Von Morgarten bis Marignano

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Von Morgarten bis Marignano
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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Prolog: Eine neue Verbindlichkeit – die Beschwörung der Bündnisse nach dem Alten Zürichkrieg

1

Die Legende von der alten Freiheit – Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert

2

Königsdienst und Reichsfreiheit – die Waldstätte im 13. Jahrhundert

3

1291 – ein Wendepunkt?

4

Landleute und Täler – die Reichsvogtei Waldstätte 1308/09

5

«Hütet euch am Morgarten» – Könige, Adel, Klöster und Länder im Widerstreit

6

Ein Brudermord mit Folgen – Bern zwischen Habsburg, den Waldstätten und Savoyen

7

Ein Wechsel auf Zeit? Zürich zwischen den Waldstätten und Habsburg-Österreich

8

Viehzüchter und Händler als neue Herren – der Adel auf dem Rückzug

9

Eine Wende bei Sempach? Städte und Länder im Vorwärtsdrang

10

Chaos am Bodensee – die habsburgische Landesherrschaft in Auflösung

11

Untertanen statt Landleute – die ersten Gemeinen Herrschaften

12

Ein schwieriges Erbe bringt Streit – Zürich, Habsburg und Schwyz im Dreieck

13

Ein Friede auf ewig – die «Ewige Richtung» als Versuch eines definitiven Friedensschlusses

14

Viel Konfliktpotenzial im Innern – Stanser Verkommnis, Freiburg und Solothurn

15

Bereinigungen an Hoch- und Alpenrhein – Schwabenkrieg, Basel und Schaffhausen

16

Zwischen Marignano und der Reformation – Soldverträge als Aussenpolitik

Epilog: Eine gemeinsame Geschichte – die Befreiungstradition im Spiegel der Geschichtsschreibung

Nachwort

Anhang

Glossar

Zeittafel

Anmerkungen

Ausgewählte Quellen und Literatur

Orts- und Personenregister

Vorwort

Freiheit, Unabhängigkeit, Volksherrschaft und Neutralität sind Begriffe, die das Schweiz-Bild von innen und aussen bis heute stark prägen und im politischen Diskurs eine hohe Bedeutung haben. Diese Begriffe sind im schweizerischen Geschichtsverständnis nach wie vor mit der älteren Geschichte verbunden, mit der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft, obwohl sie in ihrer realen Bedeutung viel mehr mit der Entwicklung zum Bundesstaat im 19. Jahrhundert zu tun haben. Die Geschichtsforschung hat in den letzten 50 Jahren diese Begriffe in ihrer Bedeutung hinterfragt, relativiert und neu eingeordnet. Sie hat Mythen von Geschichte getrennt und ihre je eigene Bedeutung herausgearbeitet. Die Mythenzerstörer der 1970er-Jahre sind heute bereits im Pensionsalter oder verstorben. Und trotzdem ist dieses alte Geschichtsbild von den freiheitsdurstigen Innerschweizern, die sich ihre Unabhängigkeit gegen die bösen Vögte erkämpft und den Grundstein für die heutige Schweiz gelegt haben sollen, nach wie vor stark in der Öffentlichkeit präsent.

Auf den folgenden Seiten soll dieses traditionelle Geschichtsbild einer kritischen Befragung nach dem Stand des heutigen Wissens unterzogen werden. Ein Geschichtsbild, das geprägt ist von der erstmaligen Niederschrift der Befreiungsgeschichte im Weissen Buch von Sarnen um 1470, das vom Glarner Politiker und Humanisten Aegidius Tschudi (1505–1572) Mitte des 16. Jahrhunderts in seine endgültige Form gebracht wurde. Tschudi hatte schon früh eine politische Karriere in Glarus und auf eidgenössischer Ebene eingeschlagen. Parallel zu seiner politischen Tätigkeit betrieb er ausgedehnte historische Studien, die schliesslich in der 1572 abgeschlossenen Reinschrift des Chronicon Helveticum mündeten, das aber erst im 18. Jahrhundert publiziert und einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde. Und sein Wissen floss in die 1548 gedruckte Chronik seines Zeitgenossen Johannes Stumpf ein. Tschudis Geschichtsbild bereitete der Schaffhauser Geschichtsschreiber Johannes von Müller (1752–1809) Ende des 18. Jahrhunderts für eine breite Leserschaft auf. Es wurde vom Dichter Friedrich Schiller (1759–1805) im Jahr 1804 dramatisiert und vom Komponisten Gioachino Rossini (1792–1868) im Jahr 1829 vertont und popularisiert. Die neu entstehende wissenschaftliche Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts, die die urkundliche Überlieferung in den Vordergrund stellte, hat das Bild von der Befreiungsgeschichte mit Tell, Rütlischwur und Burgenbruch in Frage gestellt. Der Historiker Wilhelm Oechsli (1851–1919) formulierte auf dieser Grundlage im Jahr 1891 in offiziellem Auftrag des Bundes die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu und legte damit die Basis zum heutigen Bundesfeiertag. Sein Fachkollege Karl Meyer (1885–1950) fügte dieses Bild schliesslich vor dem Hintergrund der äusseren Bedrohungen im 20. Jahrhunderts wieder mit der traditionellen Befreiungsgeschichte zusammen.1

Die Geschichtsforschung der letzten Jahrzehnte hat zu Recht betont, dass die heutige Schweiz auf der Basis des Bundesstaats von 1848 steht und dieser in den Jahrzehnten zuvor und nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution entstanden ist. Dies ist zweifellos richtig. Und dennoch gibt es die ältere eidgenössische Geschichte, die sowohl für die Revolutionäre der Helvetik 1798, die Bundesstaatsgründer von 1848 wie auch für ihre Nachfolger als identitätsstiftende Vergangenheit von grosser Bedeutung war. Und ältere eidgenössische Geschichte bleibt trotz allem ein Abarbeiten am Kern, an der Entstehungsgeschichte der Waldstätte, ein wichtiger, wenn auch nicht der einzige Ursprung der späteren Eidgenossenschaft. Dabei darf nicht eine Geschichtsbetrachtung Pate stehen, die aus den Anfängen eine Vorherbestimmung der künftigen Entwicklung macht. Der «Erfolg» der Eidgenossenschaft stand immer wieder, bis ins 18. Jahrhundert, auf der Kippe. Die Geschichte der Entstehung der Eidgenossenschaft ist auch keine Geschichte der Schweiz in ihrem heutigen Raum, sondern eine Geschichte der von kommunalen Eliten und Körperschaften – Ländern und Städten – getragenen Bündnissysteme, die sich im Lauf des 15. Jahrhunderts zu einer auch von aussen wahrgenommenen Eidgenossenschaft verdichteten.

Das Buch orientiert sich, chronologisch aufgebaut, an den traditionellen Daten und Ereignissen, die einer breiten Leserschaft bekannt sind, quasi dem eidgenössischen Festkalender. Chronologie ist nach wie vor ein roter Faden, der Orientierung stiftet und hilft, eine Entwicklung in ihren Zusammenhängen sichtbar zu machen. Einige wenige thematische Abschnitte ergänzen die Chronologie. Die Darstellung hat nicht den Anspruch, eine neue Erzählung zu formulieren, sondern lediglich den heutigen Stand des Wissens zu reflektieren.

 

Als Kronzeuge und Stichwortgeber dient dabei die Schweizer Chronik von Aegidius Tschudi. Tschudi hat die Erzählung über die Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft über Jahrhunderte geprägt und seine Geschichtskonzeption ist bis heute in breiten Bevölkerungsteilen verankert. Deshalb wird den einzelnen Kapiteln ein kurzes Originalzitat aus dem Chronicon Helveticum vorangestellt, anschliessend kommentiert und in den Zusammenhang des heutigen Wissens gestellt. Tschudis Chronik endet 1470. Für die Zeit danach dient das Werk des Zürcher Geschichtsschreibers Johannes Stumpf, Informant und Nutzniesser von Tschudis Arbeiten, als roter Faden. Stumpfs Chronik hatte in der gedruckten Form eine weitere Verbreitung als diejenige von Tschudi und eine grosse Bedeutung für die Verankerung dieser Erzählung.2

Das Buch ist den Forschungen der letzten 50 Jahre verpflichtet, insbesondere den Arbeiten von Marcel Beck, Hans Conrad Peyer, Peter Blickle und Guy Marchal und deren Schülerinnen und Schülern. Eine eigentliche, weit unterschätzte Schweizer Geschichte des Mittelalters hat Bernhard Stettler in seinen Einleitungen zur Tschudi-Edition und in seinem Buch zur Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert vorgelegt. Seine Basis und die neuesten Forschungen von Roger Sablonier und seinem Umfeld insbesondere zur Überlieferungsgeschichte ermöglichen es, einen aktuellen, kurz gefassten Abriss der Entstehungsgeschichte der Eidgenossenschaft neu zu schreiben. Und als Echoraum dient das Historische Lexikon der Schweiz, das als Nachschlagewerk unentbehrlich ist.

Die Geschichte beginnt nicht mit dem Bundesbrief von 1291, sondern in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Wieso dies so ist, wird bei näherer Auseinandersetzung mit eidgenössischer Geschichtsschreibung schnell klar: Es ist die Zeit, in der sich die eidgenössischen Bündnisse verfestigten und sich die Eidgenossenschaft eine eigene Vergangenheit zurechtlegte.

Lucern und Zug tatend den österrichischen vorbhalt uss den pünden und satztend das römisch rich an die statt.

[…] Also wurdent die selben püntzbrief [Bündnisbriefe] förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort durch redilich ursachen und kriegsrecht ze friden und richtungen etwa menig mal kommen, das si der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind. Man sol ouch nit meinen, das die selben ort muotwillig vorziten sich von ir herrschafft abgeworffen habind, dann si ire pündt anfangs allein gemacht vor gwalt und unbill sich ze retten, und ir herrschafft darinn heiter vorbehalten der selben alle pflicht und dienst ze leisten und ze tuonde. Wie aber nachmals die herrschafft und dero amptlüt durch übermütige zwäng nüwrungen und ufsätze an lib und guot si witer wellen beschwären und bekümmern dann von recht sin sölte und si ze tun schuldig werind, ist der span ze langwirigen kriegen geraten und darus ervolget wie obstat. Deshalb ein eidtgnosschafft mit guten eren entsprungen […]. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 13, 2000, 49)

Prolog:
Eine neue Verbindlichkeit – die Beschwörung der Bündnisse nach dem Alten Zürichkrieg

Man könnte in guten Treuen die Jahre nach 1450 als Gründungszeit der Eidgenossenschaft bezeichnen. «Also wurdent die selben püntzbrief förderlich als umb so vil alle geendert, dann die selben ort […] der herrschafft Österrich nichtz mer pflichtig noch angehörig sind.» Aegidius Tschudi beschreibt den Vorgang von Anfang Januar 1454, als die Gesandten der Städte Luzern und Zug auf einem «Tag» zu Sarnen – erst später bürgerte sich der Begriff Tagsatzung für solche Treffen ein – beantragten, dass der Vorbehalt habsburgischer Ansprüche in ihren Bündnissen aus dem 14. Jahrhundert gestrichen und an deren Stelle das Heilige Römische Reich gesetzt werden sollte. Als Folge davon wurden der Luzerner Bund von 1332, der Zürcher Bund von 1351 und der Zuger Bund von 1352 neu ausgefertigt. Die darin enthaltenen Verpflichtungen gegenüber der Herrschaft – Luzern und Zug waren Mitte des 14. Jahrhunderts habsburgische Orte gewesen – wurden getilgt, die alten Briefe vernichtet. Für Glarus erfolgte die Neuausfertigung dann 1474. Nur gegenüber dem Heiligen Römischen Reich sollten die Orte inskünftig Rechenschaft schuldig sein. Die Orte hätten aber die österreichische Herrschaft nicht mutwillig und unrechtmässig abgeworfen, argumentiert Tschudi. Die Herrschaft selbst habe sie durch Zwänge und Neuerungen dazu gezwungen. Daraus seien langwierige Kriege entstanden. Deshalb sei die Eidgenossenschaft «mit guten eren entsprungen» und damit auch rechtmässig.3 Diese Urkunden von 1454 nehmen heute einen prominenten Platz im Bundesbriefmuseum in Schwyz ein.

Am 24. August 1450 waren in Einsiedeln nach dem Friedensschluss im Alten Zürichkrieg die alten Bünde neu beschworen worden, nicht einfach als Bestätigung des Bisherigen, sondern als neuer Bündnisverbund. Der Schiedsspruch des Berner Schultheissen Heinrich von Bubenberg zugunsten der eidgenössischen Seite und gegen Zürich, das sein Bündnis mit Habsburg-Österreich aufgeben musste, hatte den Boden dazu geebnet. Damit bekam das eidgenössische Bündnissystem, das bisher nicht festgefügt war, aus oft unterschiedlichen Vertragsparteien bestand und grundsätzlich offen für Bündnisse gegen aussen war, eine Ausschliesslichkeit, die neu war. Zürich hatte sein Zusammengehen mit Habsburg-Österreich im Jahr 1442 noch damit begründet, dass es als Reichsstadt frei sei, mit dem König, der seit 1438 wieder ein Habsburger war, ein Bündnis einzugehen, ohne den Bund von 1351 mit den innerschweizerischen Orten zu entwerten. Das Land Schwyz hatte konträr argumentiert und auf der Ausschliesslichkeit der Bünde beharrt. Insbesondere hatte die Ansicht, dass Habsburg-Österreich seit alters der Feind der Eidgenossen sei, zumindest in der Innerschweiz bereits eine starke Tradition. Die Orte hätten sich in der Zeit nach 1300 gegen Habsburg-Österreich gewandt. Diese Lesart der Entstehung der Eidgenossenschaft war Mitte des 15. Jahrhunderts Allgemeingut der Eliten. Sie schöpften aus dem rechtmässigen Aufstand gegen die Vögte und der Reichsfreiheit der Länder die Legitimation ihres Handelns.4

Das blutige Ringen um die Vorherrschaft innerhalb des Bündnissystems hatte letztlich zur Folge, dass sich die Eidgenossenschaft auch gegen aussen konsolidierte. Sie wurde nicht nur innerhalb des Heiligen Römischen Reichs, sondern auch im übrigen europäischen Umfeld, insbesondere in Frankreich, als politisches Gebilde und Machtfaktor wahrgenommen. Die Auseinandersetzungen mit Habsburg-Österreich waren zwar noch nicht zum Abschluss gekommen, aber die Kontrahenten verhandelten schon seit Jahrzehnten über eine definitive Übereinkunft, einen «ewigen» Frieden. Es ist denn auch nicht erstaunlich, dass sich die Eidgenossenschaft in den folgenden Jahren eine eigene Entstehungsgeschichte zurechtlegte, vor allem auch als Legitimation gegenüber den von Habsburg-Österreich immer wieder vorgebrachten Forderungen nach Rückgabe von unrechtmässig angeeigneten Gebieten. Dabei ging es nicht nur um den Aargau, der 1415 nach Aufforderung von König Sigismund annektiert worden war, oder um Luzern, das sich Ende des 14. Jahrhunderts in einem unrechtmässigen Krieg vom Landesherr abgewandt hätte. Bis in die Mitte des

Jahrhunderts argumentierten die Habsburger mit der ursprünglichen Oberherrschaft ihrer Vorfahren insbesondere auch über Schwyz und Unterwalden. Die Entstehungsgeschichte, die sich die Eidgenossen massschneiderten, bald verbrämt mit Tell, Bundesschwur und Burgenbruch, sollte die Rechtmässigkeit der Geschehnisse untermauern. In der «Ewigen Richtung» im Jahr 1474 akzeptierte Herzog Sigmund von Tirol vor dem Hintergrund der politischen Lage gegen Burgund diese Situation. Sie wurde in einem letzten Gewaltausbruch im Schwabenkrieg 1499 noch einmal in Frage gestellt. In der europäischen Mächtekonstellation zu Beginn des 16. Jahrhunderts – dem Ringen zwischen dem habsburgischen Kaiser, dem König von Frankreich, dem Papst und den jeweils verbündeten Mächten um das Herzogtum Mailand – trat aber der alte Gegensatz in den Hintergrund. Bereits zu dieser Zeit standen sich eidgenössische Söldner auf den oberitalienischen Schlachtfeldern auf verschiedenen Seiten gegenüber. Und die Eliten orientierten sich stärker denn je an ihren alten und neuen Soldherren. Die Eidgenossenschaft als Ganzes entwickelte sich denn auch, vor allem nach der konfessionellen Spaltung in der Folge der Reformation, zu einem aussenpolitisch kaum mehr handlungsfähigen Gebilde. Die humanistisch geschulten Geschichtsschreiber, allen voran der Glarner Aegidius Tschudi, fügten aber in der ersten Hälfte des 16. Jahrhundert das Jahrzehnte zuvor entstandene Geschichtsbild zu einem gültigen Ganzen zusammen. Wie wirkungsmächtig dieses Geschichtsbild war und ist, muss nicht eigens betont werden.

Aber nun doch der Reihe nach. Welche Hintergründe und Zusammenhänge waren entscheidend, dass im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts im zentralen Alpenraum ein kommunal verfasstes Gebilde entstehen konnte, das sich im Lauf des Spätmittelalters erfolgreich innerhalb des Heiligen Römischen Reichs etablierte und das letztlich zu einem Land wurde, das wir heute als moderne Schweiz erkennen?

In den drijen waltstetten Uri, Switz und Underwalden hattend etlich herren und edelknecht etwas herrlicheit über sondre höf; aber die landtsherrlicheit und frijheit was der frijen landtlüten, edlen und unedlen landtsessen.

[…] Si hattend aber kein oberkeit über die selben land und waltstett die für sich selbs frij warend, und muostend dise inländische herren und edelknecht under der gemeinen frijen landtlüten regierung gehorsamen und dem land hulden, warend ouch selbs mittlantlüt und mittregierer wie die andern frijen landtlüt, nit mer noch minder, als verr die landtzregierung antraff. Aber die libeignen lüt hattend kein gwalt im regiment, muostend den gemeinen frijen lantlüten mit reisen [Militärdienst], landtsatzungen, gebotten, verbotten und andern billichen dingen gehorsam und gewärtig sin, wann die frijen lantlüt warend selbs oberherren in irn landen, und hattend die herren und adel allein über etliche sonderbare höf etwas nidern gerichtzherrlicheit und rechtung als obstat. (Aegidius Tschudi, Chronicon Helveticum, nach Stettler 2, 194, 19f.)

Die Legende von der alten Freiheit – Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert
1

In der Geschichtskonzeption von Aegidius Tschudi ist die alte Freiheit der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden von zentraler Bedeutung. Sie sei nicht nur alt, sondern vor allem für alle drei Länder gleichwertig gewesen, bestätigt durch die staufischen Könige in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Tschudi beschreibt gleichzeitig eine geschichtete Gesellschaft, in der freie Landleute und Adlige, die «herren und edelknecht», gemeinsam die Täler regierten. Leibeigene Leute, zum Beispiel der Klöster, seien untergeordnet gewesen. Dies entspricht einer Gesellschaftsform, die Tschudi für seine eigene Zeit als richtig erachtete. Er selbst war Teil dieser regierenden «oberherren».

Die Konzeption der alten Freiheit – nicht der individuellen Freiheit, sondern der Freiheit von Zwischengewalten, das heisst von Adel oder Klöstern – ist nicht einfach Tschudis Konstruktion aus dem 16. Jahrhundert. Sie hat Wurzeln im frühen 14. Jahrhundert und kann direkt mit konkretem politischem Handeln der Länder in Verbindung gebracht werden.

Die Länder, insbesondere Unterwalden, das keine Privilegien des 13. Jahrhunderts vorweisen konnte, scheinen die unsichere Situation nach der Ermordung König Albrechts von Habsburg-Österreich 1308 und der Wahl des Luxemburgers Heinrich VII. zum König 1309, beziehungsweise der Doppelwahl des Habsburgers Friedrich des Schönen und Ludwigs des Bayern 1314, zu nutzen verstanden zu haben. Sie konnten insbesondere Ludwig den Bayern dazu bringen, ihnen gleichwertige Königsbriefe mit Bezugnahme auf das Schwyzer Reichsprivileg von 1240 auszustellen. Obwohl die Überlieferungsgeschichte dieser Dokumente äusserst wacklig ist – vielleicht sind einige davon erst in den 1320er-Jahren oder noch später nachhergestellt worden –, konnten sich Schwyz, Uri und Unterwalden Privilegien sichern, die sie in späteren Konflikten gegen die Habsburger einsetzten. Sie schufen sich damit eine gemeinsame, waldstättische Tradition.5 Auf die genauen Umstände der Entstehung dieser Privilegien wird weiter unten zurückzukommen sein. Vorab braucht es aber eine kurze Übersicht zur Geschichte des Raums, in dem die nachmalige Eidgenossenschaft entstanden ist.6

 

Der abgeschiedene Alpenraum

Der zentrale Alpenraum um den Gotthard war bis ins 12. Jahrhundert Peripherie. Die wichtigsten Alpenübergänge, die seit römischer Zeit begangen waren, lagen in den westlichen (Mont Cenis, Grosser St. Bernhard) oder östlichen Alpen (Brenner). Die Bündner Pässe Lukmanier und Septimer waren für den Übergang nach Italien und damit für die Reichspolitik von Bedeutung. Simplon und Gotthard waren sicher schon früh begangen, spielten aber für den Warenverkehr erst im Lauf des 13. Jahrhunderts eine Rolle. Das Mittelland zwischen Aare und Rhein lag am Schnittpunkt der alten Reichslandschaften Schwaben und Burgund. Das burgundische Königreich beidseits des Juras mit dem Aareraum und den Bistümern Genf, Lausanne und Sitten war seit dem frühen 11. Jahrhundert ins Heilige Römische Reich integriert. Dieser Raum wurde im 12. Jahrhundert von den schwäbischen Herzögen von Zähringen dominiert – Gründer der Städte Freiburg und Bern –, die auch im östlichen Mittelland eine starke Präsenz hatten. Im Osten gab es aber keine ähnliche Machtballung wie im Westen. Neben den Zähringern etablierten sich verschiedene Adelsdynastien wie die Grafen von Lenzburg, Kyburg und Habsburg, die Grafen von Rapperswil oder die Herren von Vaz und Sax-Misox. Im Rheintal und in Graubünden waren das Bistum von Chur und die Abtei Disentis von Bedeutung.

Für das zentrale Mittelland war die alte Reichspfalz Zürich wichtig, die bis zu deren Aussterben 1173 in den Händen der Grafen von Lenzburg war. Die Lenzburger besassen auch die Grafschaften im Aargau und Zürichgau, die bis in den Raum des Vierwaldstättersees reichten, zudem über die Zürcher Vogtei auch die Rechte des Fraumünsters im Tal Uri und die Reichsvogtei in den Südtälern Blenio und Leventina. Reichsvogtei bedeutete die stellvertretende Herrschaft des Königs, das Recht, für den König Steuern zu erheben oder Reichsdienste, zum Beispiel militärische Gefolgschaft, einzufordern. Vogtei bedeutete in diesem Sinn Oberherrschaft, aber nicht zwingend lokale Herrschaft vor Ort.

Zürich war sowohl topografisch wie herrschaftlich der Zugang zum zentralen Alpenraum. Die Reichsvogtei Zürich gelangte 1173 an die Herzöge von Zähringen, die damit ihre Macht ausbauen konnten. Kaiser Friedrich Barbarossa verlieh weitere Teile des Lenzburger Erbes an die Grafen von Kyburg, die im Thurgau eine starke Stellung besassen. Konkret erhielten sie den östlichen Teil des Zürichgaus, das rechte Zürichseeufer. Der westliche Teil des Zürichgaus am linken Ufer ging an die Habsburger, Grafen im oberen Elsass und Vögte des Klosters Murbach, mit Besitz im Raum Brugg und Bremgarten sowie Gründer und Vögte des Klosters Muri. Zu diesem Teil des Zürichgaus zählten Zug, Schwyz und Nidwalden. Die Habsburger konnten sich bald darauf auch als Grafen im Aargau etablieren. Zum Aargau zählten Luzern und Obwalden. Wie sich diese eher theoretischen Zuweisungen in der konkreten Ausübung von Herrschaft umsetzen liessen, wissen wir nicht. Die Inhaber der Vogtei waren für die Friedenssicherung verantwortlich und Gerichtsinstanz im Konfliktfall.

Das Aussterben der Herzöge von Zähringen im Jahr 1218 brachte die herrschaftliche Situation in Fluss. Grösste Profiteure waren die Grafen von Kyburg, die den zähringischen Besitz südlich des Rheins übernehmen konnten mit dem Schwerpunkt im Aareraum mit der Landgrafschaft Burgund und den Städten Freiburg, Burgdorf und Thun. Der staufische König Friedrich II. erhob Bern und Zürich zu Reichsstädten und unterstellte sie damit seiner direkten Herrschaft. Die adligen Stadtherren wurden damit ausgeschaltet. Bezeichnenderweise verschwindet die alte Reichsburg auf dem Lindenhof in Zürich im Lauf des 13. Jahrhunderts von der Bildfläche. Die Reichsvogtei in Uri scheint an die Habsburger gekommen zu sein. Die Entwicklung im Reich wird für die folgenden Jahrzehnte für den nachmals schweizerischen Raum von grösster Bedeutung sein.