Mitten im Steinschlag

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Mitten im Steinschlag
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Inhaltsverzeichnis

Impressum 2

1. Kapitel 3

2. Kapitel 10

3. Kapitel 20

4. Kapitel 31

5. Kapitel 46

6. Kapitel 54

7. Kapitel 66

8. Kapitel 72

9. Kapitel 80

10. Kapitel 86

11. Kapitel 98

12. Kapitel 113

13. Kapitel 123

14. Kapitel 134

15. Kapitel 138

16. Kapitel 143

17. Kapitel 150

18. Kapitel 159

19. Kapitel 164

20. Kapitel 173

21. Kapitel 187

22. Kapitel 194

23. Kapitel 210

24. Kapitel 220

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2021 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99107-714-5

ISBN e-book: 978-3-99107-715-2

Lektorat: Laura Oberdorfer

Umschlagfoto: Irina Kharchenko, Tomert | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

1. Kapitel

Fröhlich hopste Lily im Nachthemdchen mitten durch die Tischlerwerkstatt ihres Vaters.

„Lily“, rief ihre Mutter mit gereizter Stimme. „Bleib jetzt endlich stehen!“

Die Angesprochene sprang jauchzend in die große Kiste, mit den Holzspanabfällen.

„Lass sie nur. Ich hole sie da raus, ziehe ihr das Kleidchen an und fege die Sauerei wieder zusammen“, sagte Daniel belustigt. Susan nickte dankbar, während sie die letzte Falte aus ihrem Kleid strich. Ihr Gatte Philip steckte ebenfalls im Sonntagsstaat, in dem er sich sichtlich keineswegs wohl fühlte.

„Zum Mittagessen sind wir wieder zurück.“ An Lily gewandt, die noch immer in der Holzkiste saß und nun mit Freuden die Späne mit ihren kleinen ungeschickten Händchen in der Werkstatt verteilte, mahnte sie eindringlich:

„Mach keine Dummheiten, während wir weg sind. Hast du verstanden?“ Die Kleine hielt in ihrem Tun inne und nickte artig.

Es war Sonntag und Susan und Philip mussten sich wenigsten einmal im Monat in der alten Dorfkirche zum Gottesdienst sehen lassen.

Philip war ein sehr angesehener Möbeltischler. Obwohl er mit seinen vierundzwanzig Jahren recht jung war, verstand er sich ausgezeichnet auf die Anfertigung und Restauration von Kunstmöbeln. Seine Kundschaft kam somit aus allen Gesellschaftsschichten.

Im Dorf war die Familie gern gesehen, den Besuch in der Kirche betrachtete man daher als selbstverständlich. Und wo viele Menschen zusammenkamen, konnte man Aufträge ergattern, so Philips Geschäftsdevise.

Die Werkstatt befand sich außerhalb des Dorfes, abgelegen vom Trubel am stillen Waldesrand.

Für die vierjährige Lily, die eigentlich Liliana hieß, war das recht unpraktisch, wie sie fand.

Spielgefährten gab es nur im Dorf und da durfte sie allein nicht hin. So musste Lily sich bisweilen gedulden, bis irgendein Kunde ihres Vaters seinen „Filius“ zum Spielen mitbrachte.

Geduld hatte der kleine Wirbelwind aber ganz und gar nicht. In Daniel, dem Angestellten ihres Vaters, hatte sie einen Verbündeten gefunden, denn der war bei jeder von Lilys ausgeheckten Schandtaten nur allzu gerne dabei.

Daniel, ein Jahr jünger als Philip, lebte seit mehreren Jahren in der Tischlerei. Er hatte sich eine kleine Abstellkammer im Dachgeschoss als Schlafkammer hergerichtet. Neben seiner Arbeit kümmerte er sich in seiner Freizeit um das quirlige Töchterchen seines Arbeitgebers.

Philip und Daniel waren Freunde seit Kindesbeinen an. Der Vater Philips betrieb die Schlossmöbeltischlerei auf Corlens Castle. Schon früh interessierte sich der kleine Philip für das Handwerk seines Vaters. Stundenlang sah er seinem Vater interessiert bei der Arbeit zu, später durfte er an einfachen Stücken selbst Hand anlegen, sich ausprobieren, üben und sein erworbenes Können perfektionieren.

Als aufgeweckter Junge stromerte er entgegen den Verboten seines Vaters leidenschaftlich gern auf dem Schlossgelände herum. Es war daher nicht verwunderlich, dass er Daniel traf, der sich ebenfalls so oft es ging abenteuerlustig herumtrieb und jede Etikette seines Standes brach, um den Drangsalierungen seines Vaters, dem König und Herrscher des Landes, auszuweichen.

Daniel war der Thronfolger von Corlens Castle, was ihn in keinster Weise davon abhielt, sich mit dem einfachen Volk abzugeben. Im Gegenteil: Zwischen Dienstboten, Küchenfrauen, Pferdeknechten und Hilfspersonal fühlte er sich frei und zufrieden.

Die Konsequenzen, die auf seine unerhörten Ausflüge folgten, waren ihm schlichtweg egal.

Der König missbilligte das Verhalten seines Sohnes aufs Schärfste, was er immer wieder „schlagfertig“ zum Ausdruck brachte.

Natürlich waren die Angestellten im Bilde, wer ihnen da um die Beine summte. Doch Daniel war von klein auf durch seine Unvoreingenommenheit und Natürlichkeit bei den Schlossangestellten beliebt. Er kannte keine Standesunterschiede und als man schließlich versuchte, ihm entsprechendes Benehmen „einzubläuen“, verschlug es ihn nur noch mehr in die Gegenwart des einfachen Volkes.

Später wurde der aufgeweckte Junge ernster und unergründlicher in Verhalten und Auftreten. Die besten Lehrer unterrichteten ihn, er galt als hochintelligent.

Vieles von seinem Wissen gab er an Philip weiter, der nur bedingt die Möglichkeit hatte, eine Dorfschule besuchen zu können. Da es für den König als auch für Daniels Lehrer und Erzieher immer offensichtlicher wurde, dass der Junge weiterhin kräftigen Widerstand gegen die Normen, die einem Thronfolger auferlegt wurden, leistete, schickte man ihn kurzer Hand in ein streng geführtes Eliteinternat, weit weg von Corlens Castle.

Den fleißigen Tischlermeister und dessen Sohn verwies man aus dem Schloss. Nach Daniels Rückkehr fand er Philip durch die Mithilfe der Schlossangestellten wieder. Philips Vater hatte eine heruntergekommene Werkstatt gepachtet und versuchte sich dort zu etablieren.

Doch das Geld fehlte an allen Ecken und Enden, sodass Vater und Sohn ein recht ärmliches Dasein fristeten.

Empört über das unsägliche Verhalten des Königs, kaufte Daniel die Werkstatt und überschrieb sie kurz entschlossen an Philip. Durch die Einsparung des hohen Pachtzinssatzes und die Vermittlung lukrativer Aufträge durch Daniels Einfluss, sanierte sich die Tischlerei zügig.

Irgendwann war Daniel der Tyranneien und Demütigungen seines Vaters überdrüssig, sodass er sich seiner Pflichten als Thronerbe entzog und in die Tischlerei zu Philip floh.

Daniel ließ sich von Philip zum Möbeltischler ausbilden. Die Arbeit lag ihm und füllte sein Leben so aus, als hätte es nie ein anderes gegeben. Die Männer verstanden sich bestens. Philip lernte von Daniel und Daniel von Philip.

Hin und wieder besuchte er seine Mutter, die Königin. Dazu nutzte er ein Wirrwarr an Geheimgängen, die das Schloss umgaben und die er mit Philip im Kindesalter ausfindig gemacht hatte.

Königin Margaret versorgte indes ihren Sohn mit Informationen, über die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Landes, sowie über anstehende Pläne des Königs und seines aufstrebenden und jüngsten Sohnes Damian, welcher im Charakter und in seiner perfiden Entschlossenheit ganz den Wünschen seines Vaters entsprach.

Die Sorgen und Nöte im Land nahmen stetig zu.

Daniel und Philip entschlossen sich irgendwann, eine Untergrundbewegung zu gründen. Philip als aktives, Daniel als passives Mitglied. Mit überaus fähigen Anhängern hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, An- und Übergriffe auf Dorfbewohner und Bauern durch die Schergen des Königs zu zerschlagen.

 

Obwohl Daniel hinlänglich über die Situation im Lande unterrichtet war, so war es ihm dennoch unmöglich, in irgendeiner Form in Erscheinung zu treten, um selbst an den Handlungen der Untergrundbewegung teil zu nehmen. Einerseits würde seine Fechtweise, die nur er beherrschte, auffallen und ihn verraten. Andererseits hatte der König ein hohes Kopfgeld auf ihn ausgesetzt.

Später klagte man den Thronfolger des Hochverrates am Königshaus an. Man durchsuchte das ganze Land und drohte jedem, der dem Kronprinzen in irgendeiner Form half, mit Kerker und Tod.

So blieb Daniel nichts weiter übrig, als Philip mit Informationen aus dem Schloss zu versorgen und am Leben zu bleiben, solange es ging. Er musste im Verborgenen bleiben, bis irgendwann seine Zeit kommen würde.

Daniel hatte die zappelnde Lily aus der Spankiste gehoben, sie gesäubert und in ihr Kleidchen gesteckt. Die Hobelspäne waren schnell wieder zusammengefegt. Lily blieb nicht untätig. Flink hatte sie einen Pinsel ergriffen, ihn in ein halb verschlossenes Farbglas getaucht und stillschweigend ein frisch gehobeltes Holzbrett damit bemalt. Die trügerische Ruhe in der Werkstatt machte Daniel stutzig. Als er die letzten Späne in die Holzkiste geschüttet hatte und sich nervös zu Lily umdrehte, hatte die ihr Kunstwerk schon fast beendet. Skeptisch betrachtete sie ihre Arbeit.

„Wie malt man einen Hasen?“, fragte sie lispelnd.

Daniel zuckte ratlos die Schultern.

„Vielleicht so?“ Mit Lilys beschmiertem Pinsel malte er einen Hasen, der auch eine Katze oder ein Hund mit langen Ohren hätte sein können, auf das Holzbrett. Den Kopf schief haltend, betrachteten nun beide aufmerksam das Gemälde.

Lily war zufrieden. Flugs sauste sie aus der Werkstatt, geradewegs in den Garten.

Mit einem Hobel bewaffnet machte sich Daniel daran, das Kunstwerk vom teuren Mahagoniholzbrett zu entfernen. Danach wurden alle andern Farbspuren der vorangegangenen Missetat beseitigt.

Dunkle Wolken hatten den Himmel verfinstert. Von Weitem war Donnergrollen zu vernehmen. Daniel befürchtete, dass es jeden Moment zu regnen beginnen würde. Er fand Lily vergnügt spielend auf dem Komposthaufen im Garten. Flink schnappte er sich das kleine Mädchen, legte einen Arm um die Hüfte des vor Freude quietschenden Kindes und trug es waagerecht unter seinen Arm geklemmt ins Haus.

Bevor sich Susan auf den Weg in die Kirche gemacht hatte, hatte sie den Mittagstisch gedeckt. Lily setzte sich geschwind auf ihren Platz, öffnete ihre kleinen Fäustchen und ließ eine ansehnliche Anzahl Schnecken, die sie auf dem Kompost aufgesammelt hatte, auf den Teller ihres Vaters kullern.

Daniel setzte sich neben das Kind, um dem Schauspiel, welches sich nun anzubahnen schien, gespannt zusehen zu können.

Ihn faszinierte es immer wieder aufs Neue, wie Lilys kleine, ungeschickte Fingerchen oft nicht das taten, was ihre Besitzerin von ihnen verlangte.

Die ersten Schnecken streckten neugierig ihre Köpfe aus dem Kalkgehäuse, bevor sie zaghaft ihre Fühler ausrollten. Entschlossen schoben sich die Tierchen träge über den Tellerrand. Von dort verteilten sie sich über den gesamten Küchentisch. Es wurden Wetten abgeschlossen, welches Tierchen als erstes das Besteck von Lilys Mutter erreichen würde.

Gespannt feuerte Lily eines der träge dahin kriechenden Tierchen, das sie als ihren Favoriten ausgewählt hatte, an. Als es nun aber am spannendsten wurde, musste das Spiel abrupt abgebrochen werden. Daniel hatte unvermittelt zur Uhr gesehen und war erschrocken.

„Oje, deine Mutter wird verrückt, wenn sie das hier sieht.“ Besorgt sah er auf den sonntäglich gedeckten Tisch, der nun so gar nicht mehr sonntäglich aussah.

„Hältst du dicht?“, fragte er das Kind. Die Kleine rümpfte verschwörerisch die Stupsnase.

„Jawohl“, sagte sie entschieden.

„Dann sause los und wasche dir die Finger. Ganz fix, ja!“ Lily fegte wie ein Wirbelwind aus der Küche, die Händchen voller Schnecken, welche sie vom Küchentisch aufgesammelt hatte. Flugs schüttelte sie die Tierchen über Susans fein säuberlich angelegtes Salatbeet aus, bevor sie sich brav die klebrigen und schmutzigen Hände in der Regentonne wusch. Daniel begann eilig den Tisch vom Schneckenschleim zu befreien. Von draußen hörte man bereits Philips und Susans Stimmen. Susan war eine liebevolle, aber ebenso resolute und energische Person, die sich sprichwörtlich gesagt „Die Butter nicht vom Brot nehmen ließ“. Da keine Zeit mehr war, die Teller gegen frisch gewaschene auszutauschen, wischte Daniel mit dem Abwaschlappen einfach die schleimträchtigen Teller und das Besteck ab. Er hatte gerade noch Zeit, den Lappen ungesehen verschwinden zu lassen, als auch schon die Tür aufging.

Unschuldig blickend saß Lily auf ihrem Stuhl.

„Gibt es heute Nachtisch?“, fragte sie mit Piepsstimme die Mutter. Susan befreite sich vom Sonntagsstaat. Während sie sich die Schürze umband, blickte sie sich prüfend im Zimmer um. Da sie nichts Auffälliges bemerkte, wandte sie sich ihrer fragend guckenden Tochter zu. „Keinen Unsinn gemacht?“

Lily schüttelte heftig verneinend den Kopf. Susans nächste Frage galt Daniel.

„Keinen Unsinn gemacht?“

Auch er schüttelte mit bester Unschuldsmiene den Kopf. Dass die beiden Gefragten die Finger auf dem Rücken gekreuzt hatten, sah nur Philip, der amüsiert in sich hineinlachte.

„Es gibt Nachtisch“, beantwortete Susan nun die Frage ihrer Tochter.

Dass allerdings Philip das Nachsehen beim Essen hatte, erfuhr er nie. Sein Teller war der einzige, den Daniel in aller Eile vergessen hatte, vom Schneckenschleim zu befreien.

2. Kapitel

Susan räumte den Frühstückstisch ab.

„Macht euch endlich los, ihr stört mich hier gewaltig. Das Ahornholz kommt nicht von allein in die Werkstatt.“ Unwirsch schob sie die beiden Männer aus der Küche.

„Na gut, satteln wir die Pferde und gehorchen der lieben Ehefrau“, sagte Philip grinsend.

Lily kam in den Pferdestall gelaufen. Ihr frisch angezogenes Kleidchen wies eine gehörige Anzahl hellroter Himbeerflecken auf.

„Lily will auch mit!“, sagte sie mit Piepsstimme und blickte auffordernd von ihrem Vater zu Daniel und wieder zurück.

„Spätzchen, du kannst nicht mitkommen“, sagte Philip.

„Dad muss arbeiten. Wir spielen, wenn ich zurück bin, versprochen.“ Lily verschlang schmollend die Arme vor ihrer Brust.

Ihre Unterlippe begann gefährlich zu zittern, während das erste Tränchen aus ihren Augen kullern wollte.

Daniel ließ sich schließlich erweichen. Ohne jegliche Vorwarnung schnappte er sich die Kleine und setzte sie auf den gesattelten Rücken seines Pferdes.

„Du hältst dich jetzt schön am Sattel fest und dann darfst du da oben ganz allein einmal um das Haus reiten“.

Während Daniel die Zügel in die Hand nahm und das Pferd langsam und bedächtig um das Gebäude führte, jauchzte die Kleine ausgelassen.

Philip sah lächelnd seiner Tochter nach. Wieder im Stall angekommen, nahm Daniel Lily sachte vom Pferd, um sie auf einen Strohballen zu setzen.

„Das war aber schön“, lispelte sie strahlend.

„Nun bist du aber schön lieb und wartest geduldig, bis wir zurückkommen. Versprochen?“

Lily nickte schelmisch, hüpfte vom Stroh und trollte sich in den Garten.

„Nun aber schnell weg, bevor sie vielleicht mit einem toten Regenwurm zurückkommt und von uns die Todesursache wissen will“, sagte Philip grinsend.

Flugs machten sich die Männer auf den Weg. Als sie sich auf freiem Felde befanden, sagte Daniel zu Philip:

„Morgen Mittag sollen zusätzliche Steuergelder in Huntington eingetrieben werden.“

„Warst du heute Nacht im Schloss? Wir haben dich gar nicht aus dem Haus gehen gehört.“

„Ja. Das Dorf ist recht klein. Eine Handvoll Männer sollte reichen.“

Nach einer kurzen Pause sagte Philip ernst:

„Bist du sicher, dass die nicht mit einer ganzen Horde bewaffneter Soldaten anrücken?“ „Absolut. Man erwartet keine Gegenwehr.“

„Danke. Ich werde es heute Nacht weitergeben und gezielte Gegenmaßnahmen einleiten“, sagte Philip kühl. Damit war das Gespräch beendet, denn sie kamen nun in eine leicht bewaldete Gegend, wo es hinter jedem Baum und Strauch Zuhörer geben könnte.

„Was machen wir, wenn der Holzlieferant wieder kein Ahorn vorrätig hat, selbst fällen?“

„Ich hoffe, er hat. Wenn wir beim Schwarzfällen erwischt werden, dann gnade uns Gott!“

Daniel erwiderte skeptisch:

„Na, ob der uns helfen kann, bezweifle ich. Der Auftrag für das Nähschränkchen muss in zwei Wochen raus. Uns wird wohl nichts anderes übrigbleiben, als im Notfall selbst zu fällen oder du zahlst eine satte Vertragsstrafe.“

Abrupt brachte Daniel sein Pferd zum Stehen.

„Was ist?“, fragte Philip leise, während auch er in die Zügel seines Pferdes griff.

„Ich habe etwas gehört“, antwortete Daniel lauschend.

„Lass uns nachsehen.“

Lauernd glitten sie von den glatten Pferderücken. Im Schutz von Buschwerk und Gestrüpp schlichen sie lautlos in die Richtung, aus welcher sie die entfernten Geräusche zu hören glaubten. Metall schlug auf Metall, eine Frau keuchte wütend und schroffe Männerstimmen störten die Ruhe zwischen Vogelgezwitscher und Grillenzirpen.

Plötzlich zog Philip seinen Freund hinter ein niedriges Nadelgehölz und zeigte wortlos mit einer Kopfbewegung nach rechts.

Drei grobschlächtig aussehende Männer bedrängten zwei junge Reiterinnen, die ihrer Reitkleidung zur Folge aus gutem Hause zu kommen schienen. Was sie von den Mädchen wollten, war durch ihre anmaßende, obszöne Wortwahl klar ersichtlich. Die Hübschere der Mädchen war bis an die Zähne bewaffnet. Sie schlug sich stolz, energisch und effektiv. Sie schien keinerlei Probleme zu haben, sich die dreisten, gierig sabbernden Kerle vom Hals zu halten. Die etwas Kleinere und Zierlichere der beiden, war weniger gut im Fechten gewandt und drohte ihrem Angreifer zu unterliegen. Hilfesuchend rief sie nach dem anderen Mädchen, als sie mehr und mehr in die Enge getrieben wurde. Diese reagierte blitzschnell. Mit einem gekonnten Hieb entwaffnete sie ihren Gegner. Ihm blieb keine Zeit, den ihm entrissenen Degen wieder an sich zu bringen. Blitzschnell hatte sie die Pistole aus dem Gürtel ihrer Reithose gezogen und ihren Gegner erschossen. Ein zweiter Schuss fiel.

Der Getroffene kippte mit weit aufgerissenen Augen nach vorn.

„Lauf zum Pferd und verschwinde Lizzy!“ Die Angesprochene zögerte einen Moment. Das zur Hilfe geeilte Mädchen stellte den feist grinsenden Kerl und bot ihm gebührend Paroli, während die mit „Lizzy“ angesprochene Frau auf ihr Pferd sprang und wie von Sinnen vor Angst davonjagte.

Daniel sah, dass sie durch ihre panische Handlungsweise die Kontrolle über das Tier verloren hatte und blindlings durchs Gebüsch und an Bäumen vorbeiraste.

Das Drama hatte sich innerhalb weniger Minuten zugetragen, sodass die Männer nach kurzer Sondierung der Sachlage keine Zeit gefunden hatten, in das Geschehen hilfreich eingreifen zu können.

Doch nun war Reaktion gefragt. Philip schnellte aus dem Buschwerk, um dem wild, aber kontrolliert kämpfenden Mädchen Beistand leisten zu können, während Daniel zurück zu seinem Pferd rannte und dem anderen Mädchen beritten hinterherjagte.

Daniel war noch nicht weit gekommen, als er eine grazile Frauengestalt bewegungslos unter einer weit ausladenden Kastanie liegen sah.

Wachsam um sich blickend näherte er sich dem hilflosen Mädchen. Auf ihrer Stirn prangte eine riesige, hellblau angelaufene Beule. Gekonnt tastete er nach ihrem Pulsschlag. Sie lebte. Vorsichtig hob er ihren Kopf an. Gequält öffnete sie die Augen.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte er ruhig.

„Keine Angst, ich tue dir nichts“, fügte er hinzu, als er sah, dass sie angsterfüllt die Augen aufriss.

„Mir ist übel und mein Kopf …“, weiter kam sie nicht, da sie sich furchtbar erbrechen musste.

Daniel legte beruhigend seine warme Hand auf ihre von kaltem Schweiß bedeckte Stirn.

Suchend sah er sich nach Philip um.

Als Philip kurze Zeit später das stöhnende Mädchen im Gras liegen sah, den Kopf durch Daniels Hand gestützt, meinte er stirnrunzelnd:

„Aua, der geht’s aber gar nicht gut!“

„Wir werden sie wohl mitnehmen müssen. Siehst du irgendwo ihr Pferd?“ Philip blickte in alle Richtungen.

 

„Der Gaul grast da hinten gemütlich. Ich hole mal das liebe Tierchen.“

Rasch kehrte er mit dem Pferd zurück. Das benommene Mädchen wurde zu Daniel auf das Pferd gehoben.

„Was ist mit der anderen?“, fragte Daniel seinen Freund.

„Die ist noch mit einem der Angreifer beschäftigt. Mich hat sie angepöbelt und gesagt, ich soll machen, dass ich wegkomme. Sie sei gerade so schön in Übung. Na, da habe ich eben gemacht, dass ich wegkomme. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mich mit der anzulegen. Vermutlich hätte die mich auch noch erledigt.“ Philip grinste verlegen.

„Die hier muss jedenfalls schnellstens von hier weg und in die Waagerechte“, erwiderte Daniel besorgt auf seinen Schützling blickend.

Das halb bewusstlose Mädchen wurde in Daniels Zimmer gebracht und von Susan ins Bett gelegt. Hilflos ließ sie alles mit sich geschehen.

„Die Kleine hat eine ordentliche Gehirnerschütterung, ansonsten hat sie nur ein paar blaue Flecken“, meinte Susan unvermittelt.

„Was zum Teufel habt ihr mit ihr angestellt?“

Mit gefährlich blitzenden Augen sah sie Philip und Daniel an.

„Wir erstmal überhaupt nichts“, antwortete Philip leicht pikiert.

„Das Pferd ist mit ihr durchgegangen, nachdem vier üble Kerle sie und eine andere Lady bedrängten. Nach dem Horn auf ihrer Stirn zu urteilen, muss sie in vollem Galopp gegen einen tiefhängenden Ast gerauscht sein.“

Susan schnitt energisch das Gemüse für das Mittagessen klein.

„Die Kleine braucht mindestens zwei Tage Bettruhe“, sagte sie bestimmt.

„Wisst ihr, wer sie ist?“ Philip antwortete mit einem entschiedenen: „Nein!“

„Doch“, sagte Daniel ernst.

„Ich brauche etwas zum Schreiben und einen absolut verlässlichen Botenjungen.“

Mit diesen kurzen Worten nahm er sich, was er brauchte, setzte sich an den Tisch und schrieb. Susan und Philip sahen sich verblüfft an, fragten aber nicht weiter, da es ihnen im Moment zwecklos erschien.

Der Botenjunge war schnell geholt. Das versiegelte Schriftstück wurde ihm ausgehändigt, dazu ein angemessener Lohn, welcher sich verdoppeln sollte, wenn der Auftrag zufriedenstellend ausgeführt war. Das Schreiben musste umgehend zu Lenox Castle gebracht werden.

„Kannst du uns jetzt mal aufklären?“, fragte Philip etwas ungehalten. Er hasste es, den Unwissenden abgeben zu müssen.

„Ich habe eine Nachricht an Lenox Castle geschrieben, um denen mitzuteilen, dass Prinzessin Lizzy leicht verletzt, aber in Sicherheit ist und bla, bla, bla.“

„Wer bitte ist die Kleine?“, Susan sah erschrocken auf.

„Woher weißt du das?“, fragte Philip erschrocken.

Daniel seufzte schwer.

„Ich habe das andere Mädchen erkannt und da diese hier mit Lizzy angeredet wurde, kann das ja dann wohl nur die jüngere Schwester sein.“

Philip hatte sich wieder gefasst. „Hoffentlich erfährt niemand, dass die Kleine unter unserem Dach ist. Deine Sippe würde sich alle zehn Finger ablecken, wenn sie die Prinzessin in ihre Hände bekämen.“

„Warum sollten sie. Ich tobe doch hier auch lustig durchs Haus!“

„Habe ich ganz vergessen in der Aufregung.“

„Vernünftig“, kam es von Daniel lässig zurück.

„Ich fürchte nur, wir müssen nun noch einmal los, denn Ahornholz haben wir immer noch nicht.“ Philip seufzte, bevor er erneut sein Pferd bestieg, um mit Daniel auszureiten.

Müde öffnete die Patientin die Augen. Mit hilflosem und scheuem Blick sah sie um sich. Sie konnte sich weder daran erinnern, was geschehen war, noch wo sie sich befand. Ängstlich starrte sie den jungen Mann an, der auf der Bettkante saß und sie besorgt ansah. Noch nie hatte sie in so ein wundervolles, gutaussehendes Gesicht eines Mannes gesehen. Sie errötete verlegen.

„Wo bin ich? Wie komme ich hierher? Was ist passiert?“, sprudelte es aus ihr verzweifelt heraus. Gleichzeitig versuchte sie sich aufzurichten, doch pochende Schmerzen ließen ihren Kopf unter leisem Stöhnen wieder in die Kissen sinken.

Kurz und knapp berichtete Daniel über die vorangegangenen Ereignisse des Vormittages.

Unvermittelt wurde das Mädchen erneut von Angst ergriffen.

„Mein Vater, meine Schwester, sie werden sich unendlich sorgen und mich suchen. Ich muss weg …!“

Daniel hielt es für angebrachter, die leicht Verängstigte mit einem vertrauensvollen „Du“, statt mit der schicklichen Anrede anzusprechen.

„Ich habe sie umgehend informiert. Du hast im Schlaf deinen Namen gesagt“, log er der Not gehorchend.

Sie wurde etwas ruhiger. „Du musst dich nicht sorgen, du bist hier in Sicherheit. Es ist wichtig, dass du dich ausruhst, dein Kopf hat ein bisschen was abbekommen. In etwa drei Tagen werden wir dich nach Hause bringen können.“

Daniel lächelte sie sanft an.

„Oje“, ging es Lizzy durch den Kopf. Ihr Herz würde bei diesem umwerfenden Lächeln stehen bleiben. Was war nur los mit ihr. „Der Kopf, es ist nur der Kopf“, dachte sie verstört. Das wird es sein.

Daniel nahm kurz ihre Hand in die seine.

„Du solltest versuchen zu schlafen.“

Gehorsam schloss sie die müden Augen. Erst als ihr Atem ruhig und gleichmäßig ging, ließ er ihre zarte Hand los. Während sie schlief, betrachtete er sie eingehend. Lizzy war bei weitem nicht so hübsch anzusehen, wie ihre energische Schwester. Doch ihr zartes, sanftmütiges und liebreizendes Wesen strahlte eine Natürlichkeit aus, die Daniel unwillkürlich fesselte und sein Herz aus dem Takt brachte.

Sein harter Verstand siegte über sein Herz. Abrupt löste er sich von ihrem Anblick.

Minuten später war er tief in die aufwendigen Intarsienarbeiten eines Nähschränkchens für Lord Murrays extrovertierte Frau versunken.

Lily spurtete laut vor sich her singend in die Werkstatt.

„Dad soll in die Küche kommen, ganz fix hat Mum gesagt.“

„Sag ihr, ich kann jetzt nicht.“

„Mum hat aber gesagt, jetzt.“

Philip sah die lustig vor sich hin trällernde Lily gereizt an.

„Noch mal. Ich habe jetzt keine Zeit!“

Daniel sagte beschwichtigend:

„Lass nur. Der Fischleim muss sowieso erst aushärten, bevor ich weiter machen kann. Ich gehe schon.“ Philip nickte erleichtert, während sich Lily kopfüber und lauthals kreischend in die mit Hobelspänen gefüllte Abfallkiste plumpsen ließ.

„Wieso hat mein Gatte schon wieder keine Zeit? Er hat mir versprochen, das abgeerntete Erbsenbeet umzugraben. Die Erde ist dort fest wie Stein. Da soll ich mich doch wohl nicht mit herumquälen. Wozu habe ich einen Mann, frage ich dich? Wird das etwa wieder nichts oder was!“ Aufgebracht warf sie ein Holzscheit in den Herd. Daniel fingerte eine der Himbeeren vom frisch belegten Tortenboden, während Susan wütend in der halbfertigen Kartoffelsuppe rührte. Ungerührt sich die klebrigen Finger ableckend sagte Daniel:

„Dein Gatte trägt mehrschichtig Schellack auf, da ist nichts mit zwischendurch Beete umgraben. Ich habe gerade Zeit, also grabe ich, wenn es der Dame des Hauses recht ist.“

Susan knurrte irgendetwas unverständliches, als Daniel munter die Küche verließ, um sich in den Garten zu trollen.

Susan sah oft nach ihrem hochrangigen Gast. Jedes Mal, wenn sie das Zimmer betrat, fragte Lizzy nach Daniel, der so oft seine Zeit es zuließ, ihr Gesellschaft leistete.

Lizzy fühlte sich mehr und mehr zu ihm hingezogen. Er strahlte trotz seines ernsten und überlegten Gesichtsausdrucks eine vertraute Wärme aus, die sie in seinen Bann zog.

Unendlich war sie ihm dankbar, dass er die Nacht in dem alten, abgenutzten und recht unbequemen Sessel unter dem Fenster verbrachte und sie nicht in dem fremden Zimmer allein ließ. Sicher schickte sich so etwas nicht, aber Lizzy fühlte sich unendlich einsam und verlassen, wenn er nicht in ihrer Nähe war.

Ihrem Kopf ging es allmählich besser. Die Beule auf ihrer Stirn war nach stundenlangem Kühlen merklich kleiner geworden. Susan versuchte es ihr so bequem, wie möglich zu machen, hielt jedoch eine gewisse Distanz zu Lizzy, da sie nicht wusste, wie sie sich richtig einer so hoch gestellten Persönlichkeit gegenüber verhalten sollte. Dabei halfen ihr auch keineswegs Lizzys offenherzige Art und ihre dankbaren Blicke.

Bei Daniel war das etwas völlig anderes. Er wohnte seit Jahren bei Philip, als dessen Freund und gleichzeitig als dessen Angestellter in der Tischlerei.

Ihn lernte sie als einfachen Möbeltischler mit all seinen Vorzügen und Schwächen kennen, als Philip sie damals ins Haus brachte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, dass Daniel irgendetwas anderes in seinem Leben war als ein einfacher Mensch aus ihrer Gesellschaftsschicht. Einfach, normal, angepasst und unauffällig. Erst nach der Hochzeit mit Philip offenbarte dieser ihr irgendwann ganz beiläufig, welchen Status Daniel eigentlich besaß. Sicher war sie schockiert gewesen und dachte an einen schlechten Witz von Seiten ihres Gatten. Philip beteuerte, ihr die Wahrheit gesagt zu haben und klärte sie über die Gefahren, die dieses Wissen mit sich brachte, auf.

Kurze Zeit gab sie sich Daniel gegenüber verhalten. Respekt und Ehrfurcht hemmten sie daran, Daniel natürlich gegenüber zu treten. Daniel merkte und ahnte nichts davon, was ihr sehr gelegen kam. Da aber das Leben im Haus völlig normal weiterging, konnte Susan schnell die enormen Standesunterschiede, die zwischen ihr, Philip und Daniel bestanden, ignorieren und irgendwann vergessen.

Obwohl Susan eine starke Frau war, so fiel es ihr oft schwer zu akzeptieren, dass Philip Rebellenführer war und so manche Nacht nicht im Haus war. Wenn sie allein im Bett lag, von Ängsten um ihren Mann geplagt, sehnte sie sich nach einem gewöhnlichen, friedlichen und liebenswerten Alltagstrott. War der Alltag da, dann fühlte sie wiederum ein seltsames Kribbeln auf der Haut, welches ihr unumstößlich anzeigte, dass sie die Gefahr irgendwie auch liebte, die das scheinbar eintönige Leben mit Philip interessant und aufregend machte.