Die Gänsemagd und ihr treues Pferd Falada

Text
Aus der Reihe: Unendliche Welten #7
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die Gänsemagd und ihr treues Pferd Falada
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Loireag na Mara

DIE GÄNSEMAGD

UND IHR TREUES PFERD FALADA

Übersetzt von Carola Jürchott

Illustrationen von Liga Klavina

Grafiken von Mandy Zasadzki

Wunderhaus Verlag

Loireag na Mara

DIE GÄNSEMAGD

UND IHR TREUES PFERD FALADA

Aus dem Russischen von Carola Jürchott

Illustrationen von Liga Klavina

Grafiken von Mandy Zasadzki

Geschenkausgabe aus der Reihe »Unendliche Welten«

basierend auf dem Märchen der Brüder Grimm »Die Gänsemagd«

Lektorat: Carola Jürchott, Co-Lektorat: Barbara Reimann

Korrektorat: Friederike Gawlik

Satz und Layout: Marianna Korsh

ISBN 978-3-96372-051-2

Ökologisch gedruckt auf FSC®-Papier.

Zertifiziert mit Nordic Swan Ecolabel

© 2021 Wunderhaus Verlag GmbH,

Gedruckt in der EU

Alle Rechte vorbehalten

WWW.WUNDERHAUS-VERLAG.DE


Prolog

Im ganzen Königreich herrschte geschäftiges Treiben. Das Klirren der Waffen, das Stimmengewirr der Menschenmenge, das nicht verstummen wollte, das Getümmel, die fröhlichen Rufe der Leute und die eindringlichen der Händler, die ihre verschiedenen Waren an den Mann zu bringen suchten ... All das verschmolz auf dem Platz vor dem Palast miteinander. Ob nun als Helden oder nicht, waren viele von ihnen doch zurückgekehrt – allerdings nicht alle. Der König war nicht unter ihnen. Die Königin schaute in die Ferne. Sie hatte ihren Gatten schon lange nicht mehr gesehen und die Hoffnung auf seine Heimkehr fast aufgegeben. Doch als sie nun hörte, was die Generäle verkündeten, die ihm am nächsten gestanden hatten, weigerte sie sich, ihren Worten zu glauben, und versuchte trotz allem, am Horizont seine Umrisse mit der Krone ihres Landes auf dem Haupt auszumachen.

Die Dämmerung brach herein, und die Leute waren bereits nach Hause gegangen, an den warmen Kamin und die reich gedeckte Tafel mit all den Speisen und Berichten über militärische Heldentaten, denn wer wollte schon etwas von Niederlagen hören, geschweige denn davon erzählen? Die Daheimgebliebenen lachten, die Heimkehrer lächelten müde; einige konnten die Freudentränen nicht zurückhalten, andere wiederum blickten düster und scheel von der Seite auf das Geschehen. Alle Tavernen waren brechend voll, der Wein floss in Strömen und wurde von den melodischen Klängen der Lieder begleitet, deren Echo bis zu den Mauern des Königspalastes hinübertönte. Die Königin aber hatte ihren Posten am Turmfenster noch nicht aufgegeben und sah nach wie vor unverwandt in die Weite, als fürchtete sie, etwas Wichtiges zu verpassen. In diesem Moment trat er aus der Dunkelheit, die bereits begonnen hatte, alles einzuhüllen.

Die Königin schrie auf und presste ihre zitternden Hände an ihr Herz. Sie stürzte hinunter zum Haupttor, besann sich aber auf halbem Wege und schlüpfte in das kleine Kinderzimmer, das unmittelbar an die königlichen Gemächer angrenzte. In zwei kleinen Bettchen lagen zwei kleine Mädchen, und beide waren überaus hübsch anzusehen. Eine von ihnen sah die Königin aufmerksam aus ihren schwarzen Augen an, so, als hätte sie überhaupt nicht geschlafen. Sie hieß Selena, was so viel wie »Mondenschein« bedeutete. Das andere Mädchen hatte ihr Kommen hingegen gar nicht bemerkt und lächelte im Schlaf. Dieses Mädchen hieß Helena, »Sonnenstrahl«.

Die Königin nahm das schlafende Kind und eilte hinunter. Als sie durch das Tor trat, schien es ihr, als hätte sie eine Ewigkeit dafür gebraucht, vom Turm herabzusteigen, und nun sah sie ihn endlich ganz – stark, stolz und einsam.

»Falada, mein teurer Freund, du bist es! Wie freue ich mich, dich wiederzusehen! Du wirst mir doch alles erzählen, ohne etwas zu verschweigen? Wirst du auch künftig zu mir stehen?« Sie lüftete die Decke und zeigte ihm das Gesicht des Mädchens. »Schau, Falada, das ist unsere kleine Prinzessin! Dem König war es nicht mehr vergönnt, sie zu sehen, aber jetzt bist du zurückgekehrt, und ich bin beruhigt. Du wirst doch ihr Freund sein? Du wirst sie nicht verlassen?«

Falada schaute die Königin mit seinen großen, tiefgründigen Augen an und schüttelte den Kopf.

»Ich danke dir.« Zum ersten Mal seit langer Zeit huschte ein Lächeln über die Lippen der Königin. Sie wollte ihn umarmen, doch das kleine Mädchen begann, sich im Schlaf zu bewegen, und die Königin begab sich zurück in ihre Gemächer. Auf dem Weg dorthin wiegte sie die Prinzessin.

Falada ging in die entgegengesetzte Richtung. Das Trappeln seiner Hufe hallte durch die abendliche Stille. Denn Falada war ein Pferd, und wie alle Pferde war er es gewohnt, im Stall zu schlafen.


Sonnenstrahl und Mondenschein

Die Zeit verging, und die kleine Prinzessin wuchs heran. Als wäre sie ein einfaches Mädchen, tollte sie gern mit ihrer einzigen Freundin, der dunkelhaarigen Zofe Selena, über den Hof. Sie waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht, doch es gab etwas, das sie verband: Beide Väter waren aus jenem schier endlosen Krieg nicht zurückgekehrt. Selenas Mutter war bei der Geburt gestorben, und deshalb flatterte das Mädchen frei wie ein Vogel hierhin und dorthin, denn es war niemand da, der auf sie hätte achten und ihr wegen geschwänzter Unterrichtsstunden Vorhaltungen machen können. Im Gedenken an die Verdienste ihres Vaters, des Ersten Generals, war sie bei ihrer Geburt zur Zofe der Prinzessin ernannt worden, und sie wusste, dass ihr alles vergeben wurde, was immer sie auch tat.

Ganz anders lagen die Dinge bei Prinzessin Helena, die unter der ständigen Beobachtung der Dienerschaft stand. Wie träumte sie davon, sich ihren Weg ins Freie zu bahnen, damit der Wind das Lied von ihren Lippen davontragen, ihre goldenen Locken zerzausen und sie sich in seinem Wirbel drehen konnte! Doch Abenteuer kannte sie nur aus den Büchern, die sie heimlich, still und leise aus der Bibliothek stibitzt hatte. Das war ihr einziges Geheimnis. Ansonsten war sie immer folgsam, bemühte sich im Unterricht, zeigte Fleiß beim Sticken, ging stets gerade, griff bei Abendgesellschaften nie zum falschen Besteck und vermochte es, den Wind zu besänftigen. Da war an Abenteuer nicht zu denken! »Kind, du musst noch vieles lernen«, sagte die Königin eines Tages ernst. »Das Leben einer Prinzessin ist kein sorgloses, doch wenn du einst Königin bist wie ich, werden noch viele Sorgen hinzukommen, deshalb sei höflich und strebsam.«

»Mutter, wie soll ich aber wissen, dass ich genug gelernt habe?«, fragte die Prinzessin verwundert.

»Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich es dir ganz bestimmt sagen.« Die Königin klopfte ihr leicht auf die Schulter, küsste sie auf die Stirn und ließ sie mit ihren Gedanken allein.

Falada war der einzige Freund, der Helena wirklich nahestand. Oft kam sie in den Stall, um ihn zu besuchen, und kämmte lange seine wunderbar seidige Mähne mit ihrem eigenen goldenen Kamm. Sie liebte den Duft des Pferdes und mochte es, sein glänzendes perlweißes Fell mit der Bürste zu striegeln. Unbemerkt beobachtete sie, wie die Stallknechte ihn säuberten, besorgte sich heimlich große, schmutzige, ein wenig steif gewordene Arbeitshandschuhe, nahm einen Haken und putzte nacheinander jeden seiner Hufe. Diese Arbeiten machten ihr nichts aus, im Gegenteil: Die Prinzessin freute sich, dass sie ihrem Freund helfen konnte, der auch ihr stets so gern zu Hilfe kam. Irgendjemand musste das aber dennoch der Königin zugetragen haben, denn sie verbot Helena diese schmutzige Arbeit auf das Strengste. Die Prinzessin war ein wenig traurig, doch sie fügte sich.

Der Hengst sprach selten mit ihr, und wenn er es tat, redete er nie über sich selbst. Wenn sie aber in seine tiefgründig glänzenden Augen sah, erblickte Helena Verständnis. In diesen Momenten erfasste sie eine große Ruhe, obwohl es ihr leidtat, dass sie mit ihm kein richtiges Gespräch führen konnte.

»Ich kann schon sticken, und selbst das Weben gelingt mir immer besser. Alle lächeln mich an, und wenn sie mich sehen, kann man die Freude in ihren Gesichtern ablesen. Wenn ich etwas sage, lauscht man mir aufmerksam, und häufig ernte ich Zustimmung. Bin ich vielleicht schon bereit, die Welt kennenzulernen?«, fragte die Prinzessin und schlang ihre Arme um den Hals des Pferdes.

Der Hengst sah sie daraufhin schweigend an, schnaubte mit den Nüstern und gab ein Geräusch von sich, das einem leichten Seufzen ähnelte.

»Ja, ich weiß, mein Freund, ich weiß, dass ich erst zwölf Jahre alt bin! Aber vielleicht ist es dennoch schon an der Zeit, dass ich die Welt kennenlerne? Nein? Ach, Falada, natürlich werde ich mich noch ein wenig gedulden, wenn die Mutter es möchte. Schließlich ist sie weise und weiß, was zu tun ist.«

Häufig streiften sie durch die Wälder, die zum Schloss gehörten, manchmal Seite an Seite, und bisweilen sattelte die Prinzessin den Hengst. Dann jagten sie davon, schneller als der Wind, sodass dieser mit ihnen lachte und versuchte, sie einzuholen. Auch die Begleiter, die die junge Prinzessin ständig bewachten, konnten ihnen nicht beikommen. Ein anderes Mal wieder liefen sie langsam und lauschten dem Gezwitscher der Vögel ebenso wie dem Rascheln des Grases unter den Hufen, sodass die Begleiter zu gähnen anfingen und sich manchmal sogar von ihnen entfernten. Faladas Flanken waren heiß und glänzten wie Marmor, und seine lange Mähne schillerte in der Sonne wie Perlmutt, sein tiefgründiger Blick aber war immer voller Weisheit. Helena liebte es, sich an seine mächtige breite Brust zu schmiegen und zu spüren, dass er immer bei ihr sein würde. Die Wärme seines Körpers wärmte auch das Herz der Prinzessin, und sie kehrte voller Freude zu ihren alltäglichen Verpflichtungen zurück, vergaß allen Kummer und alle Fragen. ›Es kommt alles, wie es kommen soll!‹, dachte sie an manchem Abend, bevor sie mit einem Lächeln auf den Lippen einschlief.

 

Die Prinzessin trug immer ein Stückchen Zucker für jeden Bewohner des königlichen Pferdestalls bei sich. Obwohl nur Falada ihr Freund war, mochte sie auch die anderen Pferde: den jungen roten Hengst, die zarte braune Stute Fünkchen und all die anderen. Wie hätte sie sie auch nicht mögen sollen? Manchmal schien es ihr, als könnten sie alle sprechen und wollten es nur nicht. Oder als wüssten sie so viel, dass sie es vorzogen zu schweigen, um sich nicht zu verraten. Nur ihr eigenes Pferd hatte sich darauf eingelassen, sein Schweigegelübde zu brechen, warum wohl?

Manchmal nahm Helena auch Selena zu den Spaziergängen mit. Sie verbrachten fröhliche Stunden, jagten mit den Eichhörnchen um die Wette und spielten mit den Blättern und den Sonnenstrahlen. Bei diesen Spaziergängen weihte Helena die Zofe in ihren Kummer ein.

»Dein Wunsch ist doch dem Wind Befehl, warum fliegst du nicht mit ihm in ferne Länder?«, wunderte sich Selena.

»Oh nein, wie könnte ich? Der Wind wird mir nicht gehorchen, wo ich doch der Mutter mein Wort gegeben habe. Das ist ein Naturzauber, man darf ihn nicht einfach vergeuden, und ein königliches Wort ist unverrückbar. Habe ich es einmal gegeben, darf ich es nie wieder brechen. Und wie könnte ich ohne Falada davonfliegen? Auch würde die Mutter vor Gram vergehen«, seufzte die Prinzessin.

»Helena, du bist so folgsam, so treu!«, rief die Zofe aus. »Hätte ich deine Talente, wäre ich schon längst auf Nimmerwiedersehen über alle Berge geflogen!«

»Was denn, ganz allein?« Die Prinzessin konnte es nicht glauben. »Sogar mich hättest du zurückgelassen?«

»Nein.« Die Zofe lächelte. »Dich hätte ich entführt und mitgenommen!«

Die Mädchen lachten, die Zofe drehte sich mit der Prinzessin im Reigen, und die Zweige der Kiefern wiegten sich dazu im Takt.


So wuchsen sie heran: Seite an Seite und doch Welten voneinander entfernt. Die Jahre flogen dahin wie die Blätter im Frühlingswind. Ohne es selbst zu bemerken, wurde Helena erwachsen. Inzwischen liebte sie es, schöne Bilder zu sticken, und hatte gelernt, prächtige Gobelins zu wirken. Ihre hervorragenden Manieren und ihre feingliedrige Schönheit hatten sich bereits weit über die Grenzen ihres Königreiches herumgesprochen. Doch mit derlei Kleinigkeiten befasste sich die Prinzessin nicht. Sie begriff erst, dass sich etwas verändert hatte, als man ihr gestattete, das Schloss ohne Begleiter zu verlassen.

Es kam der wunderbare Tag, an dem sie zum ersten Mal allein mit Falada über die Waldwege spazierte. Wie freuten sie sich über die neugewonnene Freiheit! Sie konnten einfach vorpreschen, ohne auf jemanden warten zu müssen, und mussten weder die bärbeißigen Vorhaltungen alter Tanten noch das gezierte Benehmen des Reitlehrers ertragen. Die Prinzessin war in ihrem Können allen anderen weit voraus; wahrscheinlich hätte nicht einmal er ihr noch etwas beibringen können. Heimlich nahm sie ihrem Pferd den Damensattel ab, schmiegte sich an den warmen Rücken des Freundes, und so schlenderten sie leichten Schrittes über die Gartenwege, die sie vor fremden Blicken schützten. Doch weiter als bis zur Grenze der zum Schloss gehörenden Waldgebiete ging sie nie. Die Frage, ob sie schon erwachsen genug war, beschäftigte sie seit Langem. Es schien, als hätte sich die Prinzessin mit den Gegebenheiten abgefunden. ›Alles geht, wie es gehen soll, und alles kommt, wie es kommen muss‹, dachte sie.

Eines Tages kam bei einem dieser Spaziergänge die Zofe auf sie zugelaufen. In letzter Zeit hatten sie einander nicht oft gesehen. Als sie größer geworden waren, hatten die Mädchen ihr gemeinsames Zimmer verlassen müssen, in dem sie als Kinder ihre Geheimnisse miteinander geteilt hatten. Die impulsive Zofe hatte den Unterrichtsstunden immer Ausflüge in die Stadt oder andere Wanderungen vorgezogen, von denen nur sie allein wusste, wohin sie sie führten. Manchmal blieb sie mehrere Tage fort, und einmal hörte man sogar einen ganzen Monat lang nichts von ihr. Die Prinzessin dachte, dass Selena bestimmt sogar schon in einigen Nachbarreichen gewesen war, doch sicher wusste sie es nicht, und die Zofe gab ihr Geheimnis nicht preis. Ansonsten diente Selena der Prinzessin, doch Helena stellte keine großen Ansprüche, wenn sie stickte, ein Buch las oder mit Falada durch den Wald spazierte.

»Selena! Wie glücklich bin ich, dich zu sehen!«, rief die Prinzessin voller Freude aus. Sie sprang vom Pferd und umarmte die Freundin herzlich. »Du musst dir unbedingt meinen Gobelin ansehen. Stell dir vor, er ist fast fertig, und ich habe noch nicht einen einzigen Fehler hineingewirkt! Du sollst ihn zu sehen bekommen, bevor ich doch noch etwas falsch mache und alles verderbe.« Sie lachte.

»Helena, natürlich schaue ich ihn mir sehr gern an«, die Zofe senkte den Kopf, »doch jetzt ist nicht der richtige Moment, um uns mit derlei Nichtigkeiten zu befassen. Ich habe sehr seltsame Neuigkeiten erfahren, die ganze Stadt spricht bereits davon.«

»Tatsächlich? Sag, wovon denn?« Die Prinzessin wurde etwas traurig, weil die Freundin ihre mühevolle Arbeit für eine Kleinigkeit hielt, doch sie bemühte sich, es ihr nicht nachzutragen.

»Wahrscheinlich wird die Königin dir alles selbst erzählen. Natürlich nur, wenn es die Wahrheit ist und kein dummes Geschwätz. Doch sollte es die Wahrheit sein, ist heute dein letzter Tag in Freiheit angebrochen. Wie viele Jahre haben wir uns schon miteinander gemessen? Entsinnst du dich, wie leicht ich dich beim Laufen überholen konnte? Du warst noch vorn am Tor, und ich hab schon an der Kapelle Tee getrunken, während ich auf dich gewartet habe. Was waren das doch für fröhliche Zeiten«, seufzte Selena plötzlich und schloss die Augen, als tauchte sie in den Nebel der Vergangenheit ein. Sie schwiegen eine Weile, jede in ihre Gedanken versunken, doch plötzlich begann Selena wieder in jenem schelmischen Ton zu sprechen, mit dem sie die Prinzessin immer zu Streichen angestiftet hatte. »Ich habe gehört, du seist eine Meisterin im Reiten geworden? Lass es uns ausprobieren! Überhole mich heute und beweise mir, dass du inzwischen besser bist als ich!«

»Aber all das brauche ich nicht.« Helena zuckte verwundert mit den Schultern. »Wenn du willst, überlasse ich dir sofort den Platz auf dem Siegerpodest. Denn eigentlich bin nicht ich so geschickt im Sattel, Falada übernimmt die Arbeit für mich ...«

»Aber ich brauche es, teure Freundin!«, unterbrach sie die Zofe jäh. »Los, sattle Falada, und ich werde auf dem Roten reiten.«

»Das ist aber nicht fair, Selena. Mein Hengst ist es, der dich besiegt, nicht ich. Der Rote ist noch nicht bereit für solche Kapriolen.«

»Spar dir deine schlauen Sprüche, der Rote ist jung und voller Kraft, und Falada ist auch nicht mehr, was er mal war. Eigentlich gehörte er schon längst nicht mehr hierher. Es ist sein Glück, dass es ihm gelungen ist, sich deine Liebe zu verdienen.«

Die Prinzessin seufzte und folgte Selena in den Pferdestall, um den Hengst zu satteln und zu zäumen. Helena wollte Falada schon überreden, den Roten vorzulassen. Wenigstens ein bisschen, damit ihre Freundin nicht traurig wäre, die diesen kleinen Wettkampf offensichtlich überaus wichtig nahm.

Falada schnaubte nur einmal kurz und unwillig auf. Die Prinzessin verstand ihn auch ohne Worte. Wie hätte er irgendjemanden vorlassen können? Ein königliches Ross, gestählt in vielen Feldzügen – jemand wie er gab nicht klein bei, um fremde Launen zu befriedigen.

Sie beschlossen, durch den Wald bis zu der Grenze zu reiten, die die Prinzessin noch niemals überquert hatte. Die Sonne leuchtete durch die Zweige, die Vögel trällerten so schön wie eh und je, und ihr Kleid flatterte im Sommerwind. Alles um sie her war von Frieden und Ruhe erfüllt. Alles außer Selena. »Was für seltsame Gedanken sie doch mitunter hegt«, überlegte die Prinzessin. »Wahrscheinlich werde ich sie nie verstehen!« Dennoch konnte die Prinzessin ihrer Zofe nichts abschlagen. Warum sollten sie auch nicht mit dem Wind davonjagen, wenn es die Freundin doch so gern wollte? Der Wind zauste Helenas golden schimmerndes Haar, und die dünnen Haarnadeln hielten seinem Gewicht nicht stand, sodass es sich wie ein prächtiger goldener Wasserfall über ihre Schultern ergoss. Ihr Pferd lief im Eifer des Gefechts schneller als der Wind, ganz so, als würde es eine neue Naturgewalt verkörpern. Sie schmiegte sich fest an Falada. Ihn anzutreiben war nicht nötig, denn er wusste selbst, dass er gewinnen musste. Selena preschte lachend hinterdrein. »Ich werde dich sowieso überholen!«, rief sie, wobei sie ihrem Pferd die Sporen gab und sich mit ihrem ganzen Körper darüberbeugte. Ihr offenes Haar wehte im Wind und wirkte wie ein Schwall aus glänzendem Basalt.

Bald darauf aber erstarb ihr Lachen. Die Haare klebten ihr an der Stirn, und Schweiß bedeckte ihren ganzen Körper. Sie gab sich alle Mühe, nicht hinter der Prinzessin zurückzubleiben, doch fiel ihr das immer schwerer. Sie sagte nichts mehr und antwortete Helena nicht.

»Ich werde nicht nur als Erste ans Ziel kommen, sondern auch eine Trophäe mitbringen! Hüüüü!«, rief Selena und schlug ihr Pferd, das sich inzwischen heißgelaufen hatte, immer und immer wieder auf die Flanken. In diesem Moment bäumte der Rote sich auf, stieg auf die Hinterhufe empor, seine Augen weiteten sich in Raserei, und er schnellte an der Prinzessin vorbei, wobei er seinen Rivalen fast an der Seite berührt hätte. Selena hielt sich im Sattel, und Helena hörte ihr Lachen, als sie hinter einer Wegbiegung verschwand.

Die Fröhlichkeit der Prinzessin war verflogen, und auf einmal wurde ihr traurig zumute. Sie ließ Falada im Schritttempo laufen und sah immer wieder ins Dickicht des Waldes, weil sie versuchte, Selenas Gedanken zu erraten. Was sollte dieses dumme Draufgängertum? Dem Roten hatte das doch sicher wehgetan. Und was sollte das heißen – »der letzte Tag in Freiheit«, wenn diese doch, im Gegenteil, gerade erst begann? Mit solcherlei Gedanken ritt sie weiter, als sie wieder das Getrappel von Pferdehufen vernahm. Die Zofe kam zurück, in ihrem müden Gesichtsausdruck schwang Unwille mit.

»Warum hast du das Rennen abgebrochen?«, fragte sie.

»Ich habe es nicht abgebrochen«, antwortete die Prinzessin. »Du warst tatsächlich schneller als wir. Falada ist nicht hinter dem Roten her gekommen, du hast gewonnen.«

»Na, also! Hier hast du!« Selena reichte der Prinzessin ein kleines Ledersäckchen. »Das ist für die königliche Tafel.«

Die Prinzessin band das Säckchen auf, und ein toter Vogel fiel heraus. Es war ein kleiner Birkhahn, kein Junges mehr, doch auch noch nicht ausgewachsen.

Helena wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Wofür soll das denn sein? Wir haben doch genügend Vögel am Hof«, meinte sie unsicher.

»Du Dummerchen, warum verstehst du das denn nicht?« Selena kniff die Augen zusammen. »Es muss doch ein richtiger Sieg sein. Ich habe das getan, wozu du niemals imstande wärst, auch wenn du den Wind auf deiner Seite hast.« In diesem Moment sprach Falada:

»Ja, du bist als Erste ins Ziel gekommen, doch blutbefleckt und mit einem bezwungenen Vögelchen, das noch nicht einmal wusste, was es bedeutet zu leben. Sag, genießt du deinen Sieg?«

»Dein Pferd kann einem richtig die Laune verderben!« Selenas Miene verdüsterte sich. »Merkst du denn nicht, dass er immer zwischen uns steht, weil er mich deiner nicht für würdig hält?«, stieß sie aus und strebte wieder dem Schloss entgegen. Falada und die Prinzessin ließ sie hinter sich zurück.

Falada schwieg. Er allein hatte die feinen roten Blutspuren auf der bräunlichen Flanke des Roten und die klaffende Wunde gesehen, die ihm die spitzen Sporen zugefügt hatten. Doch was hätte er dazu noch sagen sollen?

Kurz darauf bat die Königin Helena tatsächlich in das Empfangszimmer, um ihr eine ungeheure Neuigkeit mitzuteilen: die Verlobung der Prinzessin. Ihr Vater, der verstorbene König, hatte sie bereits vor langer Zeit dem Sohn seines Waffengefährten im Nachbarreich versprochen. Dieser König war schon alt, und es war für den Prinzen an der Zeit zu heiraten und die Bürde der Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die Prinzessin war verwirrt, doch sie verspürte keinerlei Angst. Der Eintritt ins Erwachsenenleben war ihr noch so weit entfernt und unerreichbar erschienen, fast wie in einem Märchen. Und nun so eine unerwartete Wendung!

 
Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?