Vermisst

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Vermisst
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Copyright © 2018 Blake Pierce Alle Rechte vorbehalten. Außer durch eine Genehmigung nach dem U.S. Copyright Act von 1976, darf kein Teil dieses Buches ohne ausdrückliche Genehmigung der Autorin vervielfältigt, vertrieben oder in irgendeiner Form übermittelt, in Datenbanken oder Abfragesystemen gespeichert werden. Dieses E-Book ist nur für ihren persönlichen Gebrauch lizenziert. Es darf nicht weiterverkauft oder an Dritte weitergegeben werden. Wenn Sie dieses Buch mit anderen teilen möchten, erwerben Sie bitte für jeden Empfänger eine zusätzliche Kopie. Wenn Sie dieses Buch lesen, aber nicht gekauft haben, oder es nicht für Sie gekauft wurde, geben Sie es bitte zurück und erwerben Sie eine eigene Kopie. Vielen Dank, dass Sie die harte Arbeit der Autorin respektieren. Dieses Buch ist eine fiktive Geschichte. Namen, Charaktere, Unternehmen, Organisationen, Orte, Ereignisse und Vorfälle sind von der Autorin frei erfunden oder werden fiktiv verwendet. Ähnlichkeiten mit echten Personen, lebendig oder verstorben, sind zufällig. Copyright Umschlagsbild Fer gregory, genutzt unter der Lizenz von Shutterstock.com

Blake Pierce

Blake Pierce ist der Autor der meistverkauften RILEY PAGE Krimi-Serie, die 13 Bücher umfasst (und weitere in Arbeit). Blake Pierce ist ebenfalls der Autor der MACKENZIE WHITE Krimi-Serie, die neun Bücher umfasst (und weitere in Arbeit); der AVERY BLACK Mystery-Serie, bestehend aus sechs Büchern; der KERI LOCKE Mystery-Serie, bestehend aus fünf Büchern; der Serie DAS MAKING OF RILEY PAIGE, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); der KATE WISE Mystery-Serie, bestehend aus zwei Büchern (und weitere in Arbeit); der spannenden CHLOE FINE Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit); und der spannenden JESSE HUNT Psycho-Thriller-Serie, bestehend aus drei Büchern (und weitere in Arbeit).

Als begeisterter Leser und lebenslanger Fan der Mystery- und Thriller-Genres liebt Blake es, von seinen Lesern zu hören. Bitte besuchen Sie www.blakepierceauthor.com, um mehr zu erfahren und in Kontakt zu bleiben.

BÜCHER VON BLAKE PIERCE

JESSIE HUNT PSYCHOTHRILLER-SERIE

DIE PERFEKTE FRAU (BAND #1)

DER PERFEKTE BLOCK (BAND #2)

DAS PERFEKTE HAUS (BAND #3)

DAS PERFEKTE LÄCHELN (BAND #4)

DIE PERFEKTE LÜGE (BAND #5)

CHLOE FINE PSYCHOTHRILLER-SERIE

NEBENAN (BAND #1)

DIE LÜGE EINES NACHBARN (BAND #2)

SACKGASSE (BAND #3)

STUMMER NACHBAR (BAND #4)

KATE WISE MYSTERY-SERIE

WENN SIE WÜSSTE (BAND #1)

WENN SIE SÄHE (BAND #2)

WENN SIE RENNEN WÜRDE (BAND #3)

WENN SIE SICH VERSTECKEN WÜRDE (BAND #4)

WENN SIE FLIEHEN WÜRDE (BAND #5)

WENN SIE SICH FÜRCHTEN WÜRDE (BAND #6)

DAS MAKING OF RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

BEOBACHTET (BAND #1)

WARTET (BAND #2)

LOCKT (BAND #3)

NIMMT (BAND #4)

LAUERT (BAND #5)

RILEY PAIGE MYSTERY-SERIE

VERSCHWUNDEN (BAND #1)

GEFESSELT (BAND #2)

ERSEHNT (BAND #3)

GEKÖDERT (BAND #4)

GEJAGT (BAND #5)

VERZEHRT (BAND #6)

VERLASSEN (BAND #7)

ERKALTET (BAND #8)

VERFOLGT (BAND #9)

VERLOREN (BAND #10)

BEGRABEN (BAND #11)

ÜBERFAHREN (BAND #12)

GEFANGEN (BAND #13)

RUHEND (BAND #14)

GEMIEDEN (BAND #15)

VERMISST (BAND #16)

MACKENZIE WHITE MYSTERY-SERIE

BEVOR ER TÖTET (BAND #1)

BEVOR ER SIEHT (BAND #2)

BEVOR ER BEGEHRT (BAND #3)

BEVOR ER NIMMT (BAND #4)

BEVOR ER BRAUCHT (BAND #5)

EHE ER FÜHLT (BAND #6)

EHE ER SÜNDIGT (BAND #7)

BEVOR ER JAGT (BAND #8)

VORHER PLÜNDERT ER (BAND #9)

VORHER SEHNT ER SICH (BAND #10)

VORHER VERFÄLLT ER (BAND #11)

VORHER NEIDET ER (BAND #12)

AVERY BLACK MYSTERY-SERIE

DAS MOTIV (BAND #1)

LAUF (BAND #2)

VERBORGEN (BAND #3)

GRÜNDE DER ANGST (BAND #4)

RETTE MICH (BAND #5)

ANGST (BAND #6)

KERI LOCKE MYSTERY-SERIE

EINE SPUR VON TOD (BAND #1)

EINE SPUR VON MORD (BAND #2)

EINE SPUR VON SCHWÄCHE (BAND #3)

EINE SPUR VON VERBRECHEN (BAND #4)

EINE SPUR VON HOFFNUNG (BAND #5)

Prolog

Lori Tovar fuhr in die Einfahrt des Hauses ein, in dem sie beinahe ihr gesamtes Leben gewohnt hatte. Sie machte den Motor aus, blieb sitzen und starrte bloß auf das charmante dreistöckige Gebäude.

Sie dachte an einen bekannten Ausdruck.

Als erste da, als letzte weg.

Sie lächelte leicht traurig. Die Leute sagten das oft von ihr.

Sie arbeitete als Krankenschwester im South Hill Krankenhaus und war dafür bekannt, dass sie längere Dienste als alle anderen übernahm. Sie vertrat oft andere Krankenschwestern und nahm selbst nur selten frei. Es war nicht so, als würde sie sich besonders verantwortlich fühlen. Es war bloß so, dass es sich für sie irgendwie natürlich anfühlte lange Stunden zu arbeiten.

Sie murmelte diese Worte vor sich hin: „Als erste da, als letzte weg.“

Diese Phrase fasste ihr Leben in mehr als nur einer Hinsicht zusammen. Sie war das erste Kind von vier Geschwistern, welches in diesem großen, einst glücklichen Haus, gelebt hatte. In den letzten Jahren waren ihre Geschwister über das ganze Land verteilt ansässig geworden.

Und dann war Dad natürlich einfach gegangen. Niemand hatte es kommen sehen.

Lori und ihre Brüder und Schwester hatten immer das Gefühl gehabt, dass sie einer perfekten Bilderbuchfamilie angehörten. Es war für sie alle ein Schock gewesen vor einigen Jahren eines Besseren belehrt zu werden, als Dad Mom für eine andere Frau verließ.

Und hier war Lori nun – das letzte Kind, dass noch in der Stadt lebte und daher immer diejenige, die vorbeikam, um nach Mom zu schauen. Sie schaute mindestens einmal die Woche vorbei, um sie auf einen Kaffee auszuführen oder einfach Zeit mit ihr zu verbringen und zu reden und zu versuchen ihre Mutter aus den Anflügen tiefer Traurigkeit herauszulocken.

Als letzte weg.

Lori seufzte tief, stieg dann aus dem Auto und ging an den makellos angeordneten Pflanzen und Büschen vorbei auf die Eingangstür zu. Sie machte am Briefkasten halt und öffnete diesen, um nachzusehen, ob Post gekommen war. Der Briefkasten war leer.

Lori nahm an, dass Mom ihn bereits gelehrt haben musste, was ein gutes Zeichen sein könnte. Vielleicht bedeutete es, dass Mom sich nicht auf dem Weg in einen ihrer extremen Apathieschübe befand.

Doch Lori war entsetzt, dass die Tür einfach aufging, als sie die Klinke herunterdrückte. Sie schüttelte den Kopf. Sie musste Mom wohl bereits tausendmal gesagt haben, dass sie die Tür abschließen solle, auch tagsüber, besonders jetzt, wo sie alleine lebte.

Während Loris Kindheit war es unnötig gewesen, die Tür immer verschlossen zu halten. Doch das waren noch unschuldigere Zeiten gewesen. Die Welt hatte sich verändert und Kriminalitätsraten waren gestiegen, sogar in diesem wohlsituierten Viertel. Einbrüche passieren immer öfter.

Dann muss ich sie wohl noch einmal daran erinnern, dachte Lori sich.

Nicht, dass es etwas bringen würde.

Alte Gewohnheiten sind hartnäckig.

Sie trat ins Haus und rief: „Mom, ich hatte heute früher Schluss auf der Arbeit. Dachte mir, ich komme mal vorbei.“

Sie erhielt keine Antwort.

Sie rief erneut: „Mom, bist du zuhause?“

Wieder kam keine Antwort. Das überraschte Lori nicht sonderlich. Es war gut möglich, dass Mom oben ein Nickerchen machte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Lori nicht hatte kommen hören, weil sie schlief.

Aber es war nicht gut, dass Mom die Tür aufgesperrt ließ, während sie ein Nickerchen machte.

Ich muss mit ihr darüber sprechen.

Währenddessen wurde Lori etwas unentschlossen. Es wäre schade jetzt hochzugehen und Mom zu wecken, wenn sie so tief und fest schlief. Andererseits hatte sie einige Mühen auf sich genommen, um ihren Dienstplan so umzustellen, dass sie vorbeikommen konnte.

Ich hätte vorher anrufen sollen, dachte sie sich.

Sie beschloss hochzugehen und kurz ins Schlafzimmer ihrer Eltern reinzuschauen, um zu sehen wie fest Mom denn nun schlief. Sollte sie aufwachen, würde Lori ihr sagen, dass sie da war. Wenn nicht, würde sie vielleicht einfach leise wieder gehen.

Als sie die Treppen hochstieg, erlebte Lori einen bekannten Anflug tiefer Nostalgie. Wie immer rief dieses Haus viele Erinnerungen hervor, die meisten davon waren sehr schön. An Loris jetzigem Leben gab es nichts Schlechtes, aber sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass sie ihre glücklichsten Tage genau hier verbracht hatte.

Werde ich jemals wieder so glücklich sein? fragte sie sich.

Sie hoffte darauf, dass ihr Leben eines Tages ein wenig kompletter sein würde, als es jetzt war.

Und wäre es nicht wundervoll, wenn es genau hier passieren könnte?

Lori und ihr Mann Roy hatten oft darüber gesprochen, dieses Haus zu kaufen. Sie fanden beide, dass Mom es in einem kleineren Haus besser hätte, oder vielleicht in einer gemütlichen Wohnung, um die sie sich besser kümmern könnte, und wo sie nicht andauernd daran erinnert werden würde, wie Dad sie verlassen hatte. Es wäre sicherlich auch besser für ihr Allgemeinbefinden.

Lori dachte sich, dass dies der perfekte Ort wäre, um ihre eigene Familie zu gründen, was, wie sie und Roy beide fanden, bald passieren sollte. Für einen Moment konnte sie beinahe den Klang lachender Kinderstimmen, und herumlaufender Kinderfüße hören, die von einem Zimmer ins nächste rannten, so wie sie und ihre Geschwister es vor Jahren selbst getan hatten. Wenn Mom doch nur bereit wäre umzuziehen, und wenn sie ihnen natürlich doch nur ein Angebot machen würde, dass sie sich leisten konnten.

Mom sagte oft, dass sie langsam ungeduldig auf Enkelkinder wartete, aber sie schien nicht zu begreifen, dass ihr Auszug diesen Prozess beschleunigen könnte. Sie bestand stur darauf weiter hier zu wohnen, und weigerte sich auch nur darüber nachzudenken, irgendwo anders hinzuziehen.

 

Vielleicht ändert sie ja irgendwann ihre Meinung, dachte Lori.

Falls das passieren würde, so hoffte sie, dass es passieren mochte, bevor sie Kinder kriegte.

Als Lori im Flur des zweiten Stocks angelangt war, bemerkte sie, dass Moms Schlafzimmertür einen Spalt weit offenstand. Normalerweise schloss Mom die Tür, wenn sie sich hinlegte. Plötzlich kam es Lori ein bisschen komisch vor, dass Mom sie nicht hatte rufen hören. Wurde sie vielleicht langsam etwas taub? Wenn dem so war, so hatte Lori es bisher nicht bemerkt.

Lori ging auf die Schlafzimmertür zu und stieß sie leise auf. Im Schlafzimmer war niemand und das Bett sah perfekt gemacht aus.

Sie dachte sich, dass Mom wohl irgendwo hingegangen war.

Und das ist wahrscheinlich gut.

Mom saß in letzter Zeit viel zu oft eingesperrt alleine in diesem riesigen Haus rum. Als Lori vor ein paar Tagen da war, hatte Mom erwähnt, dass sie vielleicht mit ein paar Freunden ausgehen würde, mit denen sie freitags in der Kirche Bingo spielte. Lori hatte ihr geantwortet, dass sie das für eine ausgezeichnete Idee hielt.

Aber heute war nicht Freitag, und wo auch immer Mom hingegangen sein mochte, es war besorgniserregend, dass sie die Eingangstür nicht abgeschlossen hatte. Lori begann sich zu fragen – hatte Mom vielleicht begonnen mental etwas abzubauen? Dieser Gedanke hatte ihr in letzter Zeit oft Sorgen bereitet. Moms Erinnerungsgabe war immer außerordentlich gut gewesen, doch in letzter Zeit hatte sie begonnen Kleinigkeiten zu vergessen.

Lori versuchte sich damit zu beruhigen, dass Mom immer noch ziemlich jung war für das Eintreten von Demenz. Jedoch wusste sie aufgrund ihrer Arbeit im Krankenhaus, dass es doch möglich war. Sie wollte gar nicht daran denken, dass sie mit Mom darüber sprechen müsste, und auch nicht daran, wie viel Leid und Sorgen mit diesem Gespräch sicherlich einhergehen würden.

In der Zwischenzeit, so beschloss Lori, konnte sie aber ebenso gut nach Hause fahren.

Sie stieg die Treppe wieder hinunter und hielt kurz inne, um ins Esszimmer hineinzuschauen. Ein kurzer Schmerz durchfuhr sie, als sie den langen Esstisch nicht an seinem gewohnten Platz wiederfand, wo sie, ihre Schwester und ihre Brüder leckere Mahlzeiten und die Gespräche mit ihren Eltern genossen hatten.

So fest entschlossen Mom auch gewesen war, genauso weiterzuleben, wie sie es bisher getan hatte, so war sie gleichzeitig einfach nicht mehr in der Lage gewesen, alleine an diesem großen Tisch zu sitzen. Er bot genug Platz, um alle Familienmitglieder drum herum zu versammeln, die nicht mehr im Haus lebten, und konnte sogar ausgezogen werden, um zusätzlichen Gästen Platz zu bieten. Lori konnte verstehen, wieso Mom den Tisch loswerden wollte. Sie hatte ihr geholfen den Tisch und die dazugehörigen Stühle zu verkaufen und eine kleinere Esszimmergarnitur zu kaufen.

Dann fiel Lori etwas Merkwürdiges auf. Normalerweise standen vier Stühle um den neuen quadratischen Esstisch herum. Doch jetzt waren es nur drei.

Mom musste den vierten Stuhl irgendwo anders hingestellt haben, doch wieso?

Vielleicht hatte sie ihn benutzt, um eine Glühbirne auszuwechseln, oder an ein hohes Regal zu kommen.

Lori dachte besorgt: Eine weitere Sache, über die wir reden müssen.

Mom besaß schließlich eine Tretleiter, die sehr viel sicherer für solche Aufgaben benutzt werden konnte. Sie sollte es besser wissen, als einen Stuhl zu verwenden.

Lori schaute sich um und versuchte den verschwundenen Stuhl zu entdecken, als ihr Blick auf den schmalen Marmortresen fiel, der das Esszimmer von der Küche trennte. Sie sah einen rötlichen Fleck am hinteren Ende des Tresens.

Das war wirklich merkwürdig. Mom hatte den Haushalt schon immer äußerst sorgfältig geführt, und war besonders besessen darauf, ihre Küche blitzblank zu halten. Es sah ihr gar nicht ähnlich, etwas zu verschütten und es nicht sofort wegzuwischen.

In Lori begann sich Panik breitzumachen.

Irgendetwas stimmt nicht, dachte sie.

Sie eilte zum Tresen und schaute hinein in die Küche.

Dort auf den Boden lag ihre Mutter, ausgestreckt in einer Blutlache.

„Mom!“, schrie Lori mit heiserer Stimme auf.

Ihr Herz raste und sie spürte, wie ihre Arme und Beine kalt und taub wurden. Sie wusste, dass sie in Schock war, aber sie musste versuchen Herrin ihres Verstandes zu bleiben.

Lori kniete sich nieder und sah, dass die Augen ihrer Mutter geschlossen waren. Auf ihrem Kopf befand sich eine tiefe Wunde. Lori kämpfte gegen die Gefühle der Ungläubigkeit, des Horrors und der Verwirrung an. Ihre Gedanken waren ganz wirr, während sie versuchte zu begreifen…

Was war geschehen?

Mom musste gestolpert sein und sich beim Sturz mit dem Kopf am Tresen gestoßen haben.

Ihre Medizinerreflexe arbeiteten nun und Lori fasste an Moms Hals, um nach ihrem Puls zu fühlen.

Und das war als Lori sah, dass Moms Kehle durchgeschnitten war.

Eine ihrer Halsschlagadern war durchtrennt, aber kein Blut kam heraus.

Das Gesicht ihrer Mutter war bleich und gänzlich leblos.

Lori spürte, wie eine vulkanische Kraft aus den Tiefen ihrer Lungen ausbrach.

Dann begann sie zu schreien.

Kapitel eins

Ein Schuss fiel ganz in der Nähe.

Riley Paige machte auf dem Absatz kehrt, als das Geräusch durch ihren Flur hallte.

April! dachte sie und ein Schock ging durch ihren Körper.

Riley rannte zu ihrem Schlafzimmer.

Ihre sechzehnjährige Tochter April stand da und zitterte von Kopf bis Fuß, doch sie schien unverletzt.

Riley konnte wieder ausatmen.

Auf dem Boden vor Aprils Füßen lag eine Ruger SR22 Pistole. Daneben war die blaue Vinylbox, in der die Pistole aufbewahrt wurde.

Aprils Stimme zitterte, als sie sage: „Es tut mir leid. Ich wollte sie in den Safe im Schrank legen, als sie schoss und ich sie fallen ließ. Ich wusste nicht, dass sie geladen war.“

Riley fühlte ihr Gesicht rot anlaufen. Ihr Schreck wandelte sich nun zu Wut.

„Was soll das heißen, du wusstest es nicht?“, sagte sie. „Wie konntest du das nicht wissen?“

Riley hob die Pistole auf, entfernte das Magazin und fuchtelte vor April damit herum.

„Das Magazin sollte nicht mal in der Pistole drin sein“, sagte sie. „Du hättest es bereits auf dem Schießplatz entfernen müssen.“

„Ich dachte, dass ich alle Kugeln verschossen hatte“, sagte April.

„Das ist keine Entschuldigung“, sagte Riley schrill. „Du nimmst immer das Magazin raus, nachdem Du mit dem Schießtraining fertig bist.“

„Ich weiß“, sagte April. “Es kommt nicht wieder vor.“

Das kannst du laut sagen, dachte Riley sich. Sie begriff, dass sie auch auf sich selbst wütend war, weil sie den Raum verlassen hatte, bevor April die Pistole weggesperrt hatte. Aber sie hatten bereits mehrere Trainings auf dem Schießplatz hinter sich, und zuvor war alles glatt gelaufen.

Sie schaute sich im Zimmer um.

„Wohin hat sie gefeuert?“, fragte sie.

April zeigte auf die hintere Wand des Zimmers. Wie erwartet, konnte Riley ein Kugelloch entdecken. Eine erneute Welle der Panik überrollte sie. Sie wusste, dass die Wände zwischen den Zimmern in ihrem Haus nicht dick genug waren, um eine Kugel aufzuhalten – nicht einmal eine aus einer.22er Pistole.

Sie drohte April mit dem Finger und sagte: „Du bleibst genau wo du bist.“

Sie ging hinaus in den Flur und hinein in das anliegende Zimmer, welches Aprils Schlafzimmer war. Es gab ein Schussloch in der Wand, genau dort, wo sie es vermutet hatte, dann ein weiteres Loch in der gegenüberliegenden Wand, wo die Kugel ihre Flugbahn fortgesetzt hatte.

Riley musste sich zusammenreißen, um ihre Gedanken zu ordnen und die Situation einzuschätzen.

Hinter der letzten Wand lag der Hinterhof.

Könnte die Kugel jemanden getroffen haben? fragte sie sich.

Sie ging zu dem Loch hinüber und spähte hinein. Wenn die Kugel durch die Wand gekommen wäre, hätte sie Sonnenlicht sehen müssen. Die Backsteinverkleidung musste sie endlich aufgehalten haben. Und selbst wenn nicht, wäre die Kugel soweit verlangsamt worden, dass sie nicht über den Hinterhof hinausgekommen wäre.

Riley atmete erleichtert aus.

Niemand wurde verletzt.

Nichtsdestotrotz war es schrecklich, dass das passiert war.

Als sie Aprils Zimmer verließ und zurück zu ihrem eigenen Schlafzimmer ging, erreichten zwei Personen das obere Ende der Treppe und rannten in den Flur hinein. Eine war ihre vierzehnjährige Tochter, Jilly. Die andere war ihre kräftige guatemalische Haushälterin, Gabriela.

Gabriela rief aus: „¡Dios mio! Was war dieser Krach?“

„Was ist passiert?“, rief Jilly hinterher. „Wo ist April?“

Noch bevor Riley irgendetwas erklären konnte, hatten die beiden April in ihrem Schlafzimmer aufgefunden. Riley folgte ihnen hinein.

Als sie eintraten, legte April die Vinylbox gerade in den kleinen schwarzen Safe im Kleiderschrank. Sichtlich bemüht ruhig zu bleiben sagte sie: „Meine Pistole hat fehlgezündet.“

Fast im Chor riefen Jilly und Gabriela aus: „Du hast eine Pistole?“

Riley konnte sich ein entsetztes Stöhnen nicht verkneifen. Die Situation war nun in allerlei möglicher Hinsicht noch schlimmer. Als Riley April damals im Juni die Pistole gekauft hatte, hatten sie sich beide darauf geeinigt weder Jilly, noch Gabriela etwas davon zu erzählen. Jilly wäre sicherlich neidisch auf ihre ältere Schwester gewesen. Gabriela wäre einfach nur besorgt.

Aus gutem Grund, wie sich herausstellt, dachte Riley.

Sie konnte sehen, dass ihre jüngere Tochter sich bereit machte, eine Lawine von Fragen und Anschuldigungen auf sie loszulassen, während die Haushälterin einfach nur auf eine Erklärung wartete.

Riley sagte: „Ich komme in ein paar Minuten runter und erkläre euch beiden alles. Jetzt muss ich kurz mit April alleine sprechen.“

Jilly und Gabriela nickten stumm und verließen das Zimmer. Riley schloss hinter ihnen die Tür.

Als April sich auf das Bett fallen ließ und zu ihrer Mutter hochschaute, musste Riley daran denken, wie sehr sie und ihre Tochter sich ähnelten. Obwohl sie einundvierzig war und April erst sechzehn, waren sie offensichtlich aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es waren nicht bloß ihre dunklen Haare und grün-braunen Augen, auch dieselbe ungestüme Haltung im Leben einte sie.

Dann ließ das Mädchen den Kopf hängen und schien den Tränen nahe zu sein. Riley setzte sich neben sie aufs Bett.

„Es tut mir leid“, sagte April.

Riley antwortete nicht. Eine Entschuldigung würde jetzt einfach nicht reichen.

April sagte: „Habe ich etwas illegales getan? Das Feuern einer Waffe drinnen, meine ich? Müssen wir die Polizei verständigen?“

Riley seufzte und sagte: „Es ist nicht illegal, nein – nicht, wenn es ein Versehen war. Ich bin mir nicht sicher, ob es jedoch nicht illegal sein sollte. Es war unglaublich leichtsinnig. Wirklich, April, ich dachte, dass ich dir mittlerweile damit vertrauen könnte.“

April unterdrückte ein Schluchzen und sagte: „Ich kriege jetzt wirklich Ärger, oder?“

Erneut schwieg Riley.

Dann sagte April: „Schau mal, ich verspreche, dass ich vorsichtiger sein werde. Es wird nicht wieder vorkommen. Das nächste Mal, wenn wir schießen gehen —“

Riley schüttelte den Kopf und sagte: „Es wird kein nächstes Mal geben.“

April machte große Augen.

„Meinst du…?“, begann sie etwa.

„Du kannst die Pistole nicht behalten“, sagte Riley. „Es ist alles vorbei.“

„Aber es war nur ein Fehler“, sagte April und ihre Stimme wurde immer schriller.

Riley sagte: „Du weißt ganz genau, dass das hier eine Null-Toleranz Frage ist. Wir haben darüber gesprochen. Selbst ein dummer, fahrlässiger Fehler wie dieser ist einer zu viel. Das hier ist sehr ernst, April. Jemand hätte verletzt oder getötet werden können. Verstehst du das nicht?“

„Aber niemand wurde verletzt.“

Riley war baff. April ging gerade mit Vollgas in den Teenagermodus über und weigerte sich die Realität dessen zu akzeptieren, was gerade geschehen war. Riley wusste, dass es beinahe unmöglich war in solchen Momenten vernünftig mit ihrer Tochter zu sprechen. Doch Vernunft hin oder her, diese Entscheidung lag einzig und allein in Rileys Verantwortung. Sie war ja auch die offizielle Besitzerin der Waffe, nicht April. Ihre Tochter konnte keine Waffe besitzen, bis sie achtzehn war.

Riley hatte sie gekauft, weil April gesagt hatte, dass sie eine FBI Agentin werden wollte. Sie hatte gedacht, dass das kleinere Kaliber es zu einer guten Übungswaffe machen würde, mit der April auf dem Schießplatz des Waffengeschäfts üben konnte. Bis heute war der Unterricht gut verlaufen.

 

April sagte: „Weißt du was, das ist irgendwo auch deine Schuld. Du hättest besser auf mich aufpassen sollen.“

Riley fühlte den Stich. Hatte April Recht?

Als ihre Tochter die Pistole in der Schießhalle in den Pistolenkoffer zurücklegte, war Riley gerade dabei gewesen ihre eigenen Schießübungen mit ihrer.40 Kaliber Glock zu beenden. Sie hatte Aprils Vorgehen zuvor bereits viele Male genau kontrolliert. Dieses Mal dachte sie, dass sie weniger wachsam mit ihr sein konnte.

Offensichtlich hatte sie unrecht behalten. Trotz aller Übungseinheiten, brauchte April immer noch strenge Beaufsichtigung.

Keine Ausreden, wusste Riley. Keine Ausreden für keine von uns beiden.

Aber es machte keinen Unterschied. Sie konnte nicht zulassen, dass April ihre Meinung änderte, indem sie ihr ein schlechtes Gewissen machte. Der nächste Fehler ihrer Tochter könnte tödlich sein.

Riley fauchte: „Das ist keine Entschuldigung, und das weißt du auch. Die Pistole richtig zu verstauen war in deiner Verantwortung.“

April sagte jämmerlich: „Also nimmst du sie mir weg.“

„Genau“, sagte Riley.

„Was machst du mit ihr?“

„Ich bin mir noch nicht sicher“, sagte Riley. Sie dachte, dass sie sie wahrscheinlich an die FBI Akademie übergeben könnte. Dort könnte sie neuen Rekruten als Übungswaffe zur Verfügung gestellt werden. In der Zwischenzeit würde sie sicherstellen, dass die Waffe sicher im Schranksafe weggesperrt blieb.

Mit beleidigter Stimme sagte April: „Tja, in Ordnung. Ich habe mich eh umentschlossen, eine FBI Agentin zu werden. Ich hatte vor es dir zu sagen.“

Riley fühlte sich merkwürdig aufgerüttelt von diesen Worten.

Sie wusste, dass April erneut versuchte, ihr Schuldgefühle zu bereiten, oder zumindest sie zu enttäuschen.

Stattdessen fühlte sie Erleichterung. Sie hoffte, dass es stimmte, dass April nicht mehr an einer FBI Karriere interessiert war. Dann müsste sie nicht viele Jahre damit verbringen, um Aprils Leben zu fürchten.

„Das ist deine Entscheidung“, sagte Riley.

„Ich gehe auf mein Zimmer“, antwortete ihre Tochter.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ April das Zimmer und schloss die Tür, sodass Riley alleine auf ihrem Bett zurückblieb.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie April nicht nachgehen sollte, doch…

Was gibt es da noch zu sagen?

In diesem Moment gab es nichts. Mit dem Kopf verstand Riley, dass es die richtige Entscheidung gewesen war, so vorzugehen. Sie konnte April die Pistole nicht noch einmal anvertrauen. Weiteres Schimpfen und Bestrafung wären jetzt sicherlich sinnlos.

Nichtsdestotrotz fühlte sich Riley so, als hätte sie irgendwie versagt. Sie war sich nicht sicher, wieso. Vielleicht, dachte sie, war es das, dass sie April überhaupt erst eine Waffe anvertraut hatte. Doch, fragte sie sich, gehörte das nicht zum Mutter-sein dazu? Früher oder später musste man Kindern mehr Verantwortlichkeiten überlassen. Sie würden an einigen davon scheitern, aber andere davon meistern.

Das ist einfach ein Teil des Erwachsenwerdens.

Sicherlich konnten keine Eltern all die Verfehlungen und Niederlagen ihres Kindes im Vornherein kennen.

Vertrauen war immer ein Risiko.

Trotzdem hatte Riley das Gefühl, dass ihr Verstand sich in Kreisen drehte, um irgendwie eine Rationalisierung für ihr eigenes Erziehungsversagen zu finden.

Ein plötzlicher schmerzhafter Stich in ihrem Rücken stoppte ihr Grübeln.

Meine Wunde.

Ihr Rücken schmerzte immer noch von Zeit zu Zeit dort, wo ein psychopathischer Mörder auf sie mit einem Eispickel eingestochen hatte. Die Spitze war erschreckend tief eingedrungen – tiefer als ein normales Messer es vermutlich getan hätte. Es war jetzt über zwei Wochen her und sie hatte deswegen eine Nacht im Krankenhaus verbringen müssen. Danach hatte sie die Anweisungen bekommen, sich zuhause auszuruhen.

Obwohl Riley körperlich wie auch emotional von der ganzen Sache ganz schön mitgenommen gewesen war, hatte sie gehofft mittlerweile wieder auf der Arbeit sein zu können und an einem neuen Fall zu arbeiten. Doch ihr Boss, der Abteilungsleiter Brent Meredith, hatte darauf bestanden, dass sie sich mehr Zeit für ihre Genesung nahm, als ihr lieb gewesen wäre. Er hatte auch Rileys Partner Bill freigestellt, weil er auf den Mann, der Riley attackiert hatte, geschossen hatte und ihn dabei getötet hatte.

Sie fühlte sich auf jeden Fall bereit, zurück an die Arbeit zu gehen. Sie dachte nicht, dass ein schmerzhaftes Stechen hin und wieder sie bei der Arbeit behindern würde. Obwohl die Kinder und Gabriela sie die gesamte Zeit über umsorgt hatten, hatte sie nicht das Gefühl gehabt, dass sie gerade einen guten Draht zu ihnen hatte. Ihre permanente Sorge bereitete ihr bloß Schuldgefühle und gab ihr das Gefühl eine inadäquate Mutter zu sein.

Sie wusste, dass sie Jilly und Gabriela nun einiges an Erklärungen zu der Pistole schuldete.

Sie erhob sich und ging über den Flur zu Jillys Zimmer.

* * *

Ihr Gespräch mit Jilly verlief genau so schwierig, wie es Riley erwartet hatte. Ihre jüngere Tochter hatte dunkle Augen, die von ihrer vermuteten italienischen Abstammung kamen und ein aufbrausendes Temperament wegen ihren schwierigen Kindheitsjahren, bevor Riley sie adoptiert hatte.

Jilly war sichtlich aufgebracht, dass Riley April eine Pistole besorgt hatte und dass ihre Schwester Schießtraining hinter ihrem Rücken bekommen hatte. Natürlich versuchte Riley vergebens ihre jüngere Tochter davon zu überzeugen, dass eine Pistole in ihrem Alter außer Frage stand. Und außerdem hatte es ja auch mit April nicht gut geklappt.

Riley konnte sehen, dass nichts, was sie sagte, einen Eindruck hinterließ und gab bald auf.

„Später“, sagte sie zu Jilly. „Wir werden später erneut darüber sprechen.“

Als Riley Jillys Zimmer verließ, hörte sie wie sich die Tür hinter ihr schloss. Eine ganze Weile lang stand Riley bloß im Flur rum. Ihre beiden Töchter hatten sich in ihren Zimmern eingesperrt und schmollten. Dann seufzte sie und ging zwei Etagen tiefer in den Wohnbereich von Gabriela.

Gabriela saß auf ihrem Sofa und blickte durch die großen Glasschiebetüren in den Hinterhof hinaus. Als Riley eintrat, lächelte Gabriela und tätschelte den Platz neben sich. Riley setzte sich und begann ganz von Anfang an die Geschichte mit der Pistole zu erklären.

Gabriela wurde nicht wütend, doch sie schien verletzt zu sein.

„Sie hätten es mir sagen sollen“, sagte sie. „Sie hätten mir vertrauen sollen.“

„Ich weiß“, sagte Riley. „Es tut mir leid. Ich glaube ich habe einfach… zurzeit Probleme mit der ganzen Erziehungssache.“

Gabriela schüttelte den Kopf und sagte: „Sie versuchen zu viel zu tun, Señora Riley. Sowas wie eine perfekte Mutter gibt es nicht.“

Diese Worte erwärmten Riley das Herz.

Das ist genau, was ich hören musste, dachte sie.

Gabriela fuhr fort: „Sie sollten mir mehr vertrauen. Sie sollten sich mehr auf mich verlassen. Ich bin schließlich hier, um ihr Leben einfacher zu machen. Das ist meine Arbeit. Ich bin auch hier, um meinen Teil der Erziehungsarbeit zu übernehmen. Ich denke, dass ich mit den Mädchen gut kann.“

„Oh, und wie“, sagte Riley und ihre Stimme wurde ein bisschen heiser. „Das bist du wirklich. Du weißt gar nicht, wie dankbar ich bin dich in unserem Leben zu haben.“

Riley und Gabriela saßen einen Moment schweigend da und lächelten einander an. Auf einmal fühlte Riley sich sehr viel besser.

Dann klingelte es an der Tür. Riley umarmte ihre Haushälterin und ging in den ersten Stock, um die Tür zu öffnen.

Für einen kurzen Moment war Riley entzückt zu sehen, dass ihr gutaussehender Freund, Blaine, vor ihr stand. Doch sie bemerkte etwas trauriges in seinem Lächeln, einen melancholischen Blick in seinen Augen.

Das hier wird kein angenehmer Besuch sein, begriff sie.