Buch lesen: «Alsuna Jasmin - Sonnenblume», Seite 3

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Befragung – Anfang Juli

»So, Frau Winzer, dann wollen wir Ihre Brandwunde genauer begutachten.« Doktor Wurm wirkte geschäftig, stülpte sich Handschuhe über.

Ich setzte mich gleich auf. Schwester Angela war ihm behilflich und löste den alten Verband. Der Arzt tastete meinen Rücken ab. Ich presste die Lippen aufeinander, denn trotz Schmerzmittel spürte ich ein starkes Brennen.

»Wie sieht es aus?«, fragte ich nach.

»Bedeutend besser. Es war gut, dass wir am ersten Tag gleich die abgestorbenen Wundränder entfernt haben. Die Sekretion ist zurückgegangen und es sind an sich keine Entzündungszeichen vorhanden. Natürlich, wie Sie wissen, bleiben bei einer Verbrennung dritten Grades meist Narben zurück. Doch wie es sich zurzeit darstellt, dürften diese nicht allzu massiv ausfallen. Da bin ich optimistisch.«

»Kann ich es sehen? Vielleicht ein Bild mit meiner Handykamera machen?«, bat ich.

»Das wird Schwester Angela für Sie gerne tun.« Doktor Wurm entledigte sich seiner Handschuhe und trat mir gegenüber. »Ihre Werte haben sich deutlich gebessert, sodass keine weitere Sauerstoffbehandlung mehr nötig ist. So wie es sich darstellt, können wir Sie heute noch auf die Normalstation verlegen, und wenn alles gut geht, und kein Fieber mehr auftritt, übermorgen in häusliche Pflege entlassen. Die Verbandswechsel können Sie vor Ort von Ihrem Hausarzt vornehmen lassen.«

»Das freut mich.«

Doktor Wurm zeigte ein Lächeln. »Somit gehe ich davon aus, dass wir uns nicht mehr sehen, da ich mich die nächsten Tage in Urlaub befinde. Ich wünsche Ihnen deshalb heute schon eine gute Genesung.«

»Danke, auch Ihnen alles Gute und einen schönen Urlaub.«

Der Arzt drehte ab. Schwester Angela ergriff mein Handy, das ich ihr reichte und machte das versprochene Bild. »Hier bitte.«

Während die Krankenschwester die Wunde desinfizierte, starrte ich auf die Aufnahme. Die Verletzung war kleiner als erwartet, auch wenn sich ein geröteter Streifen über das gesamte linke Schulterblatt erstreckte. Zum Glück gab es nur zwei kleine nässende Wunden, etwa daumennagelgroß, die somit tiefer in die Hautschichten bis in den Muskel vorgedrungen waren. Das Foto beruhigte mich mehr als die Worte des Arztes. Ich hatte Glück gehabt, war um eine Hauttransplantation herumgekommen, was ich wohl einer guten Wundheilung, der raschen Behandlung und den mittlerweile effizienten Verbandsstoffen verdankte.

Ich spürte, wie Schwester Angela eine Salbe auftrug und ein spezielles Gewebe vorsichtig andrückte, ehe sie alles mit einem sterilen Verband abdeckte.

»So, erledigt. Wie geht es Ihnen mit den Schmerzen?«

»Sie werden besser. Auch das Atmen fällt mir leichter und ich fühle mich etwas kräftiger.«

»Das ist gut. Im Nebenraum wartet übrigens ein Polizist. Ich habe gesagt, dass ich mich zuerst bei Ihnen erkundige, ob Sie sich fit genug für eine Vernehmung fühlen. Wenn Sie mögen und einverstanden sind, bringe ich Sie mit dem Rollstuhl nach nebenan.«

»Ich glaube, ich schaffe es auf meinen eigenen Beinen. Aber bitte begleiten Sie mich sicherheitshalber.«

»Selbstverständlich.«

Ich schlüpfte in die Hausschuhe, die Mara mitgebracht hatte, und stellte mich hin. Mein Kreislauf fühlte sich stabil an, die Beine wirkten schwächer, aber sie zitterten nicht. Ich ging langsamer als für gewöhnlich, gestützt von Schwester Angela, die schließlich die Tür zum angrenzenden Zimmer öffnete. Ich erkannte, dass es sich hier normalerweise um einen Aufwachraum handelte. Es gab Monitore, Infusionsständer, einen Defibrillator, sowie einige Schränke, die wohl weitere medizinische Geräte und Gegenstände enthielten. Die mittlere Fläche des Raumes war frei und bot somit ausreichend Platz für ein Krankenbett. An der Seite stand ein kleiner rechteckiger Tisch mit zwei Kunststoffstühlen. Sogleich erhob sich ein Mann in Uniform, der dort wartend gesessen hatte. Ich schätzte ihn zwischen vierzig und fünfzig. Er nahm die Dienstkappe ab, zeigte rotblondes kurzes Haar, während sein Gesicht mit unzähligen Sommersprossen übersät war.

»Alsuna Winzer?«, erkundigte er sich.

Ich nickte, und unterließ die Bemerkung, dass ich normalerweise mit Jasmin angesprochen wurde, und sich der Vorname Alsuna für mich fremd anfühlte. Schwester Angela schloss die Tür, damit wir ungestört waren.

»Ich habe Sie schon erwartet. Sind Sie der Polizist, mit dem ich per Telefon gesprochen habe?«

»Nein. Manuel Lichter. Ich bin Ermittler in der Mordkommission.« Er zog seinen Dienstausweis hervor.

Ich schaute flüchtig drüber, nahm auf dem gegenüberliegenden Stuhl Platz. Mit einem Mal fühlten sich meine Beine schwummrig an, was nicht an der körperlichen Schwäche lag, sondern daran, weil ich wusste, über was wir jetzt sprechen würden. »Wie ist der aktuelle Stand?«

Lichter kam gleich zur Sache. »Das Feuer wurde mit Absicht gelegt, wir haben Brandbeschleuniger gefunden in Form von Benzin. Und …«

»Und Mama wurde ermordet«, nahm ich den Satz auf, weil der Beamte zögerte. »Ihr … ihr Kopf … war …« Ich gestikulierte ungelenk mit der Hand über meinem herum, brachte das Wort für gespalten nicht heraus.

»Es tut mir leid. Als Tatwerkzeug konnten wir eine Axt sicherstellen. Zumindest das vordere Eisenteil, der Holzstiel ist verbrannt.«

»Ich bin zu spät gekommen.« Ich wischte mir über die Tränen schwimmenden Augen.

Lichter räusperte sich. »Ohne Sie, wäre Ihre Mutter im Haus verbrannt und wir hätten womöglich noch weniger Indizien. Dann wäre der Mord als Unfall durchgegangen und zu den Akten gelegt worden. So haben wir die Chance, den wahren Täter auszuforschen, und ich denke, das ist auch in Ihrem Sinn. Ich weiß nicht, ob es ein Trost für Sie sein kann, aber Ihre Mutter musste wenigstens nicht lange leiden.«

Das hoffe ich. »Haben Sie eine Spur?«

Lichter kratzte sich am Kinn. »Wenig, keine Fingerabdrücke. Leider haben Feuer und Wasser vieles vernichtet. Gab es einen besonderen Grund, wieso das Haus mit Kameras gesichert wurde? Auf dem Aufzeichnungsgerät konnten wir nichts mehr Brauchbares finden.«

»Mama war diesbezüglich etwas eigen und immer sehr vorsichtig. Sie versperrte stets alles gewissenhaft, solange ich mich zurückerinnern kann. Auch Kameras gab es lange Zeit, bevor ich in die Pubertät kam und sie achtete akribisch darauf, dass sie funktionierten. Ich kann mich aber an kein besonderes Ereignis erinnern, weshalb das so war, falls Sie das meinen.«

»Kam Ihnen das nie sonderbar vor?«

»Jetzt, im Nachhinein schon. Aber um ehrlich zu sein, ich bin damit aufgewachsen, da gewöhnt man sich daran.«

»Verstehe. Leider haben auch die Nachbarn nichts Außergewöhnliches bemerkt. Am späten Nachmittag war noch, wie üblich, Willibald Winzer zu Besuch.«

Ich nickte. »Er ist mein Onkel. Mama hat ihn immer verköstigt, da er lieber sein Geld in Alkohol investiert. Ich hab ihn noch gar nicht gesprochen, er besitzt kein Telefon und unser Verhältnis ist nicht besonders eng. Mama hat sich hingegen für ihn verantwortlich gefühlt. Bestimmt ist er ebenso geschockt wie ich.«

»Bei unserer ersten Einvernahme war er kaum der deutschen Sprache mächtig, hat unzusammenhängend vor sich hin gelallt.«

Ich seufzte. »Das kommt häufig vor.«

»Hatte Ihre Mutter Feinde? Haben Sie eine Idee, wer dahinterstecken könnte?«

»Nicht das ich wüsste. Sie lebt … lebte sehr zurückgezogen. Und bei ihrer Arbeit in der Bücherei ist … war sie meist allein. Freunde und Freundinnen hatte sie nie wirklich, eigentlich gab es nur mich. Und Willi.«

»Das deckt sich mit den Aussagen Ihrer Nachbarn. Dennoch werden wir alles genau überprüfen. Die Spurensicherung untersucht gerade all die Sachen, die so halbwegs verschont geblieben sind. Sobald die Beweisaufnahme abgeschlossen ist, werden wir Sie informieren. Zudem sind wir dabei, Bankdaten und etwaige Telefongespräche zu überprüfen. Was hat Ihre Mutter genau bei ihrem Anruf gesagt?«

Ich blickte auf meine Hände, bemerkte erst jetzt, dass ich sie rastlos knetete, und zwang mich, in diesem Tun innezuhalten. »Er ist wieder da. Will … will mich umbringen. Dann … dann brach die Verbindung ab. Irgendwie klingt das, als ob sie denjenigen gekannt hätte, oder?«

»Stimmt, obwohl ich lieber keine voreiligen Schlüsse ziehen möchte. In einer Notsituation kann man Wörter nicht auf die Waagschale legen. Ist Ihnen, von Ihrer Seite aus, irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«

»Sie meinen, ob ich … mich jemand?« Daran hatte ich noch gar keinen Gedanken verschwendet! »Nein, nichts dergleichen.«

»Als nächste Verwandte müssen wir natürlich auch dieses Risiko im Auge behalten. Da wir das Motiv des Täters nicht kennen, halte ich es für ratsam, wenn Sie in nächster Zeit besonders gut Achtgeben und aufmerksam bleiben. Womöglich können Sie nach dem Krankenhausaufenthalt die erste Zeit bei Freunden unterschlüpfen.«

Ich schluckte.

»So, nun will ich nicht länger Ihre Zeit strapazieren. Falls Ihnen noch etwas einfallen sollte, rufen Sie umgehend die Polizei an oder melden sich direkt bei mir.« Lichter schob mir eine Karte mit seinem Namen und einer Telefonnummer zu. »Ich bin jederzeit für Sie erreichbar. Oder, bei Ihnen vor Ort, können Sie sich an Gruppeninspektor Berger wenden, der über sämtliche Schritte von mir informiert wird und uns bei der Ermittlungsarbeit unterstützt.«

»Danke, bitte halten Sie mich ebenso auf dem Laufenden.« Mit zittrigen Fingern griff ich nach der Visitenkarte, die ich später in meiner Handyhülle verstauen wollte.

»Das will ich gerne tun. Übrigens, sobald Sie sich fit genug fühlen, können Sie ein Beerdigungsinstitut beauftragen. Die Untersuchungen an Ihrer Mutter sind offiziell abgeschlossen.«

Ein heiseres Schluchzen brach aus meiner Kehle. »Gut zu wissen.«

»Wir haben zudem ein Kriseninterventionsteam, das möchte ich Ihnen ans Herz legen und könnte Sie in dieser schwierigen Situation unterstützen.«

»Ich hatte bereits ein kurzes Gespräch mit der Psychologin des Krankenhauses. Weitere habe ich abgelehnt. Wenn, dann rede ich mit meiner Freundin.«

»Falls Sie es sich anders überlegen, sind wir jederzeit für Sie da. Ich wünsche Ihnen viel Kraft und mein aufrichtiges Beileid.«

»Bitte, finden Sie den Mörder.«

»Wir geben unser Bestes, das verspreche ich Ihnen.«

Der Beamte ließ mich im Raum zurück. Verzweifelt verbarg ich mein Gesicht in den Händen, schluchzte, weil ich sehr wohl herausgehört hatte, dass die Polizei im Dunklen tappte und nicht ansatzweise wusste, in welche Richtung sie ermitteln sollten. Die gesamte Hoffnung lag in irgendeinem Zufallsfund im Inventar. Von dem es wohl nicht mehr sonderlich viel gab.

Mara marschierte schnurstracks durch den engen Flur des Mehrparteihauses, in dem Willi wohnte. Die untere Eingangstür war unverschlossen gewesen, sodass sie nicht einmal Läuten musste. Als enge Freundin von Suni fühlte sie sich in gewisser Weise für jeden aus der Familie mitverantwortlich und hatte beschlossen, nach Willi zu sehen.

Mara erreichte den dritten und zugleich obersten Stock, klopfte an Willis Tür, neben der sich in Kartons leere Dosen und Flaschen in einem wüsten Durcheinander stapelten. Ein Namensschild suchte man vergeblich, und dort, wo die Klingel sein sollte, ragte bloß ein Stromkabel heraus. Wann war sie das letzte und einzige Mal hier gewesen? Irgendwann als Suni und sie gemeinsam die Fachschule besucht hatten, da waren sie etwa sechzehn Jahre alt. Willi war damals krank gewesen, weshalb Suni für ihn Essensbotin spielte. Dass die Freundin keinesfalls alleine hingehen wollte, verstand Mara sofort. Sie kannte Willi flüchtig von den Besuchen bei Suni, bei denen er hin und wieder auftauchte. Verlodert und meist etwas angetrunken umgab ihn eher eine abstoßende Aura, die sich in seiner winzigen Dachgeschosswohnung fortsetzte.

In Mara kroch schaudernd das damalige Entsetzen hoch, als sie an Willi dachte, der ihnen mit fiebrigen Augen und fettigem Haar torkelnd geöffnet hatte. Er war mit einer schlabbrigen Unterhose bekleidet gewesen, die drohte, an seinem schlaksigen Körper hinunterzurutschen.

Mara stöhnte und unterband den Impuls, umzukehren und ihr Vorhaben abzubrechen. Sie pochte erneut, lauter und wappnete sich darauf, dass es nach wie vor fürchterlich in der Wohnung aussehen musste. An sich war es gut, dass Willi als Letzter oben im Gebäude wohnte, so brauchte von den unten lebenden Parteien niemand an seiner Müllhalde vorbei. Doch vermutlich hatte der eine oder andere Bewohner ihn bereits verflucht, wenn er laut polternd im Vollrausch hinaufmusste.

Ihr Mann Paul hatte ihr erzählt, dass einmal sogar die Feuerwehr ausgerückt war, um ihn in seine Wohnung zu hieven. Willi war besoffen zwischen dem ersten und zweiten Stock liegengeblieben. Er war so hinüber, dass er nicht einmal realisiert hatte, dass er sich im Treppenbereich befand. Doch zum Öffnen des Reißverschlusses der Hose hatte es gereicht, und zur Begrüßung urinierte er alles voll, war ohne Scham seinem Drang nachgegangen. Wie ein Tier, dass dem Instinkt folgte.

Mara rümpfte die Nase, als ob noch immer eine Mischung aus Pisse und kaltem Rauch durch das Stiegenhaus ziehen würde. Gerade, als sie sich abwenden wollte, vernahm sie schlürfende Geräusche. Ein winziger Spalt öffnete sich.

»He, du bist ja Jasmins Freundin. Lange nicht gesehen.« Willi zeigte ein gelbliches Gebiss. An der rechten Seite prangte eine Lücke, da ihm mindestens drei Zähne fehlten.

Es waberte miefige Luft auf den Flur des Treppenhauses. Mara wechselte von der Nasen- zur Mundatmung, was sie bedeutend erträglicher fand. »Ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich vorgestern bei Suni im Krankenhaus war. Sie ist halbwegs okay, die Wunden werden heilen.«

»Das ist gut. Willst du eigentlich hereinkommen?«

Mara hielt entsetzt den Atem an.

Willi lachte. »Ein Scherz!«

Mara räusperte sich, fühlte sich ertappt. »Brauchst du irgendetwas? Ich meine …«

Willi schaute sich um. Die fünfundzwanzig Quadratmeter stellten zugleich Küche, Wohn- und Schlafzimmer dar, waren vollgestellt mit Kartons. Die vielen geleerten Flaschen, die kreuz und quer lagen, müsste er irgendwann einmal entsorgen. Dazwischen stapelten sich Pappkartons von so manchen Pizzen und leere Zigarettenschachteln. Hier spielte sich sein Leben ab, zumindest dann, wenn er nicht in der Kneipe saß. Den elektrischen Herd hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr benutzt. Sein Essen bestand vorwiegend aus alkoholischer Flüssignahrung, hin und wieder aus gefundenen Resten im Müll. Einmal in der Woche konnte er sich bei Natascha den Bauch füllen. Sie hatte ihn manches Mal als gefräßiges Krokodil betitelt, weil auch diese Tiere oft von einer einzelnen Nahrung lange zehren konnten. Vielleicht war er im vorherigen Leben tatsächlich so ein Reptil gewesen, leider wuchsen bei ihm nicht die ausgefallenen Zähne nach. Er langte an die rechte Wange, fühlte, wie sich diese im Vergleich zur linken weiter hineindrücken ließ. Mit der wöchentlichen Essensration war es nun vorbei … Ob er mit seinen wenigen Kröten auskommen würde? Willi ächzte. »Alles gut. Weißt du, wann Jasmin rauskommt?«

Mara fand es zumindest nett, dass ihm offenbar seine Nichte kümmerte und nicht völlig gleichgültig war. Obwohl sie nicht verstand, wie Willi so tief sinken und so würdelos werden konnte. Suni hatte einmal gemeint, dass viele es nicht schafften, eine Sucht zu besiegen, die körperliche Abhängigkeit nichts gegen die psychische wäre, die jeden Tag zu einem neuen Kampf machte. In Wahrheit lebte Willi trotz Minimalismus in seiner gesicherten Zone. Natascha hatte ihn nie fallen lassen, immer geholfen. Mara wusste nicht, ob sie das gekonnt hätte. Leichter wäre es bestimmt gewesen, sich abzuwenden. Dann müsste man weder sein Leid sehen, noch wäre man der eigenen Hoffnungslosigkeit ausgesetzt, weil man ihm nicht helfen konnte. Ob dieses schreckliche Erlebnis irgendetwas in ihm bewirkte? »Wahrscheinlich kommt Suni übermorgen heim, hat sie am Telefon gemeint. Sauerstoffbehandlung benötigt sie keine mehr.«

»Wenn du sie siehst, oder mit ihr telefonierst, richte ihr liebe Grüße aus.«

»Das werde ich gerne tun. Und wie gesagt …«

»Jaja«, winkte er ab. »Mach dir keine Sorgen.«

»Dann tschüss.« Mara drehte ab, schritt rasch die Stufen hinunter. Sie freute sich, als sie vor das Gebäude trat und frische Luft einatmen konnte, die sie tief inhalierte. Auf dem Weg zum VW schielte sie noch einmal zur Dachgeschosswohnung. Irgendwie hatte Willi normaler gewirkt, als sie gedacht hatte. Oder es lag daran, dass sie heute bei ihm eine halbwegs nüchterne Phase erwischt hatte. Obwohl, bei einem Spiegeltrinker konnte man nie genau sagen, wie viel er tatsächlich intus hatte. Auffällig wurden die meist erst dann, wenn es zu wenig gab.

Ob Suni die Aufgabe ihrer Mama Natascha übernehmen würde und sich auf ähnliche Weise um Willi kümmerte? Mara schüttelte den Kopf. »Zuerst muss Suni zu Kräften kommen, bevor sie ihre soziale Ader auspacken kann.« Und ihre Freundin und Willi … das war wieder ein anderes Thema, und kein einfaches!

Heimkehr in die Knittelfelder Wohnung

Mara hatte vorsorglich den Motor ihres VWs abgestellt. »Du hast zwar mein Angebot, zu uns zu kommen, ausgeschlagen, aber was ist, soll ich dich nicht besser hoch in die Wohnung begleiten?«

Ich löste den Blick von meinem blauen Skoda, der gleich an der Straßenseite parkte. So wie immer, als ob nichts vorgefallen wäre. »Bist du mir sehr böse, wenn ich verneine?«

»Nein, spinnst. Du warst schon die gesamte Fahrt so ruhig. Ich will dich nicht in deinen Gedanken stören, aber du solltest auch nicht alleine in deiner Wohnung hocken.«

Ich dachte an den Beamten Lichter, der sogar dazu geraten hatte, dass ich bei jemandem unterschlüpfen sollte. Zur Sicherheit! Aber ich brauchte eine Auszeit. Für mich, um zu trauern! Ohne Bettnachbarn, nerviger piepsiger Geräusche und mitleidigen Blicken!

Ich schöpfte nach Atem. »Ich bin aktuell keine gute Gesprächspartnerin. Ich muss zuerst meine Gedanken klären. Gib mir ein bisschen Zeit.«

Mara hob ihr Handy hoch, das in der Zwischenkonsole gelagert hatte. »Tag und Nacht jederzeit erreichbar. Du kannst mich auch anrufen und dann einfach ins Telefon schweigen. Kein Problem.«

Ich drückte ihr einen Schmatz auf die Wange. »Ich komme bestimmt darauf zurück. Danke dir, für alles.«

Ich stieg aus. Meine Freundin wartete, bis ich im Gebäude verschwunden war. Erst dann hörte ich das vertraute Motorengeräusch des VWs. Mit schweren Schritten marschierte ich in den ersten Stock, wo sich der Zugang zu meiner großzügigen Maisonettewohnung befand. Mir gefiel die Kombination aus Offenheit und dem Hauscharakter. Mit einundzwanzig Jahren war ich von daheim ausgezogen, obwohl Mamas Haus groß genug für uns beide gewesen wäre. Doch ich benötigte meinen Freiraum. Mama war stets liebevoll zu mir, aber auch sehr vereinnahmend. Das ging so weit, dass sie mein Telefon kontrollierte oder im Tagebuch las, weshalb ich das Schreiben darin aufgegeben hatte. Ich wusste, dass sie es nicht tat, weil sie mir misstraute. Sie wollte mich vor Fehler bewahren, mich beschützen und behüten wie ihren eigenen Augapfel. Dass sie dabei zuweilen über das Ziel hinausschoss, war Mama lange Zeit gar nicht bewusst gewesen. Für sie war ich das kleine Kind geblieben, das sie umsorgen wollte.

In der ersten Nacht in der eigenen Wohnung erfuhr ich, was Privatsphäre bedeutete. Lange lag ich wach, genoss die Ruhe, kein Kontrollieren, ich fühlte mich frei … Tja, und das Smartphone hatte ich vorsorglich auf stumm geschaltet, um nicht gestört zu werden und meine Grenze darzulegen.

Mit zittrigen Händen schloss ich die weiß lackierte Wohnungstür auf, um sie rasch hinter mir zuzudrücken. Insgeheim fragte ich mich, wie viel Zeit ich mit Mama verschenkt hatte, weil ich auf ein eigenes Reich pochte. Ich fühlte mich schuldig darin, dass ich nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen war. Ob ich den Brand hätte verhindern können, wenn wir zu zweit im Haus gewohnt hätten? Wer wollte Mama loswerden, hatte sie so grausam zugerichtet? Ein Bekannter, ein Fremder? Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Zumindest hatte ich durch die damalige Entscheidung, auszuziehen, jetzt noch ein Dach über dem Kopf. Das gab mir keinen Trost.

Ich steuerte in das Badezimmer zum Waschbecken, um mein Gesicht mit Wasser zu benetzen, zu kühlen und meine Tränen wegzuwaschen. Ich trocknete die verbliebenen Tropfen mit einem Handtuch, das ich aus dem Fach meines grauen Regals herausgenommen hatte. Ich seufzte, schaute mich unschlüssig um. Dieser Raum war in einem schmucken Weiß-Schwarz gehalten, wirkte wie ein überdimensionales Schachbrett. Statt Figuren gab es als Inventar eine Waschmaschine, einen Trockner und die Badezimmerkommode mit einem riesigen Spiegel. In der Ecke befand sich meine Wellnessoase – eine große Badewanne mit Massagedüsen. Mit der Wunde am Rücken durfte ich leider kein ausgiebiges Schaumbad nehmen, wo ich gerne bis zur Nasenspitze im Wasser versinken konnte.

Mein Blick glitt zurück zur Waschmaschine, vor der ein weißer Plastikbeutel lag. So wie versprochen, hatte Mara meine Sachen ins Badezimmer gebracht. Kurz zögerte ich, doch dann ließ ich mich im Schneidersitz daneben nieder, holte tief Luft und wappnete mich darauf, dass mit dem Rauchgeruch auch Bilder der schrecklichen Nacht auf mich einprasseln würden.

Ich zog die verknüpften Enden auseinander, holte meine Schwesternuniform, die aus Hose und Kasack bestand, heraus. Das Oberteil wies am Rücken ein riesiges Loch auf, dort, wo das brennende Brett mich getroffen hatte. Die Hose zeigte ebenso versengte Stellen. Da konnte eine Wäsche nichts mehr retten. Ich klappte den Mülleimer in meiner Nähe auf und stopfte beides hinein. Doch noch war der Kunststoffbeutel nicht leer.

Ein schwarzes Kleidungsstück? Wie kam das hinein? Neugierig zog ich es heraus. Mamas Jacke! Sie war eines ihrer Lieblingsteile gewesen, wie ich am feinen Strickmuster erkannte. Ich erinnerte mich, dass ich die Jacke in der Brandnacht von Mamas Gesicht heruntergezogen hatte! Ich spürte leichte Verhärtungen des Gewebes, wo die Hitze zu intensiv eingewirkt hatte, und bemerkte dunklere Stellen, die wohl von eingetrockneten Blutflecken stammten. Ein Schluchzer trieb aus meiner Kehle, verzweifelt knüllte ich das Stückchen Stoff zusammen. Da raschelte etwas in der Tasche.

»Was war das?« Irritiert strich ich mir über die nassen Augen, um besser sehen zu können. Ich nestelte ein Bild heraus und musterte es genauer. Bis auf einzelne Knitterspuren war es gut erhalten. Im Hintergrund zeigte sich ein Sonnenblumenfeld. Es handelte sich um eine ältere Aufnahme, wie ich an den Farben erkannte.

»Mama, das bist ja du – in jung!« Daneben stand ein mir unbekannter hochgewachsener Mann, mit blauen Augen, blondem Haar und einem auffälligen Muttermal an der rechten Wange neben der Nase, in der Höhe des Jochbeins.

Ich stob hoch, musste mich kurz abstützen, da die Bewegung für meinen Kreislauf zu heftig ausgefallen war. Als der Schwindel sich gelegt hatte, blickte ich in den Spiegel, tastete mit der Hand zu meinem Muttermal auf der rechten Seite in Jochbeinhöhe, das mir über all die Jahre vertraut geworden war. »Es ist nahezu dieselbe Stelle! Zufall?«

Ich fuhr über mein blondes Haar, begutachtete meine blauen Augen … War der Kerl auf dem Bild mein Vater?

Erneut starrte ich auf die Aufnahme, die Ähnlichkeit war zu verblüffend, um rein zufälliger Natur zu sein. Mama wirkte so glücklich! Sie strahlte auf dem Bild, nicht in die Kamera, sondern den Mann an ihrer Seite an. Nie hatte ich sie derart fröhlich gesehen. So wunderschön mit ihrem dunklen Brünett und den braunen Augen, ein starker Kontrast zu seinem hellen Haar. Fast so wie das Schwarz-Weiß in meinem Badezimmer.

Das Bild musste ihr wichtig gewesen sein, sonst hätte es sich wohl nicht in der Jacke befunden. Oder steckte mehr dahinter? Wollte sie mir damit einen Hinweis geben, wer der Täter war? Doch wenn Mama mit einem Überfall gerechnet hätte, hätte sie wohl zuvor die Polizei verständigt, oder bei den Nachbarn Zuflucht gesucht.

Die Türklingel ließ mich hochschrecken. Eigentlich verspürte ich grad gar keine Lust, mit jemandem zu sprechen oder wen einzulassen. Dennoch setzte ich mich beim neuerlichen Ding-Dong in Bewegung.

»Suni, sorry – ich Dussel habe nicht auf deine Tasche gedacht, sie lag noch auf der Rückbank.«

Statt einer Entgegnung fiel ich meiner Freundin schluchzend in die Arme. Mara zog mich weiter ins Wohnzimmer, packte mich auf die Couch, deckte mich sorgsam zu. »So Schatz, und nun mache ich dir zuerst eine heiße Schokolade. Du wirst sehen, der süße Geschmack lässt dich ein klitzekleines Stückchen zuversichtlicher werden. Und dann redest du mit mir, das ist dringend nötig, wie mir scheint.«

Mara nahm einen großen Schluck Kaffee. Sie betrachtete das alte Bild und verglich es mit mir. »Zweifellos, das muss dein Vater sein. Sogar euer Muttermal. Seltsam, ist so ein Zeichen vererbbar? Und umringt von all den Sonnenblumen, das schaut richtig romantisch aus.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es gibt wohl bei solchen Malen eine genetische Disposition bei nahen Verwandten, soweit ich weiß.«

»Weißt du, wie dein Vater heißt?«

Abwehrend schüttelte ich den Kopf, wusste nicht einmal, ob er überhaupt lebte. Ich trank einen Schluck der heißen Schokolade. Mara hatte recht gehabt, verfeinert mit dem Zucker- und Zimtgeschmack breitete sich ein heilsamer Geschmack in meinem Mund aus, sodass ich gefasst blieb und nicht erneut losheulte. Außerdem erleichterte es mich, dass Mara mich nicht für verrückt erklärte und sie den Kerl auf dem Bild ebenso für meinen Vater hielt. Irgendwie wollte mir noch immer nicht recht in den Sinn, ob die letzten Tage real oder nicht doch ein böser Traum waren.

Nein, das Schicksal machte mir keinen Gefallen, um mich aus diesem Albtraum aufwachen zu lassen. Ich stellte die Tasse auf der Fensterbank ab. »Mama hat nie über meinen Vater gesprochen, zumindest nicht freiwillig. Ich erinnere mich bloß daran, dass ich mal im Kindergarten nach ihm gefragt habe, weil er nie zu den Festen aufgetaucht ist, mich nie abgeholt hat, so wie es bei meinen Freundinnen und Freunden üblich war. Da ist sie ganz erschrocken, hat gefragt, wieso ich auf ihn zu sprechen komme. Ich hab entgegnet, dass ja bei den anderen stets ein Papa dabei ist. Da hat sie geantwortet, dass mein Papa bloß mein Erzeuger ist und kein Interesse an mir hätte, ich ihn ganz rasch vergessen sollte und wir ihn nicht bräuchten.«

»Das war bestimmt hart für dich.«

»Ich kann dir gar nicht mehr beantworten, ob ich damals entsetzt war. Vielleicht hätte er mir mehr gefehlt, wenn ich ihn gekannt oder es irgendwann Kontakt gegeben hätte. Und mit Onkel Willi in der Verwandtschaft ist mein Bedarf an Kerlen echt gedeckt.«

»Suni, das sagst du bloß, weil dir der richtige Mann noch nicht begegnet ist. Es stimmt schon, es gibt einige, die nicht zu den Prachtstücken zählen, aber glaub mir, die Suche nach dem Richtigen lohnt sich. Schau Paul und mich an. Ich frage mich, wie er es mit mir verrückter Nudel bereits seit fünf Jahren aushält. Mich sogar geheiratet hat.«

Ich erinnerte mich an die kleine Feier im engsten Familien- und Freundeskreis. Mara hatte ein schwarzrotes Hochzeitskleid im Gothic-Stil getragen, das Rüschen, Spitze und ein florales Muster aufwies. Ein traditionales Fest hätte zu den beiden nicht gepasst. Nach der Trauung am Standesamt saßen wir bei ihnen im Garten. Zum Essen hatte ich ein Catering organisiert, und Freunde spielten die Lieblingslieder des Paares den gesamten Nachmittag bis spät in die Nacht hinein. Mara und Paul waren für mich das absolute Dreamteam. Sie passten perfekt zusammen, schafften es, dem anderen den Wind aus den Segeln zu nehmen, wenn einer mal dabei war, seine Balance zu verlieren. Zu ihrem Glück fehlte noch Nachwuchs, der sich nicht einstellen wollte, so sehr sie es versuchten. Doch auch diese Last trugen sie gemeinsam. Ob es für mich einen Traumpartner geben konnte? »Suchen interessiert mich nicht, da warte ich lieber darauf, dass der Richtige mich findet. Und schau dich um, irgendeine Macke hat doch jeder. Ich ebenso.«

»Es geht ja darum, jemanden mit einem kompatiblen Knall zu finden.«

Ich schnitt Mara eine Grimasse, spürte, wie für eine Millisekunde Leichtigkeit in mir aufblitzte, ehe sie in Verbitterung erstarb. Vor Kurzem war mein Leben im gewohnten Trott und in geordneten Bahnen verlaufen. Männer und eine fixe Bindung interessierten mich nicht, dafür war ich viel zu sehr mit meinem Beruf verwurzelt. So verbuchte ich meine Bekanntschaften unter Abenteuer, die meist nicht länger als einige Wochen hielten. Auf einmal vermisste ich nicht nur meine Mama, sondern ebenso eine bessere Hälfte, eine Schulter zum Anlehnen … Mara war toll, aber ich wollte sie keinesfalls vereinnahmen. Hatte ich bezüglich Kerle unbewusst Mamas Verhaltensmuster übernommen? Nie war die Männerwelt ein Thema für sie. Zumindest nicht, solange ich mich zurückerinnern konnte. »Ich verstehe nicht, weshalb sie ausgerechnet dieses Bild bei sich getragen hat. Unsere Fotoalben befinden sich im Keller in den Regalen, geschützt in Kartons. An dieses Bild kann ich mich jedenfalls nicht erinnern.«

»Dieser Kerl war Natascha anscheinend wichtig. Vielleicht war er die Liebe ihres Lebens, und sie wurde von ihm enttäuscht. Irgendein melancholischer Hintergrund muss bestehen, sonst würde es das Foto nicht geben. Und offenbar hat sie es ja vor dir verborgen. Ob du von der Seite deines Vaters Geschwister hast?«

Mein Kopf ruckte hoch. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Eher beschäftigt mich die Frage, ob er Mama … umgebracht hat!«, stieß ich hastig hervor.

Mara legte den Kopf schief, tippte sich nachdenklich an die Lippen. »Das können wir wohl nicht ausschließen. Du musst mit dem Bild zur Polizei, vielleicht ist es eine Spur.«

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