Buch lesen: «Wenn Sie Rennen Würde»
Copyright © 2018 Blake Pierce. Alle Rechte vorbehalten. Außer durch Genehmigung gemäß U.S. Copyright Act von 1976 darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung des Autors vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt oder in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit des Autors respektieren. Dieses Buch ist Fiktion. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind vom Autor frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Einband Image Copyright Tom Tom, unter der Lizenz von Shutterstock.com.
Blake Pierce
Blake Pierce ist der Autor der fünfzehnteiligen RILEY PAGE Mystery-Bestsellerserie (Fortsetzung in Arbeit). Blake Pierce hat außerdem folgende Bücher geschrieben:
Die MACKENZIE WHITE Mystery-Serie, bestehend aus neun Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die KERI LOCKE Mystery-Serie, aus bestehend aus fünf Büchern, DAS ENTSTEHEN DER RILEY PAGE Mysterie-Serie, das aus drei Büchern besteht (Fortsetzung in Arbeit), die KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus vier Büchern (Fortsetzung in Arbeit), die CHLOE FINE Psychothriller, bestehend aus drei Büchern (Fortsetzung in Arbeit) und die JESSE HUNT Psychothriller, die aus drei Büchern besteht (Fortsetzung in Arbeit).
Als leidenschaftlicher Leser und langjähriger Fan von Mystery- und Thriller-Romanen freut sich Blake Pierce, von Ihnen zu hören. Besuchen Sie www.blakepierceauthor.com für weitere Infos und um auf dem Laufenden zu bleiben.
BÜCHER VON BLAKE PIERCE
JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE
DIE PERFEKTE EHEFRAU (Buch Nr. 1)
DER PERFEKTE BLOCK (Buch Nr. 2)
DAS PERFEKTE HAUS (Buch Nr. 3)
CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE
NEBENAN (Buch Nr. 1)
DES NACHBARS LÜGE (Buch Nr. 2)
SACKGASSE (Buch Nr. 3)
KATE WISE MYSTERY-SERIE
WENN SIE WÜSSTE (Buch Nr. 1)
WENN SIE SÄHE (Buch Nr. 2)
WENN SIE RENNEN WÜRDE (Buch Nr. 3)
WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (Buch Nr. 4)
DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
BEOBACHTET (Buch 1)
WARTET (Buch 2)
LOCKT (Buch 3)
RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE
VERSCHWUNDEN (Buch 1)
GEFESSELT (Buch 2)
ERSEHNT (Buch 3)
GEKÖDERT (Buch 4)
GEJAGT (Buch 5)
VERZEHRT (Buch 6)
VERLASSEN (Buch 7)
ERKALTET (Buch 8)
VERFOLGT (Buch 9)
VERLOREN (Buch 10)
BEGRABEN (Buch 11)
ÜBERFAHREN (Buch 12)
GEFANGEN (Buch 13)
RUHEND (Buch 14)
MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE
BEVOR ER TÖTET (Buch 1)
BEVOR ER SIEHT (Buch 2)
BEVOR ER BEGEHRT (Buch 3)
BEVOR ER NIMMT (Buch 4)
BEVOR ER BRAUCHT (Buch 5)
EHE ER FÜHLT (Buch 6)
EHE ER SÜNDIGT (Buch 7)
BEVOR ER JAGT (Buch 8)
VORHER PLÜNDERT ER (Buch 9)
VORHER SEHNT ER SICH (Buch 10)
AVERY BLACK MYSTERY-SERIE
DAS MOTIV (Buch 1)
LAUF (Buch 2)
VERBORGEN (Buch 3)
GRÜNDE DER ANGST (Buch 4)
RETTE MICH (Buch 5)
ANGST (Buch 6)
KERI LOCKE MYSTERY-SERIE
EINE SPUR VON TOD (Buch 1)
EINE SPUR VON MORD (Buch 2)
EINE SPUR VON SCHWÄCHE (Buch 3)
EINE SPUR VON VERBRECHEN (Buch 4)
EINE SPUR VON HOFFNUNG (Buch 5)
Kapitel eins
Ihre Nerven standen in Flammen und sie meinte, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen. Die Boxhandschuhe an ihren Händen fühlten sich fremd an und der Kopfschutz erstickte sie fast. Nichts davon war neu für Kate Wise – sie trainierte jetzt seit knapp zwei Monaten, aber bisher noch nie mit einem wirklichen Sparringpartner. Ihr war natürlich klar, dass es hier um erster Linie um Spaß ging und es ein Teil ihres Workouts war, aber trotzdem machte es sie nervös. Sie schlug auf den Körper eines anderen ein, und das war etwas, was sie noch nie auf die leichte Schulter genommen hatte.
Sie blickte auf ihren Sparringpartner, der auf der anderen Seite des Rings stand. Sie versuchte die jüngere Frau – die genau wie Kate Mitglied dieses Fitnessstudios war und am gleichen Boxing-Kurs teilnahm – nicht als Gegnerin wahrzunehmen. Die Frau hieß Margo Dunn, und sie nahm aus dem gleichen Grund wie Kate an diesem Kurs teil, nämlich, weil es der perfekte Fullbody-Workout war, ohne dass man dabei viel laufen oder Gewichte stemmen musste.
Margo grinste Kate an, als der Trainer ihr den Mundschutz einlegte. Kate nickte zurück, während auch ihrer eingelegt wurde. Als er richtig saß, spürte Kate, wie sich ein Schalter in ihr umlegte. Sie war jetzt im Box-Modus. Klar, sie war immer noch nervös und die Situation ließ sie sich etwas unwohl fühlen, aber jetzt war der Zeitpunkt gekommen, loszulegen. Einsatz zu zeigen. Nur sieben Leute schauten zu – Trainer und zwei andere Mitglieder des Studios, die einfach neugierig waren.
Am Rande des Rings läutete jemand eine kleine Glocke, die den Start des Kampfes signalisierte. Kate trat in die Mitte des Rings, wo Margo schon stand. Ihre Handschuhe berührten sich und beide traten zwei respektvolle Schritte zurück.
Und dann ging es los. Kate umkreiste ihre Gegnerin ein wenig, ihre Füße fanden den Rhythmus, den sie gelernt hatte; so, als würde sie tanzen. Sie trat vor und schlug zum ersten Mal zu. Margo wehrte den Schlag mit Leichtigkeit ab, aber es war gut fürs warm werden. Mit ihrer Linken schlug Kate nochmals zu. Wieder wehrte Margo den Schlag ab und landete dann ihrerseits einen Schlag mit ihrer Linken, die Kate an der Seite des Kopfes traf. Sie hatte nicht hart zugeschlagen – schließlich war dies ein Sparring-Match – und der Schlag wurde abfedert durch den schweren Kopfschutz. Trotzdem verlor Kate fast ihre Balance.
Du bist sechsundfünfzig, dachte sie. Was glaubst du eigentlich, was zum Teufel du hier machst?
Noch während sie über diese Frage nachdachte, landete Margo einen rechten Haken, dem Kate mit einer solchen Behändigkeit auswich, dass sie sogleich an Selbstbewusstsein gewann. Und wie sie mit Leichtigkeit den Schlag abwehrte, motivierte sie in höchstem Maße.
Du weißt ganz genau, warum du das hier tust, dachte sie. Nach neun Wochen hast du neun Kilo verloren und die beste Muskeldefinition, die du je gehabt hast. Du fühlst dich zwanzig Jahre jünger und jetzt mal ehrlich… hast du dich jemals zuvor so stark gefühlt?
Nein, das hatte sie nicht. Zwar hatte sie in Sachen Boxen noch verdammt viel zu lernen, aber die Grundlagen hatte sie schon verinnerlicht.
Mit dieser Einstellung fest im Kopf verankert, trat sie vor, täuschte einen linken Haken vor, um dann mit der Rechten zuzuschlagen. Als sie direkt Margos Kinn traf, legte sie mit der Linken nach … und dann nochmal. Beide Schläge trafen hundertprozentig und in Margos Augen trat ein überraschter Ausdruck, als sie rückwärts in die Seile taumelte. Trotzdem grinste sie. Genau wie Kate wusste Margo, dass dies mehr oder weniger nur Training war, und sie hatte gerade eine Lektion gelernt: Achte immer auf die vorgetäuschten Schläge deines Gegners.
Margo erwiderte mit zwei gezielten Schlägen auf Kates Körper, von denen einer Kates Rippen traf. Sie rang einen Moment nach Atem, währenddessen sie noch einen Schlag einsteckte. Sie sah noch, wie Margos harter rechter Haken von links kam, aber ihr blieb keine Zeit mehr zu reagieren. Sie versuchte auszuweichen, aber es war zu spät. Der Schlag traf sie mit voller Wucht seitlich am Kopf und ließ sie nach hinten taumeln.
Einen Moment lang war ihr schwindelig. Ihre Sicht verschleierte sich und ihre Knie fühlten sich schwach an. Sie dachte daran, ihre Knie einfach nachgeben zu lassen, nur um sich eine kurze Pause gönnen zu können.
Tja… also doch zu alt hierfür…
Doch dann dachte sie: Kennst du irgendeine andere Frau über fünfzig, die solch einen Schlag einsteckt und trotzdem noch steht?
Sie erwiderte mit zwei Schlägen und dann noch einen, den sie auf Margos Torso richtete. Nur einer der ersten beiden Schläge traf sein Ziel, aber der Schlag auf den Torso war genau richtig platziert. Margo stolperte rückwärts in die Seile. Sie stieß sich ab und versetzte Kate einen Kinnhaken, der nicht wirklich weh tun sollte, sondern Kate nur dazu veranlassen sollte, ihre Arme zur Abwehr nach oben zu reißen, damit Margo dann auf ihren ungeschützten Körper einschlagen konnte. Kate machte jedoch das Zögern in Margos Bewegungen aus und erkannte blitzschnell ihre Taktik. Statt den Kinnhaken abzuwehren, wich sie nach rechts aus, wartete das volle Momentum von Margos Schlag ab, und landete dann selbst einen harten Schlag mit ihrer Rechten, der Margo an der Seite ihres Kopfes traf.
Margo ging sofort zu Boden. Sie fiel vornüber auf den Bauch und rollte sich schnell ab. Sie zog sich in ihre Ecke zurück und nahm den Mundschutz heraus. Dann lächelte sie Kate ungläubig an.
„Tut mir leid“, sagte Kate und kniete sich vor Margo.
„Das muss es nicht“, entgegnete Margo. „Es ist kaum zu glauben, wie du es schaffst, so schnell zu sein. Ich muss mich bei dir entschuldigen. Wegen deines Alters hatte ich angenommen, dass du… langsamer bist.“
Kates Trainer – ein ergrauter Mittsechziger mit langem weißem Bart – kletterte schmunzelnd durch die Seile. „Der gleiche Fehler ist mir auch unterlaufen“, sagte er zu Margo. „Deshalb hatte ich ungefähr eine Woche lang ein blaues Auge. Habe genau den gleichen Schlag eingesteckt wie du eben.“
„Du brauchst wirklich nicht so entschuldigend zu klingen“, sagte Kate. „Dein Schlag, der mich am Kopf getroffen hat, hat mich fast k.o. geschlagen.“
„Er hätte dich k.o. schlagen sollen“, entgegnete der Trainer. „Er war schon ein Stück härter, als ich das eigentlich gutheiße in einem einfachen Sparring-Match.“ Dann blickte er Margo an. „Du kannst es dir aussuchen, ob du weitermachen willst oder nicht.“
Margo nickte und rappelte sich auf. Der Trainer legte ihr wieder den Mundschutz ein. Dann begaben sich beide Frauen wieder in ihre jeweiligen Ecken und warteten auf das Einläuten der nächsten Runde.
Allerdings war es nicht die Glocke, die Kate nun hörte, sondern das Klingeln ihres Handys. Und es war der Klingelton, der ausschließlich für Anrufe des FBIs reserviert war.
Sie spuckte den Mundschutz aus und erhob ihre behandschuhten Hände in Richtung ihres Trainers. „Tut mir leid“, sagte sie. „Den Anruf muss ich annehmen.“
Ihr Trainer wusste Bescheid über ihren Teilzeitjob als Agent beim FBI. Er hielt sie für eine beinharte Lady (dies waren seine Worte, nicht ihre), weil sie sich weigerte, sich komplett von solch einem Job zurückzuziehen. Deshalb löste er ihre Handschuhe so schnell wie möglich.
Kate stieg durch die Seile und eilte zu ihrer Sporttasche, die an der hinteren Wand stand. Sie behielt sie immer in Reichweite, für den Fall, wenn eben solch ein Anruf kam. Sie griff das Handy und verspürte sowohl Aufregung als auch Beklommenheit, als sie den Namen von Deputy Director Duran auf dem Display sah.
„Agent Wise hier“, sagte sie.
„Wise, hier ist Duran. Haben Sie einen Moment?“
„Ja“, sagte sie, wobei sie einen sehnsüchtigen Blick in Richtung des Boxrings warf, wo Margos Trainer gerade mit ihr daran arbeitete, vorgetäuschte Schläge rechtzeitig zu erkennen. „Was kann ich für Sie tun?“
„Ich hatte gehofft, dass Sie sich um einen Fall kümmern können, und zwar umgehend. Sie und DeMarco müssen noch heute abfliegen.“
„Ich kann noch nicht sagen, ob das klappt“, sagte sie, und das entsprach der Wahrheit. Dies kam sehr kurzfristig und während der letzten Wochen hatte sie mehrfach mit ihrer Tochter Melissa darüber gesprochen, dass sie sich nicht mehr für solche Last-Minute-Jobs zur Verfügung halten wollte. Während des letzten Monats hatte sie sehr viel Zeit mit Melissa und ihrer Enkelin Michelle verbracht, und sie hatten endlich so etwas wie eine Routine etabliert. Eine Routine, bei der die Familie an erster Stelle stand.
„Ich weiß es zu schätzen, dass Sie gleich an mich gedacht haben“, begann Kate. „Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich zusagen kann. Es ist extrem kurzfristig. Und dass wir irgendwohin fliegen müssen… lässt darauf schließen, dass es sich um einen Fall handelt, der ziemlich weit weg ist. Ich weiß nicht, ob ich mich auf einen langen Trip einlassen kann. Um welchen Ort handelt es sich denn eigentlich?“
„New York. Kate… ich bin mir ziemlich sicher, dass dieser Fall mit dem Nobilini-Fall zu tun hat.“
Bei dem Namen lief es Kate kalt den Rücken herunter. Sie vernahm ein Klingeln in den Ohren, und das hatte nichts mit dem Schlag zu tun, den ihr Margo kurz zuvor versetzt hatte. Flashbacks des Falls, der sich vor acht Jahren ereignet hatte, durchfluteten ihre Erinnerung – quälend, sie geradezu auslachend.
„Kate?“
„Ich bin noch dran“, sagte sie. Erneut blickte sie zum Boxring herüber. Margo machte Dehnübungen und joggte leichtfüßig auf der Stelle, bereit für die nächste Runde.
Es war schade, dass es keine nächste Runde geben würde. Denn sobald Kate den Namen Nobilini vernommen hatte, war ihr klar, dass sie den Fall einfach annehmen musste. Sie konnte keinesfalls ablehnen.
Vor acht Jahren hatte sie sich an dem Nobilini-Fall die Zähne ausgebissen – eine der wenigen echten Niederlagen ihrer Karriere.
Und dies war nun die Gelegenheit, den Fall doch noch zum Abschluss zu bringen – den einzigen Fall, dem sie nicht gewachsen gewesen war, zu lösen,
„Wann geht der Flug?“, fragte sie Duran.
„Dulles Airport zum JFK Airport. Abflug in vier Stunden.“
Schweren Herzens dachte sie an Melissa und Michelle. Melissa würde kein Verständnis dafür aufbringen können, aber Kate konnte sich diese Gelegenheit schlichtweg nicht entgehen lassen.
„Ich werde da sein“, sagte sie.
Kapitel zwei
In weniger als anderthalb Stunden schaffte Kate es, ihre Sachen zu packen und nach Richmond zu fahren. Als sie sich mit ihrem Partner Kristen DeMarco bei einem Starbucks am Dulles International Airport traf, blieben ihnen kaum mehr als zehn Minuten bis zum Abflug. Die meisten anderen Passagiere waren schon an Bord der Maschine.
DeMarco lächelte und schüttelte ihren Kopf, als sie im Stechschritt und mit ihrem Kaffee in der Hand auf Kate zuging. „Wenn du einfach nach Washington DC umziehen würdest, dann müsstest du dich nicht immer so furchtbar beeilen und dir solch einen Stress machen.“
„Das geht nicht“, entgegnete Kate, als sie aufeinandertrafen und gemeinsam zum Gate eilten. „Es reicht schon, dass dieser sogenannte Teilzeitjob mich so viel von meiner Familie fernhält. Wenn es auch noch eine Voraussetzung wäre, dass ich nach Washington DC umziehen muss, dann wäre ich nicht mehr dabei.“
„Und, wie geht es eigentlich Melissa und Michelle?“, wollte DeMarco wissen.
„Gut geht es ihnen. Ich habe mit Melissa auf den Weg hierher telefoniert. Sie sagte, dass sie mich versteht und hat mir Glück gewünscht. Und zum ersten Mal glaube ich, dass sie es sogar ernst gemeint hat.“
„Gut. Ich habe ja gesagt, dass sie sich erstmal an die Situation gewöhnen muss. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es supercool ist, so eine beinharte Mutter zu haben.“
„Naja, ich bin ja wohl alles andere als beinhart“, sagte Kate, als sie das Gate erreichten. Allerdings musste sie jetzt kurz daran denken, womit sie gerade beschäftigt gewesen war, als Durans Anruf sie erreichte, und meinte, das Kompliment eigentlich doch akzeptieren zu können; wenigstens ein bisschen.
„Das letzte, was ich von dir gehört habe“, sagte Kate zu DeMarco, „war, dass du an einem Dreifachmord in Maine gearbeitet hast.“
„Ja, habe ich. Vor einer Woche haben wir den Fall abgeschlossen. Insgesamt sechs Agenten waren daran beteiligt. Als Duran mich hinsichtlich dieses Falls anrief, sagte er, er wolle dich hinschicken und fragte, ob ich wieder gern mit dir ein Team bilden würde. Ich war natürlich sofort Feuer und Flamme. Ich habe ihm gesagt, dass ich auch in Zukunft bei jeder Gelegenheit mit dir im Team arbeiten will.“
„Danke“, sagte Kate und beließ es dabei. Eigentlich bedeutete ihr diese Aussage viel, aber sie wollte gegenüber DeMarco nicht rührselig erscheinen.
Gemeinsam bestiegen sie das Flugzeug und suchten sich ihre Plätze, die direkt nebeneinander lagen. Als sie es sich bequem gemacht hatten, griff DeMarco in ihr Handgepäck und zog eine dicke Akte heraus, aus der allerlei Dokumente und anderer Papierkram hervor quollen.
„Das ist alles, was es an Informationen in Sachen des Nobilini-Falls gibt“, sagte sie. „In Anbetracht dessen, dass du damals von Anfang an dabei warst, gehe ich davon aus, dass du davon alles bis ins Detail kennst?“
„Wahrscheinlich“, meinte Kate.
„Es ist ein ziemlich kurzer Flug“, meinte DeMarco. „Ich möchte die Details lieber aus erster Hand von dir hören, als die Notizen und Akten durchzugehen.“
Genauso dachte auch Kate. Das starke Bedürfnis, das sie verspürte, die Details mit DeMarco zu teilen, überraschte sie allerdings ein wenig. All die Jahre hatte dieser Fall an ihr genagt, er war wie eine juckende Stelle am Rücken gewesen, an die man nicht heran kam. Sie hatte jedoch mit der Zeit gelernt, den Fall und seine Details gedanklich auszusperren, um nicht ständig an die einzige bittere Niederlage ihrer Karriere erinnert zu werden.
Als das Flugzeug langsam auf das Rollfeld zusteuerte, begann sie, DeMarco all die Details darzulegen. Einmal wurde sie von der Ansage zur sicheren Anwendung der Rettungswesen und dergleichen unterbrochen, und während dieser kurzen Pause wurde ihr bewusst, dass ihr all diese vertrauten Einzelheiten des Nobilini-Falls jetzt doch wie ganz neue Informationen vorkamen.
Vielleicht lag es an den vielen Jahren, die der Fall nun zurücklag, oder an ihrer halbherzigen Pensionierung, oder vielleicht lag aus auch an der Kombination aus beidem; jedenfalls erschien er ihr wie ein neuer und aktiver Falls.
Sie erzählte DeMarco, dass sich der Fall in einem noblen Vorort von New York City zugetragen hatte. Es hatte nur einen Toten gegeben, aber irgendein Mitglied im Kongress, das eine enge Verbindung zu dem Opfer gehabt hatte, hatte starken Druck auf das FBI ausgeübt. Es hatte weder Fingerabdrücke noch andere Hinweise jeglicher Art gegeben. Das Opfer, ein Mann namens Frank Nobilini, war im Midtown District von New York City tot gefunden worden. Es hatte den Anschein, als sei er auf dem Weg zur Arbeit gewesen und den einen Block von der Tiefgarage, wo er seinen Wagen abgestellt hatte, bis zu seinem Büro zu Fuß gegangen. Der eine Schuss in den Hinterkopf, mit dem er niedergestreckt worden war, erinnerte stark an eine Hinrichtung.
„Wie kann es denn wie eine Hinrichtung aussehen, wenn er offensichtlich gegen seinen Willen in eine finstere Seitengasse geschleift wurde?“, fragte DeMarco.
„Das ist eine der offenen Fragen. Es wurde angenommen, dass Nobilini zusammengeschlagen wurde, bevor man ihn in diese Seitengasse schleifte und ihm in den Hinterkopf schoss. Blut und Gehirnmasse waren über die ganze Wand des Gebäudes, neben dem sich die Leiche Nobilinis befand, verteilt. Die Schlüssel zu seinem BMW hatte er noch in der Hand.“
DeMarco nickte nur und ließ Kate fortfahren.
„Das Opfer lebte in einem recht noblen Vorort namens Ashton“, sagte Kate. „Es ist einer dieser Orte, dessen Vielzahl an Antiquitätenläden, überteuerten Restaurants und exklusiven Immobilien viele Besucher anlockt.“
„Und das ist genau das, was ich nicht verstehe“, meinte DeMarco. „Das ist doch einer der Orte, an dem garantiert viel getratscht wird, oder nicht? Man sollte doch annehmen, dass irgendjemand etwas wusste, oder dass ein Gerücht im Umlauf war hinsichtlich dessen, wer der Killer ist. Aber dazu steht hier absolut nichts“, sagte sie, und klopfte ungeduldig mit dem Finger auf die umfangreiche Akte.
„Das hat mich auch immer gewurmt“, räumte Kate ein. „Ashton ist ein schickes Pflaster. Aber abgesehen davon, ist es auch eine sehr eng verbandelte Gemeinde. Jeder kennt jeden dort. Generell gehen alle höflich miteinander um. Nachbarn, die sich untereinander helfen. Gut besuchte Veranstaltungen der Schule, um Geld für dies oder jenes zu sammeln. Eben alles, was so dazugehört. Der Ort hat eine blütenreine Weste.“
„Gab es keine Motive für den Mord?“, fragte DeMarco.
„Von einem Motiv habe ich nie etwas gehört. Ashton hat kaum mehr als dreitausend Einwohner. Und es mag zwar viele Besucher aus New York City und den umliegenden Gemeinden anziehen, hat aber dennoch eine extrem niedrige Kriminalitätsrate. Deshalb war der Nobilini-Mord damals vor acht Jahren so eine große Sache für den Ort Ashton, obwohl die Tat selbst ja gar nicht dort verübt wurde.“
„Und es gab nie andere Morde, die dem Nobilini-Mord ähnelten?“
„Nein. Jedenfalls nicht bis heute. Ich bin der Meinung, dass die starke FBI-Präsenz den Killer damals vergrault hat. In solch einer kleinen Stadt ist es fast unmöglich, das FBI nicht zu bemerken.“ Hier hielt Kate inne und griff nach der dicken Akte, die vor DeMarco auf dem Klapptisch lag. „Was genau hat dir Duran denn eigentlich zu dem Nobilini-Fall erzählt?“
„Eigentlich kaum etwas. Er sagte nur, dass wir es sehr eilig hätten und bat deshalb, dass ich mich anhand der Akte mit dem Fall vertraut mache.“
„Hast du mitbekommen, welche Art Waffe im Nobilini-Mord benutzt wurde?“, fragte Kate.
„Ja, und zwar eine Ruger Hunter Mark IV, was ich merkwürdig finde. Das wirkt unprofessionell. Das ist eine verdammt teure Waffe für den Mord an einem scheinbar zufälligen Opfer; einem Mord ohne jedes erkennbare Motiv.“
„Da bin ich ganz deiner Meinung. Die Kugel und die Hülse gaben damals schnell Aufschluss auf die verwendete Tatwaffe. Aber allein die Tatsache, dass der Mord mit einer so schönen und sehr teuren Waffe verübt wurde, ist an sich schon aussagekräftig. Es besagt, dass jemand, der keine Ahnung vom Töten hat, diesen Mord verübt hat.“
„Was verleitet dich zu der Annahme?“
„Jeder, der etwas von Töten versteht, wüsste, dass eine Ruger Hunter Mark IV eine Patronenhülse hinterlässt. Damit ist diese Waffe eine wirklich schlechte Wahl.“
„Und ich gehe davon aus, dass unser jetziges Opfer mit eben solch einer Waffe getötet wurde?“, fragte DeMarco.
„Duran sagt, der Mord wurde mit genau derselben Waffe verübt.“
„Das heißt also, dass der Nobilini-Killer sich acht Jahre Zeit gelassen hat, um erneut zuzuschlagen. Höchst merkwürdig.“
„Das bleibt abzuwarten“, entgegnete Kate. „Alles, was mir Duran mitgeteilt hat, war, dass das Opfer sozusagen in Pose zurückgelassen wurde. Und dass es sich bei der Waffe, die das Opfer tötete, um die gleiche Waffe handelt wie im Nobilini-Fall.“
„Ja, und er sagte auch, dass der Mord in Midtown New York verübt wurde. Ich frage mich, ob das jetzige Opfer irgendetwas mit dem Ort Ashton verbindet.“
Kate zuckte nur mit den Schultern. Kurz darauf wurde das Flugzeug auf Grund von Turbulenzen leicht durchgeschüttelt, und beide schwiegen.
Es hatte Kate gut getan, die Details des Nobilini-Falls noch einmal Revue passieren zu lassen. Damit hatte sie die Spinnenweben beseitigt, die den Fall umgaben, und ihn wieder zum Leben erweckt. Und es kam ihr in den Sinn, dass die acht Jahre, die seit dem Fall vergangen waren, es ihr nun vielleicht erlaubten, die Geschehnisse aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten.
* * *
Es war schon eine ganze Weile her, seitdem Kate zum letzten Mal in New York gewesen war. Mit ihrem verstorbenen Mann Michael hatte Kate kurz vor seinem Tod ein Wochenende hier verbracht. Sie staunte jedesmal aufs Neue darüber, wie unglaublich lebendig, voll und bunt New York war. Die Straßen waren so dermaßen verstopft, dass New York den Verkehrskollaps, der ständig in Washington DC drohte, absolut lächerlich erscheinen ließ. Dass es fast 21 Uhr an einem Freitagabend war, machte die Sache kaum besser.
Sie erreichten den Tatort um 20:42 Uhr. Kate parkte den Mietwagen so dicht wie möglich am Polizeiabsperrband. Der Tatort befand sich in einer finsteren Seitengasse der 43. Straße, nur einige Blocks von Central Station – wo zu jeder Tages- und Nachtzeit viel los war – entfernt. Am Zugang zu der Gasse standen zwei mit den Kühlern einander zugewandt parkende Polizeiwagen. So versperrten sie weder die Sicht auf das gelbe Band, das den Tatort umgab, noch versperrten sie die Seitengasse selbst, aber machten dennoch jedem Neugierigen, der versuchte, einen Blick zu erheischen, klar, dass dies Ärger nach sich ziehen würde.
Als Kate und DeMarco das Band erreichten, versuchte ein Beamter, ihnen den Zugang zu versperren, doch als Kate ihm ihre FBI-Marke zeigte, zuckte er nur mit den Schultern und hob das Band für sie an, so dass sie darunter hindurch schlüpfen konnten. Kate fiel auf, dass der Beamte zumindest nicht offensichtlich DeMarco eines näheren Blickes würdigte und fragte sich unbewusst, ob DeMarco, die offen lesbisch lebte, an männlichem Interesse Anstoß genommen oder es als Kompliment verstanden hätte.
„FBI“, kommentierte der Beamte nur, „ich habe schon gehört, dass sie euch gerufen haben. Scheint mir etwas übertrieben. Wie es aussieht, handelt es sich hier um einen ziemlich simplen Fall.“
„Wir überprüfen nur etwas“, meinte Kate, als sie und DeMarco in die finstere Gasse traten.
Die Polizeiwagen am Zugang der Seitengasse waren in einem Winkel geparkt, so dass ihre Scheinwerfer die ansonsten dunkle Gasse beleuchteten. Die langen Schatten von Kate und DeMarco ließen die Szene geradezu unheimlich erscheinen.
Am Ende der Gasse, wo sie auf eine Steinmauer traf, befanden sich zwei Polizeibeamte und ein Beamter in Zivil, die alle in einem Halbkreis standen. Etwas lehnte in ihrer Mitte an der Mauer. Das Opfer, nahm Kate an. Sie gingen zu den dreien hinüber, zeigten erneut ihre FBI-Marken, und stellten sich den drei Beamten vor.
„Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte einer der Beamten. „Um ehrlich zu sein, frage ich mich allerdings, warum es dem FBI so wichtig ist, hier jemanden herzuschicken.“
„Herrgott nochmal“, meinte der Beamte in Zivil. Er schien in seinen Vierzigern zu sein und wirkte leicht ungepflegt. Lange, dunkle Haare, Dreitagebart und eine Brille, die Kate an jedes Bild erinnerte, das sie jemals von Buddy Holly gesehen hatte.
„Das haben wir doch nun schon mehrfach durchgekaut“, sagte er. Er blickte Kate an, rollte die Augen und fuhr fort: „Wenn es um einen Tatort geht, der älter als eine Woche ist, will das NYPD nichts mehr davon wissen. Es übersteigt deren Vorstellungskraft, dass jemand einen ungeklärten Mord von vor acht Jahren ausbuddeln will. Ich war übrigens derjenige, der das FBI verständigt hat. Ich weiß, dass sich das FBI damals in den Nobilini-Fall eingeschaltet hat. Da ging es doch auch um irgendeine Freundschaft mit einem Kongressmitglied, richtig?“
„Richtig“, sagte Kate. „Und ich war als der leitende Agent mit dem Fall betraut.“
„Oh. Schön Sie kennenzulernen. Ich bin Detective Luke Pritchard. Ich bin ein wenig besessen von ungeklärten Fällen. Was hier meine Aufmerksamkeit erregt hat, war die Waffe, die scheinbar benutzt wurde, und die Tatsache, dass der Mord nach einer Hinrichtung aussieht. Wenn Sie genau hinschauen, sehen Sie Schrammen an der Stirn des Opfers. Der Killer hat ihn offensichtlich gezwungen, sich mit der Stirn an die Steinmauer zu lehnen, und zwar genau hier.“ Er legte seine Hand an die Mauer, auf die großflächig inzwischen getrocknetes Blut gespritzt war.
„Darf ich?“, fragte Kate.
Die zwei Polizeibeamten zuckten mit den Schultern und traten einen Schritt zurück. „Tun Sie sich keinen Zwang an“, sagte einer von ihnen. „Wo jetzt ein Detective und zwei FBI-Agents involviert sind, überlassen wir den Fall gerne Ihnen.“
„Viel Spaß dabei“, fügte der andere Beamte hinzu, als sich beide schon abwandten und die Seitengasse verließen.
Kate und DeMarco gingen vor dem Opfer in die Hocke. Pritchard trat einen Schritt zurück, um ihnen etwas mehr Raum zu geben, blieb aber dicht bei ihnen.
„Also“, begann DeMarco, „ich würde sagen, es ist ziemlich klar, woran er gestorben ist.“
Dies war richtig. Im Hinterkopf des Opfers befand sich ein einzelnes Einschussloch. Es war recht sauber, wenn auch an den Rändern leicht verkohlt und blutig – genau wie damals bei Frank Nobilini. Dieses Opfer hier war ein Mann, den Kate auf Ende Dreißig oder Anfang Vierzig schätzte. Er trug teure Fitnesskleidung – eine dünne Kapuzenjacke mit Reißverschluss und teuer wirkende Fitnesshosen. Die Schnürbänder seiner High-Class-Laufschuhe waren sorgfältig gebunden und die Apple-Kopfhörer lagen wie absichtlich platziert neben seinem Kopf.
„Ist er schon identifiziert worden?“, fragte Kate.
„Ja“, sagte Pritchard. „Er heißt Jack Tucker. Nach den Ausweispapieren in seinem Portemonnaie wohnt er in einer Stadt namens Ashton. Das war für mich eine noch stärkere Verbindung zu dem Nobilini-Fall.“
„Kennen Sie Ashton, Detective?“, fragte Kate.
„Nicht besonders gut. Ich bin ein paar Mal durchgefahren, aber der Ort sagt mir nicht sonderlich zu. Zu perfekt, zu ruhig; stößt mir sauer auf.“
Kate wusste, was der Detective damit meinte. Sie fragte sich, wie er es wohl finden würde, wieder nach Ashton zurückkehren zu müssen.
„Wann wurde die Leiche entdeckt?“, fragte DeMarco.
„Heute morgen um 4:30 Uhr. Um kurz nach 5 Uhr bin ich hier am Tatort eingetroffen und habe gleich die Verbindungen zum Nobilini-Fall erkannt. Ich musste das NYPD geradezu anflehen, die Leiche nicht zu bewegen, bis Sie eintreffen, denn ich meine, Sie müssen den Tatort und die Leiche selbst in Augenschein nehmen.“
„Na, das hat Sie bei denen sicher sehr beliebt gemacht“, kommentierte Kate.
„Ach was, daran bin ich nun wirklich gewöhnt. Ich meine das ernst, wenn ich sage, dass mich viele der Polizisten hier „Cold Case Pritchard“ nennen.“
Kate wusste, dass unaufgeklärte Fälle polizeiintern oftmals als „Cold Cases“ bezeichnet wurden und fand den Spitznamen für Pritchard daher passend.
„Sie haben das ganz richtig entschieden“, stimmte Kate ihm zu. „Selbst wenn sich herausstellt, dass die Fälle nichts miteinander zu tun haben… dennoch läuft ja jemand frei herum, der diesen Mann erschossen hat. Jemand, den wir so schnell wie möglich ausfindig machen müssen, denn wir müssen in Betracht ziehen, dass dies kein Einzelfall war.“
„Tja, dazu kann ich nichts sagen“, sagte Pritchard. „Ich habe das, was mir zu dem Fall durch den Kopf ging, als Sprachnotiz aufgenommen. Sie können es sich gern anhören.“