Eine Witwe erinnert sich

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Eine Witwe erinnert sich
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Brunhilde Thieme

Eine Witwe

erinnert sich

Zufall oder Schicksal des Lebens

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte bei der Autorin

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Wie beginnt man das Schreiben eigener Erinnerungen des Lebens?

Was ist wichtig, was nicht? Konnte ich diese Fragen richtig beantworten?

Das Abenteuer meines Lebens in vielen seinen Facetten.

Die Lebenskurve, welche mal tief nach unten gerät, aber stets wieder emporsteigt.

Ich widme diese Zeilen allen, die Kraft brauchen und suchen – durch Willensstärke.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Kindheitserinnerungen

Jugenderinnerungen

Schicksalhafte Begegnung

Platonische Liebe und mein anderes Leben

Reisefreiheiten?

Meine große Liebe und andere Kämpfe

Abenteuer und Liebe

Liebe und Hoffnung

Allein!

Das ist das Leben!

Hurra, ich bin Rentnerin

Kindheitserinnerungen

Ich wurde am 5. März 1952 geboren und war das zweite Kind meiner Eltern. Mein Bruder war knapp eineinhalb Jahre älter als ich.

Die Kindheit und einen großen Teil der Jugend verbrachte ich in meinem Geburtshaus in einem kleinen Ort in der Nähe von Leipzig in Waldsteinberg. Dieser Ortsteil von Brandis war weitgehend von Wald umgeben. Er stellte eine sogenannte Streusiedlung dar mit sehr wenigen Einwohnern. In der Nähe befand sich auch ein Berg, welcher sich Kohlenberg nannte. Das war immer unser Winterdomizil zum Rodeln. Ein kleiner Nebenfluss der Parthe floss mitten durch unseren Ort, genannt die Faule Parthe.

Von meinen Erinnerungen an die Kindheit sind leider nur noch Bruchstücke vorhanden. Unser Wohnhaus war einfach, klein und aus Holz, umgeben von einem über tausend Quadratmeter großen Garten. Es war alles sehr einfach eingerichtet in dieser Zeit.

Fließendes Wasser war noch unbekannt für uns. Im Garten war ein tiefer Brunnen, wo mittels einer Schwengelpumpe das Wasser nach oben gelangte. Das sehr eisenhaltige Wasser bedurfte eines Kiesfilters zum Reinigen. Erst durch das Filtern wurde es als Trinkwasser verwendbar. Regenwasser für vielfältige Zwecke wurde in Fässern aufgefangen.

Die Toilette, welche damals als Lokus oder Abort bezeichnet wurde, befand sich in den ersten Jahren in einem kleinen Verschlag im Hinterhof außerhalb des Wohnhauses. Es gab keinerlei Kanalisation. Später wurde ein kleiner Anbau am Haus mit einer Jauchengrube und einem Plumpsklosett geschaffen. Die Gülle musste regelmäßig mit einer Jauchenkelle aus der Grube geschöpft werden. Dieses Abwasser kam auf die Beete und die Wiesen.

Ich entsinne mich, dass es damals auch keinerlei Toilettenpapier gab. Jegliches Einpackpapier oder Zeitungen wurden in kleine handliche Stücke gerissen oder geschnitten und so verwendet. Wenn man das heutzutage jungen Leuten erzählt, können sie sich so etwas absolut nicht vorstellen. Wie auch!

Im Haus gab es eine Wohnküche, eine gute Stube, ein Schlafzimmer, eine kleine Speisekammer, einen fast ebenerdigen Keller, einen Raum, welcher das Waschhaus darstellte, und einen Oberboden. Kinderzimmer kannten wir nicht. Mein Bruder und ich schliefen viele Jahre mit im elterlichen Schlafzimmer.

Von meinem Vater habe ich nur eine sehr blasse Erinnerung. An ein Erlebnis denke ich aber sofort, auch wenn es heute eine sicher total unbedeutende Sache darstellt, welche kaum jemand nachvollziehen kann. Es war damals für mich ein sehr einschneidendes Erlebnis im Alter von etwa fünf Jahren. Ich hatte einen kleinen Holzsteckmann gebastelt und lief nach hinten in den Hof, um ihn stolz meinem Vater zu zeigen, aber er war wütend, vielleicht sollte ich irgendetwas machen und hatte es verträumt. Er nahm diese Figur und warf sie in hohem Bogen in die Bäume des Nachbargrundstückes. Ich war tieftraurig. Das habe ich nie vergessen und verziehen.

Weitere Erinnerungen sind sehr vage. Ich weiß nur, dass ich am Tag des tödlichen Unfalls meines Vaters nicht weinen konnte. Wie kam es dazu? Unser Vater verunglückte 1960 bei einem Betriebsunfall im damaligen Spannbetonwerk Naunhof während der Arbeit mit Hochspannung. Ein Kranauto wollte auf dem Betriebsgelände unter einer Hochspannungsleitung zu einem anderen Arbeitsplatz fahren und zerriss das Hochspannungskabel beim Durchfahren. Es kam zu einem gewaltigen Stromschlag. Der Fahrer hatte die Höhe falsch eingeschätzt. Mein Vater und ein Kollege, beide arbeiteten an diesen Strommasten, wurden der tödlichen Hochspannung ausgesetzt. Es gab keinerlei Rettung. Ein dritter hatte Glück, der sprang rechtzeitig ab, da er nicht gebraucht wurde. Meine Mutter musste uns nun allein großziehen. Es war sicher eine sehr harte Zeit für sie, das wurde mir aber erst viel später bewusst.

In die Schule ging ich ganz gern. Ich war etwas neidisch auf die anderen, da sich viele schon durch den Kindergarten kannten. Ich hatte nie die Möglichkeit, in einen Kindergarten zu gehen, da es in unserem Ort so etwas noch nicht gab. Er wurde erst gebaut, woran mein Vater wohl auch mitgewirkt hatte. So hing ich am Rockzipfel meiner Mutter. Sie war nicht berufstätig. Das war damals so üblich. Die Frau hatte die Kinder großzuziehen und den Haushalt zu machen.

Später arbeitete meine Mutter als Aushilfe in unserem kleinen Konsum, der sich gleich in unserer Straße befand.

Außer unserem Garten um das Haus herum hatten wir ein Bodenreformlandstück, welches wir auch noch bearbeiteten. Das befand sich in der Nähe unseres Hausberges, dem Kohlenberg. Dort wurde für das Vieh, welches wir besaßen, Futter angebaut. Wir hatten unter anderem Hühner, Kaninchen, Ziegen, Schafe und Katzen.

Eine Begebenheit ungefähr im Alter von sieben Jahren hat mich besonders geprägt. Unser Ort lag wie schon erwähnt am Rand eines Waldes. Im Sommer fuhren wir oft mit den Fahrrädern durch diesen Wald bis zu einem Badesee. Das war damals gang und gäbe, ohne sich darüber Gedanken zu machen. Wir Kinder unseres Ortes waren daran gewöhnt.

Eines Tages fuhr ich wieder mit meinem Bruder zum Baden. Auf dem Rückweg stritten wir uns über irgendetwas, keine Ahnung, was es war. Mein Bruder hatte meine Badesachen bei sich auf dem Fahrrad, wütend verstreute er sie auf dem Waldweg und fuhr schneller nach Hause. Ich begann alles einzusammeln. Plötzlich hielt ein Mann neben mir und sprach mich an: „Zeig mir doch mal deine Lulli.“ (Das war die Bezeichnung des weiblichen Geschlechtsorgans eines Kindes.) Ich bekam riesige Angst und begann zu weinen. Er sprach wieder auf mich ein, aber ich sagte, ich mache es nicht, und heulte wie verrückt. Endlich ließ er ab und fuhr davon. Ich machte mich so schnell wie möglich auf den Weg nach Hause.

Ich glaube, ich erzählte es gar nicht sofort, sondern erst abends meiner Mutter. Aber sie zweifelte an der Wahrheit, da ich oft fantasiereiche Dinge äußerte. Als ich immer wieder davon sprach, glaubte sie mir endlich. Viel später vermutete sie, dass es jemand von einer Familie in Waldsteinberg gewesen sein könnte.

In der heutigen Zeit wäre diese Begegnung wohl nicht so glimpflich abgelaufen, denn da werden kleine Kinder vielfach vergewaltigt oder schlimmer noch.

Mit meinem Bruder kam es sehr häufig zu Streitereien, wie so etwas unter Geschwistern üblich ist. Sicher war ich dabei auch ziemlich gnadenlos. So schlug er mir vor Wut einmal einen Stift mit einer Bleistiftmine neben das Schienenbein, die Narbe habe ich heute noch.

Ein viel größeres Missgeschick ereignete sich an irgendeinem Badetag. Ich habe absolut keine Ahnung, in welchem Alter ich da war. Ich bekam eins über die Nase, sodass das Nasenbein brach. Keiner achtete darauf, die Schmerzen gingen irgendwann vorbei.

Mir wurden diese Verletzung und ihr Ausmaß aber erst sehr viel später bewusst, da man ja als Kind nicht darauf achtet, wie die Nase aussieht. Vielleicht im Alter von elf Jahren oder noch etwas später wurde mir klar, dass sie verunstaltet war und ich eine Hakennase hatte. Sicher war das in der Zeit der Pubertät, denn da beginnt man ja seinen Körper zu erforschen. Ich war so schon keine Schönheit und nun erst recht nicht. Ich merkte, dass man auf mich schaute und sich lustig machte, teilweise nur still, aber auch mit Worten. Ich schluckte das jahrelang hinunter. Auch meiner Mutter vertraute ich mich nicht an. Ich wuchs mit Minderwertigkeitskomplexen auf. Einen richtigen Freund in der Schulzeit hatte ich dadurch nie.

 

Spielkameraden schon, alle aus unserem Ort. Wir trafen uns oft auf unserer Wiese am Konsumladen und spielten dort sehr häufig Völkerball oder erkundeten unsere Gegend. So war unser Hausberg mit seinen Steinbrüchen ein wahres Domizil unserer Abenteuerlust. Dort befanden sich zwei Steinbrüche, der Ostbruch, von uns immer als Alter Steinbruch bezeichnet, und der Westbruch, der Neue Steinbruch, in denen früher Granitporphyr abgebaut wurde. Erste Erschließungen des Ostbruches sollen schon 1919 gewesen sein. Diese Brüche waren für uns ein interessantes Kletterparadies. Der sogenannte Ostbruch war der gefährlichere. Aber wir als Kinder erforschten dieses Gebiet gern. Es hieß, dass in den letzten Kriegstagen des Zweiten Weltkriegs oder danach Munitionssprengungen im Bruch durchgeführt worden seien. Auf der Suche nach Schätzen entdeckten wir leere Patronenhülsen und waren stolz auf unsere Funde.

Unschöne Dinge der Schulzeit merkt man sich wohl am besten. Ich entsinne mich, dass in meiner Klasse eine Mitschülerin war, die Haarausfall hatte und eine Perücke tragen musste. Dadurch war sie sicher auch sehr bescheiden dran. Sie nahm es allerdings mit der Ehrlichkeit gar nicht genau.

Ich hatte von meiner Mutter zum zehnten Geburtstag ein neues Kopftuch aus Dederon bekommen, welches ich liebte. Das war damals so üblich, wir Mädchen gingen bei schlechtem Wetter mit Kopftuch. Nach geraumer Zeit vermisste ich es. Wo war es abgeblieben? Irgendwann entdeckte ich es auf dem Kopf meiner Mitschülerin, sie hatte es gestohlen. Ich erzählte es zu Hause meiner Mutter. Sie setzte sich mit der Mutter dieser Schülerin in Verbindung und forderte es wieder ein. Darüber war ich sehr glücklich.

Ich hatte auch eine Klassenkameradin, welche im Ort zu einer etwas besseren Gesellschaft gehörte, da ihr Vater eine kleine Buchdruckerei in Leipzig besaß. Mit ihr gab es ebenfalls ein unschönes Vorkommnis, an das ich mich erinnere. Ich denke, es war in der fünften Klasse. Sie erzählte meiner Mutter, dass wir am kommenden Tag Schulausfall hätten. Ich ging natürlich nicht in die Schule und bekam ziemlichen Ärger mit meinem Klassenlehrer. Es stellte sich heraus, dass es eine Lüge war. Wir hatten Schule. Meine Mutter klärte das in der Schulleitung und die Schulkameradin bekam eine Strafe.

Unsere Mutter legte großen Wert darauf, uns zur Ehrlichkeit zu erziehen. Das fand ich sehr gut. Wir wurden sprichwörtlich schon in der Wiege mit Ehrlichkeit gepudert.

Wir beide, mein Bruder und ich als Halbwaisen durch den tödlichen Unfall unseres Vaters, hatten die Möglichkeit, trotz Zehn-Klassen-Schulpflicht mit der achten Klasse die Schule zu beenden. Darüber wurde zu Hause beratschlagt.

Für Jungs war es allemal wichtig, zehn Jahre in die Schule zu gehen, damit sie einen ordentlichen Beruf erlernten. Ich bat meine Mutter, mich ebenfalls in der Schule zu lassen, ich wollte auch gern einen Abschluss der zehnten Klasse besitzen. Meine Mutter gestattete es mir.

Ich ging überaus gern in die Schule, besonders der Klassenlehrer meines Bruders, bei dem wir Physik hatten, trug dazu bei. Ich mochte ihn sehr, wegen ihm lernte ich wie verrückt Physik und machte darin eine Hauptprüfung. Vielleicht war er auch ein gedanklicher Vaterersatz für mich geworden, ich habe keine Ahnung.

Organisiert in den Jungen Pionieren und später in der FDJ, der Freien Deutschen Jugend, waren wir beide, mein Bruder und ich. Meine Mutter war sogar Mitglied der SED und erzog uns auch in diesem Sinne, ohne irgendwelche Bösartigkeiten dahinter zu sehen. Sie erzählte, es sei nach Kriegsschluss wichtig, um eine Arbeit erhalten zu können.

Da wir keinerlei Verwandte im sogenannten Westen hatten, wuchsen wir im Sinne der DDR auf. Klar, manches interessierte uns schon, aber in unserem kleinen Ort Waldsteinberg und meinem Schulort Beucha waren die westlichen Dinge noch nicht das Primäre.

Die von mir bereits erwähnte Schulfreundin mit dem Vater als Firmenbesitzer hatte Verbindungen mit dem sogenannten Klassenfeind. Die Familie bekam regelmäßig Westpakete mit Kaugummi, Petticoats (modische Schaumgummiunterröcke), Schokolade, Kaffee und was weiß ich noch alles. Auch Medikamente waren dabei. Meine Mutter legte mir besonders ans Herz, dass ich von der Schulkameradin auf gar keinen Fall irgendwelche Tabletten nehmen solle, weil das sehr gefährlich sei. Daran hielt ich mich absolut.

Jahre später gab es die Contergan-Missgeburten durch Medikamente, die aus Westdeutschland stammten.

Die organisierte Freizeit in der Schule machte mir Spaß. Ich war in verschiedenen Arbeitsgemeinschaften tätig. So war ich zum Beispiel beim Handball, im Chor und im Kaninchenzüchterverein. Wegen der Sportprüfung in der zehnten Klasse war ich irgendwann auch im Geräteturnen. In den Sommerferien beteiligte ich mich am Kanu-Sportverein. Die Teilnahme an diesen Vereinen war kostenlos. Wir waren im Sport im DTSB organisiert und hatten nur einen sehr geringen Monatsbeitrag zu zahlen, ich glaube, es waren 25 Pfennige.

So verging die Schulzeit und ich beendete die zehnte Klasse mit einem recht ordentlichen Ergebnis.

Nun galt es, einen Beruf zu erlernen. Die Suche begann natürlich schon in der neunten Klasse. Ich hatte nur vage Vorstellungen, was ich erlernen wollte. Mit unserem Klassenlehrer führten wir verschiedene Exkursionen in den kleinen Betrieben in Beucha durch, um eventuell den richtigen Berufswunsch herauszufinden. Das war für uns interessant. Mal interessierte mich Pelznäherin, dann Zootierpfleger, die LPG, Krankenschwester und am Schluss blieb der Wunsch, den Beruf einer Verkäuferin zu erlernen.

Jugenderinnerungen

Durch die Verkaufstätigkeit meiner Mutter in unserem kleinen Ortskonsum war ihr die Verwaltungsstelle der Konsumgenossenschaft Brandis im Nachbarort bekannt. Wir kamen überein, dass ich mich dort als Lehrling Fachverkäufer für Schuh- und Lederwaren bewerben würde.

Am 1. September 1968 begann meine Lehre. Diese umfasste eine Lehrzeit von zwei Jahren. An einer Lehre im Lebensmittelhandel hatte ich kein Interesse. Die praktische Ausbildung fand zu Beginn größtenteils in zwei Verkaufsstellen in Brandis statt. Das waren das Schuhwaren- und das Lederwarengeschäft.

Die Lehrzeit machte mir sehr viel Spaß, besonders auch die Berufsschulzeit. Die Schule befand sich in Leipzig. Dort war natürlich alles ganz anders. Ich fuhr an den Berufsschultagen von Waldsteinberg nach Leipzig. Zuerst musste ich mit dem Fahrrad ein ganzes Stück bis zum Bahnhof des Nachbarortes zum Haltepunkt Beucha Ost fahren. Dann ging es mit dem Zug nach Leipzig zum Hauptbahnhof und weiter mit der Straßenbahn bis zur Berufsschule.

Leipzig, die Großstadt. In der Klasse gab es viele aus dieser mir noch unbekannten Stadt. Es klaffte eine ziemliche Lücke in allem zwischen uns ländlichen Lehrlingen und den Städtern. Die Stadtmädchen waren ganz anders als wir. Wir waren folgsam, doch die Städter machten manchmal ganz anderes in der Unterrichtsstunde, zum Beispiel malten sie sich mit Schminke die Gesichter an. Das hätten wir uns nicht getraut, so etwas kannten wir gar nicht.

Zu Hause bereitete ich ziemliche Probleme, da ich absolut nicht mithalf und eine recht miese Einstellung zu vielen Sachen hatte. Ich war im wahrsten Sinn des Wortes faul. Heute sehe ich das alles mit anderen Augen.

Mein hässliches Aussehen setzte mir ständig zu. Ich hatte diese Hakennase und wurde überall verlacht, ob es in der Berufsschule war oder in der Straßenbahn. Überall richteten sich stark belustigende Blicke auf mich. Meine Mutter wusste davon gar nichts. Ich sagte es ihr auch nicht. Sie selbst übersah, dass ich mich darüber total grämte. Ich musste allein damit fertigwerden.

Mein jugendliches Leben war davon geprägt. Minderwertigkeitskomplexe, Angst, Schüchternheit. Keine richtigen Schulfreunde, denn wer wollte schon mit so einer Hexe befreundet sein. Ich schluckte das viele Jahre und legte meine ganze Kraft in das Lernen.

Während der Lehrzeit gab es keine wesentlichen anderen hervortretenden Ereignisse. Ich lernte eisern und hatte mir vorgenommen, nach der Lehrzeit ein Studium an einer Fachschule zu absolvieren. Geplant war, Betriebsökonomie zu studieren.

An den Wochenenden und in den Ferien verbrachten wir Jugendlichen aus Waldsteinberg viel Zeit mit Jugendlichen aus Leipzig, deren Eltern in unserem Ort eine Datsche besaßen. Das waren für uns die „Neureichen“ aus Leipzig, meist Kinder von selbstständigen Handwerksmeistern.

Dazu gesellten sich zwei Brüder aus Leipzig, die mit den Fahrrädern zum Baden kamen und etwas älter waren. Dem einen gelang es, sich derart in unser Haus einzunisten, indem er meine Mutter, meinen Bruder und mich umgarnte. Da er Maurer war, versprach er den Himmel auf Erden. Er wollte alles reparieren und bauen, was in den Jahren, als meine Mutter allein war, nicht gemacht werden konnte.

Es kam so weit, dass er bei uns einzog und das Sagen hatte. Da ich ziemlich sauer und sicher auch eifersüchtig war, wurde mein Verhalten noch schlimmer. Mir wurde durch diesen Mann der Umgang mit den Kumpels verboten. Bei irgendwelchen Streitigkeiten wurde ich von ihm geschlagen. Ich kann mich erinnern, dass ich mit einer Anzeige bei der Polizei gedroht habe, meine Mutter mich aber bedrängte, es nicht zu tun.

Irgendwann kündigte er mir an, dass ich mein Elternhaus verwirkt hätte und herausfliege. Meine Mutter hatte sowieso nichts mehr zu sagen und mit meinem Bruder war ich in jener Zeit auch entzweit. Im späten Frühjahr 1970 musste ich von zu Hause ausziehen. Ich war noch Lehrling im dritten Lehrhalbjahr und bekam nur Lehrlingsentgelt.

Die Stafflung meines Lehrlingsentgeltes war in den Jahren von 1968 bis 1970 folgendermaßen: 1. Halbjahr 70 MDN (Mark der Deutschen Notenbank), 2. Halbjahr 80 MDN, 3. Halbjahr 90 MDN und 4. Halbjahr 105 MDN.

Ich bat um Hilfe bei der Abteilung Jugendhilfe, die ihren Sitz in Brandis hatte. Diese Stelle kümmerte sich in der DDR-Zeit um Problemfälle und half, wo sie nur konnte. Ich bekam eine Wohnungszuweisung und zog in eine alte Villa unseres Ortes, wo mehrere Familien wohnten. Diese Familien waren untereinander verwandt. Dort erhielt ich zwei kleine Räume und eine winzige Kammer, die ich zur Küche umfunktionierte.

Ich erinnere mich, dass die Beleuchtung fast überall nicht in Ordnung war. Fließendes Wasser gab es im Haus auch nicht. Das war ich aber gewohnt, da in meinem Geburtshaus so etwas auch noch nicht vorhanden war. Hinter dem Haus im Garten befand sich eine Wasserpumpe (Schwengelpumpe), die ich betätigen musste, um Wasser in einen Eimer zu bekommen. Dieses Wasser konnte man aber auch hier nicht sofort verwerten, es war ebenfalls stark eisenhaltig. Das Wasser musste erst durch einen Filter geschüttet werden. Diesen musste ich mir auch noch beschaffen. Der Filtersand musste regelmäßig mit Wasser gereinigt werden.

Ich besaß in einem Raum einen Berliner Ofen, alle anderen waren nicht beheizbar. Etwa fünfzig Meter vom Haus entfernt befand sich ein alter Schuppen, wo ich Kohle und Holz aufbewahren konnte.

Möbel hatte ich fast gar keine. Geld war sowieso ein Fremdwort für mich. Ich konnte mir einige kleine Dinge von zu Hause mitnehmen. Zum Glück gab es in dieser Wohnung in einem der Zimmer Einbauschränke, so konnte ich wenigstens ein paar Sachen verstauen und musste sie nicht auf den Fußboden legen. An die Schlafgelegenheit kann ich mich nicht recht erinnern, aber ich glaube, ich bekam ein altes Sofa mit.

Da ich im Konsum lernte, erhielt ich einen Teilzahlungskredit. So konnte ich mir ein paar wichtige Dinge auf Ratenzahlung kaufen. An zwei Sessel und eine Stehlampe kann ich mich erinnern. Einen kleinen alten Holztisch, der ehemals meinen Großeltern gehörte, konnte ich von zu Hause mitnehmen. Dieser steht heute noch in meinem Wohnzimmer.

Da im Wohnraum eine Steckdose intakt war, gelang es mir, mittels der Stehlampe Licht zu erhalten. Denn für irgendwelche Reparaturen oder eine Deckenlampe hatte ich keinerlei Geld. Einen Fernsehapparat besaß ich nicht, nur ein kleines altes Kofferradio.

 

Meiner Mutter wurde durch den Herrn, der sich in unser Haus eingenistet hatte, der Umgang mit mir verboten. Sie arbeitete damals in unserem Ort als Reinigungskraft in einem Kinderheim, das sich „Starenhof“ nannte. Einige Male besuchte sie mich heimlich. Sie half mir auch beim Umzug mit dem Transport meiner Nähmaschine. Über diesen Besitz war ich sehr stolz. Das war ein Erbstück von meiner Oma, welches ich heute noch besitze. Sie leistete mir über Jahre gute Dienste.

Meine Mutter wurde von diesem Untermieter jahrelang total unterdrückt. Er begann sie zu schlagen. Sie erlitt einige Oberschenkelhalsbrüche. Ich denke, die Ursachen dafür lagen auch bei diesem Mann.

Meine Lehre war mir sehr wichtig, ich lernte eisern und bemühte mich, die Facharbeiterprüfung so gut wie möglich zu bestehen.

Ein riesiges Dilemma kam aber auf mich zu. Ich musste damals zur Facharbeiterprüfung eine schriftliche Hausarbeit über ein Fachgebiet der Schuh- und Lederwarenkunde schreiben. Ich kann mich erinnern, dass es um Lederaustauschstoffe ging, das war damals etwas Brandaktuelles.

Als ich mit dem Schreiben dieser Abschlussarbeit begann, wohnte ich noch zu Hause, also im mit Problemen behafteten Elternhaus, und vergaß als Quelle ein Fachbuch anzugeben. Die Ausbilder sprachen mit mir und legten dar, dass das Betrug sei. Ich schilderte ihnen meine häusliche Situation, dass ich kurz vor dem Auszug stünde. Man erlaubte mir, die Quelle zu ergänzen. So konnte ich meine Facharbeiterprüfung als Fachverkäuferin für Schuh- und Lederwaren mit „Sehr gut“ abschließen, allerdings hätte ich die Lehrzeit ohne dieses Missgeschick „mit Auszeichnung“ bestanden.

Die Zeiten nach dem Rauswurf aus meinem Elternhaus waren für mich natürlich als Lehrling finanziell sehr schwierig. Von meiner Mutter bekam ich in dieser Zeit keinen Pfennig. Kleidung kaufte ich mir, wenn ich sie benötigte, nur in einem Gebrauchtwarenladen für ganz wenig Geld. Ich hatte zu hungern gelernt, denn das Geld reichte manchmal nur für trockenes Brot. In der Zeit war ich meiner Tante im Nachbarort Brandis sehr dankbar, denn sie gab mir, wenn ich sie besuchte, Obst mit. Ich lebte manchen Tag nur von Birnen und trockenem Brot.

Die Kosten für die Fahrkarten zur Berufsschule, Miete, Versicherung und Heizkosten mussten bezahlt werden, das alles nur vom Lehrlingsentgelt. Wenn ich mich recht erinnere, musste ich monatlich 25 MDN Miete bezahlen. Das war schon ein sehr hartes, aber lehrreiches Leben.

In dieser Zeit änderte sich die Struktur der Konsumgenossenschaft, so gehörte die Konsumgenossenschaft (KG) Brandis zur KG Kreis Wurzen. Damit veränderten sich auch meine Lehrorte. Ich wurde in den Orten Brandis, Beucha und in Wurzen als Fachverkäuferin für Schuh- und Lederwaren ausgebildet. Ich fuhr mit dem Fahrrad in die Nachbarorte oder mit dem Zug nach Wurzen, dadurch erhöhten sich meine Geldausgaben wieder.

Bevor es zu dem Wohnungsauszug kam, hatte ich geplant, ein Fachschuldirektstudium auf dem Gebiet Betriebsökonomie zu beginnen, welches drei Jahre umfassen würde. Durch den Auszug aus meinem Elternhaus war das für mich finanziell nicht mehr möglich. Ich war zwar zum Aufnahmegespräch an dieser Fachschule, aber ich musste das Studium infolge des Geldmangels absagen.

Die damalige Kaderleiterin (heute Personalleiter) der Konsumgenossenschaft Kreis Wurzen half mir, eine andere Lösung zu finden. Sie schlug mir vor, ein Fernstudium aufzunehmen, und bot mir an, gleich nach der Lehrzeit ein vierjähriges Fernstudium an der Fachschule für Ökonompädagogen in Aschersleben zu beginnen.

Ökonompädagogen waren Lehrmeister in der Berufspraxis des Einzelhandels, das gibt es in dieser Art heutzutage nicht mehr. Da ich unbedingt studieren wollte, sagte ich zu.

Fernstudium bedeutete, dass ich als Fachverkäuferin täglich arbeiten ging, wie alle anderen auch. Freitag und Sonnabend waren Seminartage der Fachschule für Ökonompädagogen in Aschersleben. Diese Seminartage fanden aber nicht in Aschersleben, sondern an der Betriebsakademie für Konsumgüterbinnenhandel in Leipzig statt. Alles andere für das Studium musste allein zu Hause in der Freizeit bewältigt werden. So erhielt ich nach meiner Lehrzeit monatlich mein Gehalt, konnte notwendige Ausgaben bezahlen und nebenbei studieren.

Durch mein hässliches Aussehen hatte ich kaum die Möglichkeit, einen Mann kennenzulernen. Einen richtigen Freund hatte ich weder in der Lehrzeit noch in den ersten Jahren meines Studiums. Ab und an lernte ich kurz jemanden kennen. Sex kam aber zur damaligen Zeit für mich nicht infrage. Es war generell nicht so üblich, gleich solche Beziehungen zu beginnen. Ich hatte viel zu viel Angst, ein Kind zu bekommen, denn ich wollte mir dadurch nicht die Zukunft verbauen.

Mein großer Traum – irgendwann wollte ich mir die Nase richten lassen – bestand immer noch. Ich hörte damals von kosmetischen Operationen in Tallwitz bei Wurzen. Das war etwas völlig Neues in dieser Zeit. Aber es war für mich finanziell noch ferne Zukunft.

So stürzte ich mich mit Leib und Seele in das Fachschulfernstudium. Für mich wurde das Lernen das Wichtigste auf der Welt.

Ab Januar 1972 erfuhr mein Leben wieder eine Veränderung. Ab diesem Zeitraum war ich nicht mehr in der Konsumgenossenschaft Kreis Wurzen tätig. Ich begann eine Tätigkeit als Lehrausbilder in der Konsumgenossenschaft Kreis Leipzig. Das entsprach wesentlich besser meinen Studienbedingungen. Diese Arbeitsstelle vermittelten mir Kommilitonen aus meiner Seminargruppe in Leipzig.

Ich erhielt ein monatliches Grundgehalt von 480 Mark der DDR. Es war zwar kein üppiges Gehalt, aber ich war sehr zufrieden damit. Als Fachverkäuferin in der KG Kreis Wurzen hatte ich monatlich nur 370 Mark verdient. Diese Veränderung war für mich schon eine große Errungenschaft.

Ich gab berufspraktischen Unterricht. Das bedeutete, dass ich bestimmte Lehrlingsklassen, welche den Beruf Fachverkäufer erlernen wollten, in berufsspezifischen Fachkenntnissen unterrichtete. So zum Beispiel die warenkundlichen Fachkenntnisse für einen Fachverkäufer Schuh- und Lederwaren. Diesen Beruf hatte ich ja vorher selbst erlernt. Ich arbeitete mich ebenfalls in die Warenkunde des Fachverkäufers für Industriewaren und Textilbekleidung ein und begann den Lehrlingen auch diese warenkundlichen Kenntnisse theoretisch und praktisch in den jeweiligen Lehrverkaufsstellen zu vermitteln.

Irgendwann im Jahr 1973 bekam ich wieder einen besseren Kontakt zu meiner Mutter und konnte sie ab und zu besuchen. Die Besuche bei meiner Mutter in meinem Geburtshaus blieben aber immer nur Besuche! Ich fühlte mich dort ein Leben lang nur als Gast.

Im Haus meiner Mutter hatte ich immer Angst, dass der Mann, der dort wohnte, mich wieder schlagen würde. Ich wusste, meine Mutter wurde von ihm nach wie vor mies behandelt. Auch später, wenn ich dort zu Besuch war, herrschte immer eine gefährliche Spannung zwischen ihm und mir.

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