Schneewittchen und Rosenrot

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Aus der Reihe: Unendliche Welten #6
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Illustriert von Nina Ignatova

Geschenkausgabe

aus der Reihe »Unendliche Welten«

Lektorat: Friederike Gawlik, Carola Jürchott, Marianna Korsh

Korrektorat: Carola Jürchott, Friederike Gawlik

Das Märchen »Goldbaum und Silberbaum« wurde

von Friederike Gawlik aus dem Englischen übersetzt

Gesamtkonzeption, Satz, Layout und Coverdesign: Marianna Korsh

© 2021 Wunderhaus Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten



Jacob und Wilhelm Grimm

Schneeweißchen und Rosenrot

Deutschland

Vor langer Zeit lebte einmal eine arme Witwe in einer kleinen Hütte, vor deren Eingang ein herrlicher Garten voll duftender Blumen und saftiger Früchte lag. Dort, gleich links und rechts vor der Tür, standen zwei Rosenbäumchen, von denen das eine weiße, das andere rote Rosen trug. Die gute Frau hatte zwei Kinder, die glichen den beiden Rosenbäumchen so sehr, dass sie das eine Töchterlein Schneeweißchen, das andere Rosenrot nannte.

Die Mädchen waren so fromm und so gut, so arbeitsam und unverdrossen, wie noch nie zwei Kinder auf der Welt gewesen sind. Schneeweißchen war nur stiller und sanfter als Rosenrot, welche lieber in den Wiesen und Feldern den Blumen und Sommervögeln nachsprang, während Schneeweißchen daheim bei der Mutter saß, ihr vorlas oder im Haus half. Die Mädchen hatten aber einander so lieb, dass sie sich beim Spazierengehen immer an den Händen fassten und einander versprachen:

»Wir wollen uns niemals verlassen.«

Die Mutter sprach dann: »Was die eine hat, soll sie mit der anderen teilen!«

Oft waren Schneeweißchen und Rosenrot allein im Wald rote Beeren sammeln, aber kein Tier tat ihnen etwas zuleide, sondern sie waren ganz vertraut mit ihnen. Manches Häschen nahm ein Kohlblatt aus ihrenHänden, das sie ihm mitgebracht hatten, und manches Rehkitz kam und wollte bei ihnen grasen. Kein Unglück kam über sie, und wenn sie sich verspäteten und die Nacht über sie hereinbrach, so fassten sie sich bei den Händen und schliefen, bis der Morgen kam, und die Mutter wusste das und hatte keine Sorge um sie.

Die Schwestern hielten die Hütte der Mutter so reinlich, dass es eine Freude war, sie anzusehen. Im Sommer besorgte Rosenrot das Haus, und jeden Morgen, wenn die Mutter aufwachte, stand ein schöner Blumenstrauß vor dem Bett und von jedem Bäumchen eine Rose. War es Winter, so zündete Schneeweißchen das Feuer im Herd an und hängte den Kessel an den Feuerhaken. Der Kessel war aus Messing, aber er war so rein, dass er wie Gold glänzte. Abends, als es schneite, bat die Mutter:

»Geh, Schneeweißchen, und schieb den Riegel vor«, und dann setzten sie sich an den Herd, die Mutter nahm die Brille und las aus einem großen Buch vor, und die beiden Mädchen spannen und nähten. Ein Lämmchen lag neben ihnen auf dem Boden, und hinter ihnen auf einer Stange saß ein weißes Täubchen und hatte seinen Kopf unter einen Flügel gesteckt.

Nun trug es sich eines Abends zu, als sie so beisammensaßen, dass jemand an die Tür klopfte, als wollte er hereingelassen werden.

Die Mutter sprach: »Mach auf, Rosenrot, es wird ein Wanderer sein, der Obdach sucht.«

Rosenrot ging und schob den Riegel beiseite, aber es war kein Mensch, der eintrat, sondern ein schwarzer Bär streckte seinen dicken Kopf zur Tür herein. Rosenrot schrie laut auf und sprang zurück, das Lämmchen blökte, das Täubchen flatterte auf, und Schneeweißchen versteckte sich hinter dem Bett der Mutter. Aber der Bär fing an zu sprechen und sagte:

»Fürchtet euch nicht. Ich tue euch nichts zuleide, ich will mich nur ein wenig an eurem Feuer wärmen.«

»So leg dich nur hin«, antwortete die Mutter, rief die Kinder und sprach:

»Schneeweißchen! Rosenrot! Kommt nur her, der Bär tut euch nichts, er meint’s ehrlich.«

Da kamen die Kinder herbei, und das Lämmchen und das Täubchen verloren auch die Furcht und näherten sich. Nach einem Weilchen sagte der Bär: »Seid doch so gut, ihr Kinder, und klopft mir ein wenig den Schnee aus meinem Pelz heraus.« Sie holten den Besen und kehrten den Bär ab, der streckte sich hin und brummte ganz vergnügt. Bald schon wurden sie ganz vertraut mit ihm, zerzausten ihm das Fell mit den Händen oder setzten ihre kleinen Füßchen auf ihn und rollten ihn hin und her oder holten eine Gerte und schlugen damit auf ihn los. Der Bär ließ sich alles gefallen, nur wenn sie zu arg wurden, rief er:

»Lasst mich nur am Leben,

Schneeweißchen! Rosenrot!

Schlägst dir den Freier tot!«

Als Schlafenszeit war und die Kinder zu Bett gingen, sagte die Mutter zum Bären: »Du kannst in Gottes Namen da am Herd liegen bleiben, so bist du vor dem Wetter geschützt.«

Am nächsten Morgen, als es Tag war, ließen ihn die Kinder wieder hinaus, und er trabte über den Schnee fort in den Wald. Von nun an kam der Bär jeden Abend zu der bestimmten Stunde und legte sich an den Herd, und sie waren so an ihn gewöhnt, dass die Tür abends nicht eher zugeriegelt wurde, bis der schwarze Gast angelangt war. Als das Frühjahr herangekommen und draußen alles grün war, verkündete der Bär eines Morgens:

»Nun muss ich fort und darf den ganzen Sommer nicht wiederkommen.«

Schneeweißchen fragte: »Wo gehst du hin?«

»Ich muss in den Wald und meine Schätze vor den Zwergen hüten. Im Winter, wenn die Erde hart gefroren ist, müssen sie unten bleiben und können nicht durch den Boden brechen, aber jetzt steigen sie heraus, suchen und stehlen, und was sie einmal in ihre Höhlen getragen haben, das kommt so leicht nicht wieder.«

Da öffnete ihm Schneeweißchen die Tür, und als der Bär sich hinausdrängte, blieb er an einem Türhaken hängen, und ein Stück von seiner Haut riss auf. Da war es Schneeweißchen, als hätte sie Gold durchschimmern sehen, aber sie wusste es nicht recht, weil der Bär eilig fortgelaufen war.

Nach einiger Zeit sagte die Mutter: »Geht, Kinder, und sammelt Reisig, unser Vorrat ist bald zu Ende.«

Als sie draußen im Wald waren, sahen sie einen großen Baum, der gefällt auf der Erde lag, und an dem Stamm, zwischen dem Gras, sprang etwas auf und ab, sie konnten aber nicht unterscheiden, was es war. Sie gingen näher heran und sahen einen Zwerg mit einem alten, welken Gesicht und einem Bart, der ellenlang und schneeweiß war. Das Ende des Barts war in einer Spalte des Baumstamms eingeklemmt, und der Kleine sprang hin und her wie ein Hündchen an einem Riemen und wusste nicht, wie er sich helfen sollte. Er starrte die Mädchen mit seinen roten, feurigen Augen an und rief:

»Was steht ihr da, könnt ihr nicht herkommen und mir helfen?«

»Was hast du denn angefangen, du kleines Männchen?«, fragte Rosenrot.

»Neugierige Geschöpfe!«, fluchte der Zwerg. »Den Baum da habe ich mir spalten wollen, um kleines Holz zum Kochen zu haben. Bei einem dicken Klotz verbrennt ja gleich das bisschen Speise, das unsereiner braucht. Ich hatte einen Keil hineingetrieben, aber das verwünschte Stück Holz muss zu glatt gewesen sein. Er sprang wieder heraus, und da fuhr der Baum wie der Blitz zusammen, und ich konnte nicht geschwind wieder zurück. Da ist das Ende von meinem schönen, weißen Bart steckengeblieben. Ihr habt gut lachen mit euren albernen, glatten Milchgesichtern, pfui! Wie garstig ihr seid!«

Die Kinder zogen an dem Bart, aber umsonst, er steckte zu fest.

»Ich will laufen und Leute holen«, sagte Rosenrot.

»Ei was«, schnarrte der Zwerg, »wer wird gleich Leute herbeirufen, das wäre mir gelegen, ihr dummen Gänse! Wisst ihr keinen besseren Rat?«

»Warte«, sprach Schneeweißchen, »ich will dir helfen.«

Sie holte ihre Schere aus der Tasche und schnitt das Ende des Barts ab. Als der Zwerg sich frei fühlte, griff er nach einem Sack Gold, der unter dem Baum lag, und brummte dabei:

»Grobes Volk! Schneidet mir ein Stück von meinem prächtigen Bart ab. Lohn’s euch der Kuckuck!« Er schwang den Sack auf seinen Rücken und ging fort, ohne zu den Kindern ein Wort des Dankes zu sagen oder sie auch nur noch eines Blickes zu würdigen.

Ein andermal wollten Schneeweißchen und Rosenrot ein paar Fische zum Abendessen mit der Angel fangen. Als sie sich dem Bache näherten, sahen sie, dass etwas wie eine Heuschrecke in großen Sprüngen vor dem Wasser hüpfte, als wollte es hinein. Sie liefen dorthin und erkannten den Zwerg.

»Was hast du vor?« fragte Rosenrot. »Seht ihr’s denn nicht? Der verwünschte Fisch zieht mich ins Wasser.«

Der Kleine hatte geangelt und der Wind seinen Bart mit der Angelschnur verflochten. Nun hatte unglücklicherweise ein großer Fisch angebissen, und der Zwerg war nicht mächtig genug, ihn herauszuziehen. Der Fisch behielt die Oberhand und zog den Zwerg zu sich. Zwar hielt sich dieser an allen Halmen und Binsen fest, aber es half nicht, er musste dem Fisch folgen und einen Sprung nach dem anderen machen. Die guten Kinder kamen gerade noch zur rechten Zeit und hielten den Kleinen fest, denn ein wenig später hätte er schon im Wasser gelegen, und es wäre um ihn geschehen gewesen. Sie versuchten, den Bart von der Angelschnur freizumachen, aber es war nicht möglich, so sehr waren beide ineinander verwirrt. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als die Schere wieder hervorzuholen und den Bart abzuschneiden, wobei aber ein kleiner Teil desselben verloren ging. Als der Zwerg das sah, schrie er sie an:

 

»Ihr Lurche! Ist das eure Art – einem das Gesicht zu verunstalten? Erst habt ihr mir den Bart gestutzt, jetzt schneidet ihr den schönsten Teil davon weg. So kann ich mich vor den Meinigen nicht blicken lassen! Laufen müsstet ihr, ganz ohne Schuhsohlen!«

Dann griff er nach einem Sack Perlen, der da im Schilf lag, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, schleppte er ihn fort und verschwand hinter einem Stein.

Abermals, nicht lange danach, schickte die Mutter die beiden Kinder in die Stadt. Sie sollten Zwirn, Nadeln, Schnüre und Bänder einkaufen. Als sie an eine Heide gelangten, auf der hier und da große Felsenstücke lagen, sahen die Mädchen einen großen Vogel in der Luft, der in langsamen Kreisen über ihnen schwebte und immer tiefer flog, bis er plötzlich nicht weit entfernt auf einen Felsen niederstieß. Gleich darauf hörten sie ein erbärmliches Geschrei. Die Schwestern eilten herbei und sahen mit Erstaunen, dass der Adler den wohlbekannten Zwerg gepackt hatte, welcher eben aus einer Öffnung im Stein hervorgestiegen war, und dass der Vogel ihn forttragen wollte. Die mitleidigen Mädchen packten das Männchen ganz fest und zerrten an ihm so lange mit dem Adler herum, bis dieser seine Beute aufgeben musste. Als der Zwerg sich vom ersten Schrecken erholt hatte, schimpfte er:

»Konntet ihr mich nicht säuberlicher angreifen? Gerissen habt ihr an meinem Röckchen, dass es an mehr als einer Stelle Löcher bekommen hat. Täppisches Gesindel!«


Dann nahm er einen Sack mit Edelsteinen und schlüpfte wieder in seine Höhle. Die Mädchen waren an seinen Undank schon gewöhnt. Sie setzten ihren Weg fort und verrichteten ihr Geschäft in der Stadt. Als die beiden auf dem Heimweg wieder bei der Heide ankamen, überraschten sie den Zwerg, der wohl gedacht hatte, dass so spät niemand mehr des Weges gehen würde. Er hatte sich ein reinliches Plätzchen ausgesucht und seinen Sack mit Edelsteinen ausgeschüttet. Da lagen sie ringsherum, und weil die Abendsonne darüber schien, schimmerten sie so prächtig in allen Farben, Blau, Rot, Grün und Gelb, dass die Kinder stehen blieben und sie betrachteten.

»Was steht ihr da und haltet Maulaffen feil!«, schrie der Zwerg ärgerlich und wollte sie weiter ausschelten, als er etwas brummen hörte. In dem Augenblick trabte ein Bär aus dem Wald. Erschrocken sprang der Zwerg auf und wollte fliehen, aber er konnte nicht mehr zu seinem Schlupfwinkel gelangen. Der Bär war schon zu nah. Da rief das Männchen in Herzensangst:

»Lieber Herr Bär, verschont mich, und ich will Euch alle meine Schätze geben, alle Edelsteine, die da liegen! Was habt Ihr an mir armem, kleinen Kerl? Ihr spürt mich nicht zwischen den Zähnen. Aber die beiden Mädchen da, die geben einen zarten Bissen ab, fett wie junge Wachteln! Fresst sie lieber, in Gottes Namen!«

Der Bär kümmerte sich nicht um seine Worte und gab dem boshaften Geschöpf einen einzigen Schlag mit der Tatze, und der Zwerg regte sich nicht mehr.

Die Mädchen waren fortgesprungen, aber der Bär rief ihnen nach:

»Schneeweißchen! Rosenrot! Fürchtet euch nicht, bleibt stehen und wartet, ich will mit euch gehen.«

Sie erkannten die Stimme ihres alten Freundes und blieben stehen. Da kam er angelaufen, und als der Bär bei ihnen war, fiel die Bärenhaut von ihm ab, und ein prächtiger, ganz in Gold gekleideter Königssohn stand vor ihnen und erzählte, er sei verwunschen gewesen und erst durch den Tod des bösen Zwergs erlöst worden. Da war es allen eine große Freude, und die Herzen der Mädchen wurden von Heiterkeit und Glück erfüllt, so froh waren sie um die Rettung des Freundes.

Der Prinz bat Schneeweißchen, die er in den Wintermonaten sehr liebgewonnen hatte, seine Frau zu werden. Schneeweißchen freute sich sehr und wurde nach einiger Zeit seine Gemahlin. Rosenrot wurde mit dem Bruder des Königs glücklich vermählt und war ebenso reich wie ihre Schwester, denn sie erhielt das Gold, die Perlen und all die Edelsteine, die der Zwerg in seiner Höhle zusammengetragen hatte. Und auch ihre alte Mutter lebte von nun an ganz glückselig bei ihnen.

Die zwei Rosenbäumchen aber hatte sie mitgenommen. Sie standen vor ihrem Fenster und trugen jedes Jahr die schönsten Rosen, weiße und rote.



Jacob und Wilhelm Grimm

Rumpelstilzchen

Deutschland

Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Sie lebten in einer kleinen Mühle nahe eines Baches, in dem das Wasser so rein war, dass man die Forellen darin mit bloßem Auge entdecken konnte. Schön war es dort, nur einsam, denn die Mühle lag ganz am Ende eines großen Reiches, an dessen Rand sich nur wenige Menschen verirrten.

Aber eines Tages passierte der König selbst die kleine Mühle und entschloss sich, dort einzukehren. Da traf der alte Müller den König, und, um sich ein Ansehen zu geben, behauptete er: »Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.«

Der König erwiderte: »Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt. Wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloss, da will ich sie auf die Probe stellen.«

Als nun das Mädchen zu ihm gebracht wurde, führte der König sie in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Spinnrad und Spule und sprach: »Jetzt mach dich an die Arbeit. Und wenn du bis morgen früh das Stroh nicht zu Gold gesponnen hast, musst du sterben.«

Daraufhin schloss er die Kammer selbst zu, und die Müllerstochter blieb allein darin. Da saß das arme Mädchen nun und wusste um ihr Leben keinen Rat. Sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst wurde immer größer, sodass sie alsbald zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Tür auf, und ein kleines Männchen trat herein und sprach: »Guten Abend, Jungfer Müllerin. Warum weinst du so sehr?«

»Ach«, antwortete das Mädchen, »ich soll Stroh zu Gold spinnen und kann es doch nicht.«

Da fragte das Männchen: »Was gibst du mir, wenn ich dir’s spinne?«

»Mein Halsband«, sagte das Mädchen.

Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Rädchen, und

schnurr, schnurr, schnurr,

dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf, und

schnurr, schnurr, schnurr,

dreimal gezogen, war auch die zweite voll. Und so ging’s fort bis zum Morgen. Da war alles Stroh versponnen, und alle Spulen waren voll Gold. Bei Sonnenaufgang kam auch schon der König herbei, und als er das Gold erblickte, staunte er und freute sich, aber sein Herz wurde nur noch gieriger nach Gold. Er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer voll Stroh bringen, die noch viel größer war, und befahl ihr, auch dieses Stroh in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre. Das Mädchen wusste sich nicht zu helfen und weinte. Da ging abermals die Tür auf, und das kleine Männchen erschien und sprach: »Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?«

»Meinen Ring von dem Finger«, antwortete das Mädchen.

Das Männchen nahm den Ring, fing wieder an, mit dem Rad zu schnurren, und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick, jedoch hatte er noch immer nicht des Goldes genug.

Er ließ die arme Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und forderte: »Das alles musst du noch in dieser Nacht verspinnen. Gelingt es dir, so sollst du meine Gemahlin werden.« ›Und wenn’s auch eine Müllerstochter ist‹, so dachte er, ›eine reichere Frau werde ich in der ganzen Welt nicht finden.‹

Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum dritten Mal und fragte: »Was gibst du mir, wenn ich dir auch diesmal das Stroh spinne?«

»Ich habe nichts mehr, das ich geben könnte«, antwortete das Mädchen.

»So versprich mir eins: Dein erstes Kind will ich haben, wenn du Königin wirst.«

›Herrje, wer weiß, wie das noch ausgeht‹, dachte die Müllerstochter und wusste sich in der Not nicht anders zu helfen.

Sie versprach dem Männchen also, was es verlangte, und dafür spann jener noch einmal das Stroh zu Gold. Als am Morgen der König kam und alles fand, wie er es gewünscht hatte, so hielt er Hochzeit mit ihr, und die Müllerstochter wurde eine Königin.

Nach einem Jahr brachte sie ein schönes Kind zur Welt und dachte gar nicht mehr an das Männchen. Da trat es plötzlich in ihre Kammer und verlangte: »Nun gib mir, was du versprochen hast.«

Die Königin erschrak sehr und bot ihm alle Reichtümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte. Aber das Männchen beharrte: »Nein. Etwas Lebendes ist mir lieber als alle Schätze der Welt.«

Da fing die Königin so an zu jammern und zu weinen, dass das Männchen Mitleid mit ihr hatte: »Drei Tage will ich dir Zeit lassen. Wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.«

Nun besann sich die Königin die ganze Nacht über auf alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten über das Land, der sich weit und breit erkundigen sollte, was es sonst noch für Namen gäbe. Als das Männchen am nächsten Tag kam, fing sie an mit Caspar, Melchior, Balzer und sagte der Reihe nach alle Namen, die sie wusste, aber bei jedem entgegnete das Männlein: »So heiß ich nicht.«

Den zweiten Tag ließ sie in der Nachbarschaft herumfragen, wie die Leute da genannt würden, und trug dem Männlein die ungewöhnlichsten und seltsamsten Namen vor.

»Heißt du vielleicht Rippenbiest? Oder Hammelswade? Oder Schnürbein?«

Doch es antwortete immer: »So heiß ich nicht.«

Am dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: »Neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie:

»Heute back ich, morgen brau’ ich,

übermorgen hol ich der Königin ihr Kind!

Ach, wie gut, dass niemand weiß,

dass ich Rumpelstilzchen heiß!«

Da könnt ihr euch denken, wie froh die Königin war, als sie den Namen hörte.

Und als bald das Männlein in die Stube trat und fragte: »Nun, Frau Königin, wie heiß ich?«

Da sprach sie erst:

»Heißest du … Kunz?«

»Nein.«

»Heißest du … Heinz?«

»Nein.«

»Heißt du etwa … RUMPELSTILZCHEN?«

»Das hat dir der Teufel gesagt! Das hat dir der Teufel gesagt!«, schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, dass es bis an den Leib hineinfuhr. Dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riss sich selbst mitten entzwei.


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