieren versuchen, können ein erster Schritt sein, um ihnen wirksam zu begegnen und sie aufzulösen. In meinem persönlichen Leben, aber auch im Zusammenleben in der Gesellschaft und damit auch in der Kirche geht es letztlich um die Entscheidung, ob die Angst vor dem Teilen die Deutungshoheit über uns behält oder ob wir diese Ängste wirklich überwinden wollen, um einer neuen Kultur des Teilens den Weg zu bereiten.

Nähren wir mit Worten und in unserem Tun die Angst, die Vorräte könnten ausgehen und wir könnten zu kurz kommen, oder nähren wir die Zuversicht, dass es für uns gemeinsam reicht?

Nach einer alten indianischen Weisheit tobt in jedem Menschen der Kampf zwischen zwei Wölfen. Der eine Wolf kämpft mit den Waffen Neid, Eifersucht, Gier, Arroganz, Selbstmitleid, Lügen, Überheblichkeit, Egoismus und Missgunst. Der andere Wolf kämpft mit Liebe, Freude, Frieden, Hoffnung, Gelassenheit, Güte, Mitgefühl, Großzügigkeit, Dankbarkeit, Vertrauen und Wahrheit. Auf die Frage seines Enkels, welcher Wolf denn den Kampf gewinnt, antwortet ein alter Indianer: „Der, den du fütterst.“

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