Suche, Zweifel, Liebesglück?

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Suche, Zweifel, Liebesglück?
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Britta Bley

Suche, Zweifel, Liebesglück?

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Impressum neobooks

1. Kapitel

Volle Straßen, hupende, ungeduldige Autofahrer, die einem fast in den Auspuff krochen. Hannah hasste es wie die Pest, ihre Arbeitstage so unentspannt beginnen zu müssen, aber das war wohl eine der Kehrseiten des Großstadtlebens, das sie ansonsten so liebte. Nichtsdestotrotz, an diesem Morgen konnte nur noch ein schneller Sprung ins nahegelegene Starbuckscafé ihre Kollegen vor völlig unverhofften Wutausbrüchen retten. So wie sie sich jetzt gerade fühlte, würde sie dem Erstbesten mit falscher Nase, trotz aller guten Vorsätze, an die Gurgel gehen.

Mühsam bugsierte sie ihr Auto um die viel zu engen Kurven des unübersichtlichen Parkhauses. Sie hatte sich schon oft gewünscht, dem, der es entworfen hatte, zu begegnen, um ihm einmal gehörig die Meinung zu sagen. Das Bedürfnis steigerte sich noch, nachdem sie ihrem geliebten Ford Ka eine unübersehbare Schramme an der Beifahrertür verpasst hatte. Das war an einem ähnlich stressigen Morgen wie diesem passiert, an dem sie eine der schlecht einsehbaren Kurven zu eng genommen hatte. Sie war sich nach wie vor unschlüssig, ob sich die Reparatur noch lohnen würde.

Das war aber eine Problematik, die man als gute Autofahrerin, für die sie sich trotz der Schramme zweifelsfrei hielt, bewerkstelligen konnte. Das größere Problem waren die vielen Mitbewerber um die nur allzu gering bemessene Anzahl von Parkplätzen. Aber zumindest was das anging, sollte sie heute wohl keine Schwierigkeiten bekommen. Schon aus der Ferne erspähte sie den weit und breit einzig freien Parkplatz und hielt im Eiltempo darauf zu, angestachelt durch den ihr entgegenkommenden BMW-Fahrer. Als sie kurz vor ihm in der Lücke zum Stehen kam, trieb ihr dieser kleine Triumph sogar ein Lächeln ins Gesicht.

„Jetzt aber nichts wie los, sonst schaffe ich es nicht mehr mir die kollegenrettende Latte pünktlich vor Arbeitsbeginn zu besorgen“, mahnte sie sich beim Aussteigen und stolperte im Laufschritt auf den Ausgang zu, so schnell das mit solchen Monsterabsätzen eben nur möglich war.

Eigentlich war sie trotz ihrer 30 Jahre eher ein Pulli-Jeans-Typ, aber nachdem sie sich auf der Arbeit deswegen schon so einiges hatte anhören müssen, versuchte sie sich eher dem Klamottenstil ihrer weiblichen Arbeitskollegen anzupassen, wozu eben auch diese Art von Schuhwerk gehörte.

Ein kurzer Blick auf die Uhr ließ sie dann auch, wie geplant, den kleinen Abstecher zum Starbucks einschlagen. Dass sie dabei vor dem ein oder anderen geschäftig wirkenden Mitmenschen ausweichend zur Seite springen musste, war für sie eine Art Frühsport. Elegant schlängelte sie sich, ohne die Tür zu berühren, an einem Mann vorbei und schob sich ins Café. Schon leicht besänftigt inhalierte sie in vollen Zügen den Kaffeeduft. Eine erste Ruhe breitete sich in ihrem Körper aus und würde sie auch eine längere Anstehzeit überstehen lassen. So jemanden wie Hannah, nannte man wohl zu Recht einen Kaffeejunkie.

„Was darf es denn sein?“, riss sie eine altbekannte Stimme von der anderen Seite des Verkaufstresens aus ihren Tagträumen, „Wie immer?“

Mit ihren regelmäßigen Besuchen hatte sie eine wohl etwas zweifelhafte Bekanntheit bei sämtlichen Angestellten erlangt. Auf Joschis Gesicht machte sich ein erwartungsfrohes Grinsen breit. Er gehörte definitiv zu ihren Lieblingsangestellten, was bei dem Lächeln nicht verwunderlich war.

„Ja, bitte!“, antwortete sie und erwiderte sein Lächeln verschmitzt und schon fast gut gelaunt. Wenige Momente später nahm sie den dampfenden XXL Becher ihrer persönlichen Droge, Latte Macchiato mit einem extra großen Schuss Karamell, entgegen und pimpte das Ganze noch mit reichlich Zucker. Während normale Menschen sich vermutlich schon bei der Vorstellung, dieses Zeug trinken zu müssen, angewidert geschüttelt hätten, konnte es Hannah gar nicht süß genug sein.

Ein letzter dankender Blick streifte Joschis Gesicht, ehe sie aus der Tür verschwand.

Zielstrebig nahm sie den gut fünfminütigen Fußweg in Angriff, noch nicht ganz sicher, ob sie heute Lust zur Arbeit hatte. Grundsätzlich mochte sie ihren Job, eine Tatsache, die sie sehr zu schätzen wusste. Nur Montage steckten nicht selten voller Überraschungen und gehörten damit nicht gerade zu ihren Lieblingstagen.

„Mal sehen, was mich heute erwartet“, dachte sie zwischen zwei großen Schlucken ihres süßen Muntermachers, der unglaublicherweise schon langsam wieder zur Neige ging. Im Vorbeigehen warf sie, wie so oft, einen schnellen Blick auf die rechts von ihr stehende Litfaßsäule. Heute allerdings nicht aus beruflichem Interesse, sondern immer noch den zum Geburtstag versprochenen Konzertbesuch, für ihre beste Freundin und Arbeitskollegin Julia, im Hinterkopf habend. Doch alles, was sie musikmäßig mit ihrem geschulten Blick wahrnahm, waren eine Vielzahl etwa 12-jährige Milchbubis, in Reih und Glied aufgestellt, wohl ein Knabenchor, und fünf nur allzu schöne Mittzwanziger mit dem künstlichsten Zahnpastalächeln, was sie je meinte gesehen zu haben. Da brauchte sie wohl gar nicht genauer hinzuschauen, das kam beides mit tödlicher Sicherheit nicht für ihre Zwecke in Frage.

Hannah schritt die letzten Meter auf das gläserne Eingangsportal zu und versenkte ihren mittlerweile gänzlich geleerten Becher mit einem geschickten Wurf im Papierkorb.

Kurz zögernd entschied sie sich für den Fahrstuhl, um in den 4. Stock des imposanten Bürokomplexes zu gelangen. Die Treppe verschmähte sie mit der festen Überzeugung, für diese Uhrzeit schon genug Sport gemacht zu haben. In Verbindung mit einem durchdringenden Läuten öffnete sich die schwere Stahltür im gewünschten Stock. Noch kurz die Schultern gestrafft und damit bereit für den Beginn einer anstrengenden Arbeitswoche.

Als Hannah gleich im Eingangsbereich der Redaktion ihre völlig überkandidelte, in Netzstrümpfe und endlose Stiefel verpackte Kollegin Wiebke traf, hatte sich der Umweg übers Café bereits bezahlt gemacht. Dass auch ein bisschen Neid in ihr aufkam, wenn sie sich die endlosen, superschlanken Beine anschaute, konnte sie leider nicht verhindern.

„Hast du kein gutes Wochenende gehabt Hannah? Du siehst ein bisschen müde aus“, kam die, wenn man es nicht besser gewusst hätte, fürsorglich klingende Frage aus Wiebkes Mund.

Aus diesem Grund erwiderte sie auch nur kurz angebunden und möglichst kühl: „Das täuscht wohl.“

Schnell beschleunigte Hannah ihren Schritt und kehrte Wiebke den Rücken zu, um möglichst umgehend in ein freundlicheres Gesicht blicken zu können. Spontan entschied sie sich, bevor sie sich an ihren eigenen Schreibtisch setzte, den von Julia aufzusuchen, um ihre Laune etwas aufzubessern. In der Redaktion einer erfolgreichen Frauenzeitschrift, mit rund 80 größtenteils weiblichen Angestellten, begegnet einem nicht selten ein falsches Lachen, weswegen Hannah sich umso mehr nach Julias ehrlichem, offenem Gesicht sehnte.

Julia rief schon aus einiger Entfernung: „Hi Hannah! Was ziehst du denn für ein Gesicht? Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen?“

„Das nicht, aber Wiebke“, gab sie, mittlerweile vor dem Schreibtisch stehend und damit ein bisschen diskreter, zurück.

„Lass dich doch nicht so leicht von einer fischnetztragenden Tussi ärgern“, riet Julia augenzwinkernd.

Lachend bemerkte Hannah: „Ist sie dir heute also auch schon begegnet, die Herrin der Fische?“, und fügte mit ein bisschen Wehmut in der Stimme hinzu, „Nicht nur dass einem ihr Anblick bei der Arbeit nicht erspart bleibt, an diesem Wochenende musste ich sie auch noch in meiner Freizeit ertragen. Ich hatte immer gedacht, die Funzel sei Wiebkefreie Zone. Sonst treibt sie sich doch nur in so Schickimicki-Kneipen rum. Wie soll ich je wieder dieses hundertprozentige Wohlbefinden in meiner Lieblingskneipe fühlen können?“

„Findest du dich jetzt nicht auch ein bisschen melodramatisch?“, gab Julia kichernd zu bedenken.

„Du hast gut reden und ja auch noch nicht die ganze Geschichte gehört. Natürlich hatte sie schon wieder einen dicken Fisch im Netz. Hab` selten einen so süßen Kerl in der Funzel gesehen.“

 

„Nun mal halblang, du versinkst ja gleich in deinem Selbstmitleid. Pass lieber auf, sonst muss ich zu deiner Rettung noch Wiebke mit ihrem Netz rufen. Außerdem ist das doch nichts Neues, dass Männer ein bisschen, wie soll ich es ausdrücken, einfacher gestrickt sind?!?“

Wie auf Kommando kam in diesem Moment Benjamin um die Ecke geschossen, legte Hannah seine ihr nur allzu vertraute Hand auf die Schulter und grüßte sie mit den scheinbar hellseherischen Worten: „Na ihr zwei Hübschen! Über wen zerreißt ihr euch gerade das Maul?“

Hannah und Ben, wie er kurz von seinen Freunden genannt wurde, hatten über ein Jahr lang ein äußerst nettes Paar abgegeben. Nur leider hatte Hannah dann festgestellt, dass sein kindlicher Lebensstil nicht ganz altersentsprechend war und mit ihren Zukunftsplänen stark kollidierte. Während sie sich langsam aber sicher an den Gedanken gewöhnen konnte eine feste Bindung mit Trauschein einzugehen und sogar Nachwuchs in die Welt zu setzen, war für ihn existenziell, kein Spiel seines favorisierten Fußballteams zu verpassen und den nächsten Level in seinem jeweils aktuellen Computerspiel zu erreichen. Ja, ein Kind wollte sie, aber keines heiraten. Glücklicherweise ließ sich die Beziehung ohne Rosenkrieg beenden und Hannah und Ben konnten sich auch weiterhin problemlos in die Augen sehen.

Seine aufgeweckten, braunen Augen hatte sie immer besonders schön gefunden, wie sie forsch unter seiner dunklen, vollen Lockenpracht hervorguckten. Manchmal ertappte sie sich noch dabei, wie sie sich tief in seinen Augen verlor und sich nichts sehnlicher wünschte als nur ganz schnell seine weichen Lippen auf den ihren zu spüren. Und das, obwohl die Beziehung bereits ein halbes Jahr zurücklag. Anschließend fühlte sie sich immer ein bisschen erbärmlich.

Bei Hannahs derzeitiger Grundstimmung und dem durch das Gespräch mit Julia entfachten Männerhass, musste er sich jedoch wohl eher weniger vor einer Kussattacke ihrerseits fürchten.

Mit großer Unschuldsmiene antwortete Julia mit einer Gegenfrage: „Hast du mich oder Hannah jemals schlecht über einen anderen Menschen sprechen hören?“, und fügte noch mit einem leicht drohenden Unterton in der Stimme und erhobener Faust hinzu, „Sag die Wahrheit!“.

Ben hob beschwichtigend die Hände und bemerkte solidarisch: „Auf diese Frage möchte ich aus Gründen eines übervollen Schreibtisches zum jetzigen Zeitpunkt lieber keine Antwort geben.“

Unterwürfig schielte er in Julias Gesicht um darin eine Reaktion abzulesen. Als er darin ein selbstzufriedenes, breites Grinsen fand, erweiterte er ihre gemeinsame Inszenierung noch um eine kurze Schlussszene. Im Weggehen wischte er sich hochdramatisch den fiktiven Angstschweiß von der Stirn.

Hannah schaltete sich wieder ein und schlug vor: „Lass uns die Unterhaltung lieber ein anderes Mal ohne Zeugen fortsetzen. Außerdem sollte ich so langsam mal meinen Schreibtisch entrümpeln, um für die nächste Wochenaufgabe Platz zu schaffen.“

„Weißt du schon, was du machen musst?“, hakte Julia interessiert nach.

„Nein! Hab’ absolut keinen Plan. Alle meine Projekte sind abgeschlossen. Werde mich wohl oder übel gleich im Meeting überraschen lassen müssen.“

„Na dann. Drück dir die Daumen, dass du eine spannende Story ergatterst.“

Um dem Gesagten noch Nachdruck zu verleihen, hob Julia beide Hände und drückte mit einem übertrieben angestrengten Gesichtsausdruck die dunkelrot lackierten Finger zu zwei Fäuste. Schon musste Hannah wieder grinsen und machte sich nun endgültig auf den Weg zu ihrem Schreibtisch. Mit leicht geröteten Wangen bahnte sie sich den Weg durch das Großraumbüro, den ein oder anderen fleißigen Arbeitskollegen mit einem leichten Kopfnicken grüßend. Augenblicklich machte sich das schlechte Gewissen in Hannah breit. Sie trug noch ihre dicke Winterjacke, daher wohl auch die gesunde Gesichtsfarbe und hatte noch keinen Handschlag getan. Kaum am Platz, begann sie deswegen auch schon akribisch die hohen Zettelberge zu sichten und wahlweise zu entsorgen oder abzuheften. Ein klein bisschen verstärkte sich die rötliche Gesichtsfarbe noch, als unter all den Bergen eine halb volle Kaffeetasse und ein angebissenes Stück Kuchen zum Vorschein kamen. Schnell und damit möglichst unbemerkt, ließ sie den Teller unter ihrem Tisch verschwinden. Auf halbem Weg zum Papierkorb erstarrte sie in ihrer Bewegung. Ein leichtes Hungergefühl kämpfte gegen die Erkenntnis, dass dieses Stück dem langen Wochenende annähernd schutzlos, lediglich bedeckt von ein paar Notizen, ausgeliefert gewesen war. Die Erkenntnis gewann den Kampf. Mit dem Laut eines aufprallenden Steines traf der Kuchenrest auf den Boden des Papierkorbes.

„Glück gehabt!“, dachte sie erleichtert, „Das hätte mich wohl einen Zahn kosten können.“

Endlich war ihre restlos mit irgendwelchen Telefonnummern und Stichworten bekritzelte Schreibtischunterlage wieder vollständig sichtbar. Während ihre Unterlage auf dem heimischen Schreibtisch noch mit zahlreichen Bildchen übersät war, unterdrückte sie an ihrem Arbeitsplatz das Bedürfnis sich künstlerisch auszutoben bisweilen erfolgreich.

Mit einem guten Gefühl würde Hannah sich nun zum Meeting begeben können, bereit für ihre neue Aufgabe. Als sie nun neben Maike, Kerstin und Wiebke auch Julia und Ben den Konferenzraum ansteuern sah, schwang sie sich auch hoch.

Im Schnitt nahmen etwa 20 der 80 Kollegen aus der Redaktion von Fruitfull an einem Montagmorgenmeeting teil, um z.B. Zwischenergebnisse zu präsentieren und zu diskutieren, Erfolge und Misserfolge zu analysieren oder wie in Hannahs Fall, um neue Aufgaben zu erhalten. Das Magazin erschien im Zweiwochentakt und zielte in erster Linie auf Leserinnen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren ab. Damit gehörten natürlich Artikel über die Themen Stars und Sternchen inklusive Gerüchteküche, Modetrends, Kosmetik, Diäten und Lifestyle zum Herzstück einer jeden Ausgabe. Mit einer Auflage von 750.000 Stück, galt es nicht gerade eine kleine Leserschaft zu erreichen und bei der Stange zu halten. Grundsätzlich war der Titel des Magazins Programm: Von Erfolg gekrönt.

Hannah hatte eigentlich schon zu allen Bereichen erfolgreich Artikel verfasst. Ihre Redaktionschefin Anne war stets mit ihrer Arbeit zufrieden gewesen. Bis auf das eine Mal, als Hannah extra in die Staaten, zur New York Fashion Week, geflogen war, um die neusten Trends designerübergreifend und brandheiß den Leserinnen zu präsentieren. Ihr klangen die damaligen Worte Annes noch heute genau in den Ohren, als diese den Vorabentwurf kritisch inspizierte und zu folgendem, vernichtenden Urteil kam: „Wie schafft man es nur, bei all dem Glanz und Glamour, mit hundertprozentiger Zielsicherheit die wohl nichtssagendsten und unscheinbarsten Outfits auszuwählen?“

Um aus dem verpatzen Artikel noch das Bestmögliche rauszuholen, war ihr Julia an die Seite gestellt worden. Obwohl diese ihr gleich richtig vor den Kopf gestoßen hatte, indem sie Anne die Schuld für das missglückte Ergebnis gab, die sich ja Hannah nur einmal etwas genauer hätte angucken müssen um festzustellen, dass sie nicht die Richtige für diese Art von Journalismus war, war damit der Grundstein einer unerschütterlichen Freundschaft gelegt worden. Und genau diese offene, direkte Art war das, was Hannah mittlerweile so an Julia zu schätzen wusste. Außerdem half ihr Julia seither ihren Kleiderschrank ein bisschen aufzupeppen, was ein sehr angenehmer Nebeneffekt war.

Hannah hoffte, dass sie im Sitzungsraum noch einen Platz neben Julia oder Ben ergattern könnte. Und so war es dann auch. Sie setzte sich zufrieden auf den freigehaltenen Platz zwischen die Zwei und sorgte sogleich für das leibliche Wohlergehen, indem sie sich allen einen Kaffee eingoss. Durch das Heranziehen des Plätzchentellers sicherte sie ihnen auch darauf freien Zugriff, was sie den Frust über das vertrocknete Stück Kuchen langsam vergessen ließ.

„Allen denen ich das noch nicht persönlich gesagt habe, wünsche ich einen wunderschönen guten Morgen“, begrüßte Anne die Anwesenden.

„Von der letzten Auflage Fruitfull ist zu viel liegen geblieben.“, eröffnete sie gleich mit einem unerfreulichen Thema und ernsthaftem Gesichtsausdruck das Meeting, „Wir müssen uns mächtig ins Zeug legen! Das Gute ist, dass die aktuelle Musikwelt ein passendes Titelthema für uns bereithält. Aber darauf komme ich später noch zu sprechen. Zunächst wollen wir unser Augenmerk auf laufende Projekte richten.“

Ein zustimmendes Brummen ertönte aus der Runde. Im nächsten Zug gerieten unter anderem kurz Julias Serie über die künftige Frühjahrsmode und Bens Hausfrauensportbeiträge, wie Hannah sie ein wenig abwertend nannte, in den Blickpunkt. Beides wurde durchgewunken und würde in nahezu unveränderter Form fortgesetzt werden können. Schließlich kam es zum spannendsten Teil - der Verteilung der neuen Aufgaben. Wiebke sollte eine Story über die aktuellen Trends in Sachen Inneneinrichtung schreiben. Ein leichter Stich traf Hannah, die das Thema aus persönlichem Interesse auch gern bekommen hätte. Allerdings bot sich ihr nicht die Zeit darüber nachdenken zu können, da ihr Name bereits im nächsten Moment fiel. Leicht verdattert versuchte sie die Worte, die vor dem Fallen ihres Namens, gesagt worden waren zu rekonstruieren, als Julia ihr auch schon ein wenig zu fest mit dem Ellenbogen in die Rippen stieß.

„Cool, du darfst dich mit den Jungs von Twentyfour auseinandersetzen!“ „Bist du doof, das tat weh!“, zischte Hannah in Julias Richtung.

„Ein bisschen mehr Begeisterung bitte!“, forderte Julia, die von der schroffen Antwort leicht gekränkt schien. „Schließlich sind die Jungs total sexy. Ich würde nur allzu gern mit dir tauschen.“

Da richtete Hannah das Wort an Anne. „Das wird das Titelthema unserer nächsten Ausgabe sein?“, fragte sie ungläubig. „Ist die Zielgruppe der Band nicht völlig konträr zu der unserer Leserinnen?“

Anne begann Hannah aufzuklären: „Die Band erobert gerade die Sympathien eines ungewöhnlich breiten Publikums. Natürlich passen da die kreischenden 16jährigen optimal ins Bild, aber das Spannende sind ja gerade die 20-40jährigen, die sich ihrem Charme auch nicht entziehen können.“

Nach wie vor zweifelnd nahm sie die Mappe mit den notwendigen Informationen entgegen, die an sie weitergereicht wurde.

„Du wirst schon etwas daraus machen“, schloss Anne das Thema zuversichtlich. „Behalte nur die Zeit im Auge, damit der Titel bereits in zwei und nicht erst in vier Wochen erscheinen kann. Unsere Chance, schnell und effektiv die Unzulänglichkeiten der letzten Ausgabe mit einem großen Erfolg überspielen zu können.“

Hannah griff gierig nach ihrem Kaffee, um den aufkommenden Frust runterzuspülen, als sie zu allem Überfluss auch noch das schadenfrohe Schmunzeln in Bens Gesicht erblickte. Auf der anderen Seite hörte sich das nach einer echten Herausforderung an, sowohl in Punkto Zeit, als auch in Punkto Erfolgsanspruch.

„Gibt es von eurer Seite noch weitere Themenvorschläge und Anregungen für die folgende Ausgaben?“, erkundigte sich Anne. Spontan hob Julia die Hand, um einen Wortbeitrag zu signalisieren.

„Ja, Julia!“, forderte Anne sie zum Sprechen auf.

„Ich fände einen Artikel über die Fischbestände in der Nordsee hochinteressant und glaube, Wiebke wäre die richtige Ansprechpartnerin dafür.“

Bei dem Versuch einen peinlichen Lachanfall zu unterdrücken verschluckte Hannah sich an ihrem Kaffee und hatte echte Not, dass er ihr aus der Nase nicht wieder herauskommen würde. Anne konnte das Gesagte zwar nicht richtig deuten, verstand aber gleich wie es gemeint war, nämlich als Scherz und überging den Beitrag mit den Worten: „Gibt es noch andere, ernsthafte Gesprächsbeiträge? Wenn dies nicht der Fall ist, werde ich das Meeting an dieser Stelle beenden. Ich wünsche euch eine erfolgreiche Arbeitswoche.“

Während Julia der tödliche Blick von Wiebke traf, schob diese seelenruhig ihren Stuhl unter den Tisch und verabredete sich für die Mittagspause mit Hannah.

***

Der restliche Vormittag war für Hannah schnell mit dem Sichten des Materials verstrichen. Abgesehen von ein paar Ansprechpartnern im Management der Jungs von Twentyfour, lagen lediglich einige Informationen zur Zusammensetzung der Band, zur Musikrichtung inklusive Hörprobe und ein paar Fotos bei. Netterweise gab es auch von jedem Bandmitglied eine Autogrammkarte. Scherzhaft dachte Hannah darüber nach, welche der fünf Karten sie heute Abend über ihr Bett hängen würde. Pete gefiel ihr am besten. Dunkelblondes nach allen Seiten stehendes, verwuscheltes Haar. Etwas zu dichte Augenbrauen, aber darunter stechend grüne Augen von der Farbe und Tiefe eines Waldsees. Da hatte der Fotograf es wohl etwas zu gut mit der farblichen Nachbearbeitung gemeint. Ansonsten feine, aber markante Gesichtszüge. Schon irgendwie sympathisch, aber zu schön für diese Welt. Die Rückseite gab das Alter des Schönlings preis: 24 Jahre. Nein, wie passend. Skeptisch, die Leserschaft im Hinterkopf habend, überprüfte sie das Alter seiner Bandkollegen. Keiner war über 24, der Jüngste gerade mal 22 Jahre alt. Schwer vorstellbar, wie ein Heft mit 5 Halbstarken auf dem Titel ihre Zielgruppe zum Kauf des Magazins animieren sollte. Auf der anderen Seite schien Julia, die die 30 gerade erst überschritten hatte, mehr als genau über die kommenden Popsternchen Bescheid zu wissen. Mehr noch, sie ließ sich zu regelrechten Begeisterungsstürmen hinreißen. Jetzt, wo Hannah wieder daran zurückdachte, schmerzte ihre Seite immer noch ein bisschen.

 

Hannah nahm sich vor, Julia gleich beim Essen zu diesem Thema ein bisschen genauer zu befragen. Auf der anderen Seite hatte sie wenig Hoffnung, dass sich Julias Euphorie sachlich erklären ließ. Wahrscheinlich würden sich ihre Äußerungen auch nicht großartig von denen eines pubertären Teenies unterscheiden. Einen kleinen Vorgeschmack hatte Julia ihr mit ihrer Aussage ja bereits geboten. Die sind total sexy!

Aber sie würde sich gern eines Besseren belehren lassen.

Glücklicherweise war das Angebot an Restaurants und Kantinen, die sich mit günstigen Mittagstischen auf die arbeitende Bevölkerung eingestellt hatten und förmlich gegenseitig unterboten, mehr als üppig. Durch die große Auswahl ließ sich eine direkt ausgewogene Ernährung zustande bringen. Außerdem entfielen Einkauf, Kochen und Abwasch, das Argument schlechthin. Den Einkauf hätte sich Hannah ja noch gefallen lassen, aber alles was nicht gerade Spaghetti Bolognese hieß, überstieg bereits ihre hausfraulichen Fähigkeiten. Wenn überhaupt, dann schwang sie lieber einmal den Mixer, um sich beim Backen zu versuchen. Manchmal fragte sie sich, wie sie irgendwann einmal einen Mann und zwei Kinder, ihre Idealvorstellung einer kleinen Familie, täglich bekochen sollte. Aber dafür bräuchte sie erstmal einen Mann und der war weit und breit nicht zu sehen.

Heute hatten Hannah und Julia sich für die nahegelegene Salatbar entschieden.

„Komm, lass uns den Tisch am Fenster nehmen“, schlug Hannah vor. Sie taumelten mit ihren vollen Tabletts auf den freien, noch ein wenig schmutzigen Tisch zu. Ohne zu zögern fegte Hannah mit ihrem rechten Jackenärmel die Krümel von der Tischplatte, während sie mit der Linken kunstvoll das ins Wanken geratene Tablett ausbalancierte. Zufrieden ließ sie sich auf ihren Stuhl fallen. Der Salatberg, mit den goldbraun frittierten Hähnchenstücken schien sie einladend anzulachen.

Automatisch legte Hannah sich, bevor sie mit dem Essen begann, ihre Serviette auf den Schoß. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie ihre, von den Kolleginnen ohnehin schon in den Mittelpunkt des Interesses gerückten Outfits, auch noch zusätzlich mit einem Fleck garniert hätte. Auf diese Art von Aufmerksamkeit wollte sie vorerst lieber verzichten.

Was Frauen, insbesondere die in der Redaktion einer Frauenzeitschrift arbeitenden Exemplare, alles sahen und als Gesprächsanlass nahmen, verblüffte Hannah immer wieder aufs Neue. Das Spektrum reichte von der zu engen Hose, die die Cellulitis an den Oberschenkeln der Kollegin besonders gut zum Vorschein brachte, über die neuen dritten Zähne des Kollegen, die scheinbar mit dem vorherigen Gebiss nur noch die Funktion des Kauens gemeinsam hatten.

„Einen Guten!“, wünschte Julia und schob sich den ersten Fleischbrocken in den Mund. Genüsslich kaute nun auch Hannah auf einem vor Frittierfett triefenden Stückchen Hähnchen rum, bevor sie mit ihren Fragen über Julia herfiel.

„Sag mal, Julia, und du kannst dieser Band wirklich und allen Ernstes etwas abgewinnen?“, erkundigte sich Hannah vorsichtig.

„Natürlich. Ich weiß zwar nicht, wie du das hinbekommen hast, aber du scheinst dich bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht mit dem Virus infiziert zu haben. Damit gehörst du bei dieser Pandemie absolut zu den Ausnahmen.“

„Pandemie? Willst du damit andeuten, dass das Phänomen über den Stadtrand hinausreicht?“

„Du musst wirklich völlig ahnungslos sein“, stellte Julia sichtlich schockiert fest. „Du glaubst doch nicht, dass Anne eine Titelstory mit Gesichtern plant, die lediglich auf unseren heimischen Straßen erkannt werden. Deren erste Single befindet sich in mindestens 3 Ländern in der Top-10-Liste ganz weit oben.“

Hannah wirkte ein wenig verunsichert.

„Es tut mir Leid. Ich gebe zu, den Namen schon mal im Zusammenhang mit Musik gehört zu haben, aber dann bin ich mit meinem Latein auch schon fast am Ende.“

„Wie hast du es geschafft, an all den Bildern vorbeizukommen. Die halbe Stadt ist mit ihren Konterfeis plakatiert. Und nur der Blick in eines dieser süßen Gesichter und zumindest ein erstes Interesse sollte zwangsweise geweckt sein. Hab die Jungs nach meiner ersten Begegnung gleich gegoogelt und mich dabei ein bisschen in Paul verguckt“, gestand Julia.

„Und was sagt dein Patrick dazu?“

„Sei nicht albern! Man wird ja wohl ein bisschen träumen dürfen.“

„Verrate mir doch mal, womit sich der Erfolg erklären lässt, abgesehen von ihrem scheinbar unwiderstehlichen Aussehen. Wenn ich den Inhalt der Infomappe richtig interpretiert habe, dann spielt da nicht mal einer ein Instrument, in dem zusammengecasteten Haufen.“

„Sei doch nicht immer so abwertend und kritisch! Und muss ich wirklich jemandem, der noch nach 15 Jahren mit einem Leuchten in den Augen von einem Take That Konzert erzählt, bei dem Robbie Williams angeblich genau ihr zugewinkt hat, das Prinzip Boyband erklären?“

„Musst du das jetzt wieder ausgraben, schließlich war ich damals nicht älter als 15 Jahre.“

„Ja, aber du warst nicht 15, als du die Story das letzte Mal, mit eben diesem Leuchten in den Augen, erzählt hast.“

„Ist ja schon gut“, lenkte Hannah versöhnlich ein.

Schmunzelnd musste sie an das besagte Konzert denken, das sie gemeinsam mit ihren drei Jugendfreundinnen besucht hatte. Obwohl sie sich eher zu den zurückhaltenderen Fans zählte, und nichts von hysterischem Gekreische hielt, hatte sie bereits diverse Nächte vor dem Konzert nicht schlafen können. Und natürlich hatte sie tagelang überlegt, was sie anziehen würde und darüber hinaus kunstvoll das Stück eines alten Bettlakens mit ihrem Schultuschkasten bemalt. „Robbie, please hold me in your arms“, hatte mit bunten Buchstaben darauf gestanden.

Bei dem Konzert hatten sie dann zunächst einen Stehplatz im hinteren Teil, des direkt vor der Bühne abgegrenzten Bereiches ergattert und standen damit etwa vierzig Meter von ihren Idolen entfernt. Etwa nach der Hälfte des Konzertes, schon leicht geschwächt, taub und heiser, hatten sie sich dann entschlossen den Weg gegen die Masse, in den vorderen Bereich anzutreten. Jeder Zentimeter in Richtung Bühne war mehr als hart erkämpft gewesen. In dem dichten Gedränge war ihnen bereits nach kürzester Zeit der Schweiß von der Stirn gelaufen, den Hannah sich kurzerhand mit ihrem bemalten Bettlaken weggewischt hatte. Der Lachanfall ihrer Freundinnen, bei der nächsten Verschnaufpause, begründete sich mit den grünen, roten und blauen Farbspuren, die das Laken dabei in Hannahs Gesicht hinterlassen hatte.

Nach dem kleinen Malheur kam dann der Höhepunkt des Abends. Wechselweise nahmen sich die Freundinnen Huckepack, um die Köpfe der übrigen Fans ein wenig zu überragen. Als Hannah an der Reihe war, hatte sie trotz der zehn Meter, die immer noch zwischen ihr und Robbie lagen, das Gefühl, ihm direkt gegenüber zu stehen. Als er in ihre Richtung schaute, und in die etwa 3000 weiterer Fans, nutzte sie die Gunst der Stunde, breitete ihr Spruchband aus und schwenkte es wild hin und her. Der festen Überzeugung seine Aufmerksamkeit gewonnen zu haben, glaubte sie ihren Augen kaum zu trauen. Er hatte sein schiefes, hinreißendes Grinsen aufgelegt, hob seinen Arm und winkte ihr zu. Ihr ganz allein. Das stand für Hannah auch heute noch fest. Wenn sie die Geschichte erzählte, zog sie das Ganze natürlich ein bisschen ins Lächerliche, von wegen er habe nur ihr ganz allein zugewinkt.

Nachdem Julias Frage unbeantwortet geblieben war und sie Hannahs entrückten Gesichtsausdruck bemerkte, rüttelte sie an ihrem Arm und stöhnte: „Aufwachen, du träumst ja mit offenen Augen!“

„Wie, was hast du gefragt?“, erkundigte sich Hannah schuldbewusst.

„Ob du noch keines ihrer Lieder gehört hast?“

„Nein, zumindest nicht bewusst. Was ich da im Radio höre, weiß ich ja oftmals nicht. Werde das aber gleich heute Abend nachholen, schließlich habe ich nicht umsonst eine Hörprobe bekommen.“

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