Gesicht des Zorns

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Aus der Reihe: Ein Zoe Prime Fall #5
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KAPITEL VIER

Zoe sah starr geradeaus, konzentrierte sich ganz auf das Auto vor ihr. Es war bisher eine ziemlich anstrengende Fahrt gewesen. Es war kein Leichtes, sicher zu fahren, wenn man dabei nicht damit aufhören konnte, die Nummernschilder und Auspuffgase zu analysieren, die Anzahl der Fahrzeuge jeder erdenklichen Farbe und jeder Marke mitzuzählen und die Körpermaße jeder einzelnen Person, die man in einem der anderen Fahrzeuge erhaschte, zu ermitteln. Und doch hatte sie es irgendwie bis hierhin geschafft, teils dadurch, dass sie sich wie besessen darauf konzentrierte, während der ganzen Fahrt wann immer möglich die genau gleiche Geschwindigkeit beizubehalten.

Die Straße, in der sich nun befand, war ihr bestens bekannt. Zoe kannte die Gebäude hier, wusste, welche davon mehr Stockwerke hatten als die anderen, welche sich durch das Absinken des Fundamentes inzwischen um etwa fünf Grad geneigt hatten und konnte an dem Winkel, in dem das Sonnenlicht auf den Bürgersteig traf, die Uhrzeit ablesen. Sie war schon so oft hier gewesen, dass sie all diese Berechnungen schon mehrfach angestellt hatte. Und als all diese Zahlen nun erneut in ihrem Sichtfeld erschienen, war sie deshalb gerade so dazu imstande, sie zu verdrängen und sich stattdessen auf den eigentlichen Grund für ihr Herkommen zu konzentrieren.

Sie fand direkt davor einen Parkplatz, das allein war bereits ein Wunder. Zoe nahm sich einen kurzen Moment, um ihr Gesicht im Rückspiegel zu betrachten. Sie war zwar immer noch blass und hatte immer noch Augenringe, aber trotzdem sah sie immerhin ein bisschen besser aus, als noch vorhin. Zu duschen und sich etwas ordentlicher anzuziehen hatte, auf jeden Fall einen Unterschied gemacht, wenn auch nur rein äußerlich.

In ihrem Inneren sah es immer noch ganz anders aus. Das konnte man nicht mit einer einfachen Dusche wegspülen.

Irgendwie schaffte sie es, sich dazu zu motivieren, die Autotür zu öffnen und auszusteigen. Sie fokussierte ihren Blick dann voll und ganz auf das Bürogebäude, aufgrund dessen sie hergekommen war. Die Augen fest auf die Eingangstür gerichtet folgte sie den Dimensionen, die aus dem Nichts in ihr Sichtfeld drängten, ins Innere.

Dr. Lauren Monks Praxis war im zweiten Stock. Normalerweise empfing sie ihre Patienten dort nur zu im Voraus vereinbarten Terminen. Zoe hatte zwar keinen Termin ausgemacht, aber sie hatte angerufen, um sicherzugehen, dass Dr. Monk trotzdem Zeit haben würde.

Dr. Monk saß an ihrem Schreibtisch, mit der Tür zum Wartezimmer geöffnet, um zu signalisieren, dass gerade niemand bei ihr war. Zoe durchschritt das helle Wartezimmer, es war in den Primärfarben Rot, Gelb und Blau gehalten, und ging direkt weiter in das Behandlungszimmer, wo ein altbekannter, abgenutzter Ledersessel sie erwartete. Zoe ignorierte den Sessel jedoch und blieb stehen – und mit einiger Mühe gelang es ihr, den Blick zu heben und Dr. Monk ins Gesicht zu sehen, die Zoes Blick erwiderte.

Auch wenn man an Dr. Monks Gesichtsausdruck vielleicht etwas hätte ablesen können, Zoe war dazu nicht in der Lage. Sie nahm nur die Dimensionen des Gesichtes wahr: den Abstand zwischen den Augen, den Winkel, in dem die Augenbrauen gebogen waren, die Länge jedes einzelnen Haares – von all diesen Eindrücken war Zoes Wahrnehmung so sehr überladen, dass sie keine Kapazität mehr dafür hatte, das darunter verborgene menschliche Gesicht ebenfalls zu erkennen. Sie wusste nur, dass Dr. Monk sich seit Zoes letztem regulären Termin hier – mit dem ihre Therapie geendet hatte, weil Dr. Monk keinen weiteren Bedarf mehr dafür gesehen hatte – rein äußerlich in keinster Weise verändert hatte. Sie war die Gleiche geblieben, mit ihrem dunklen Bob, der eine befriedigend gerade Kante hatte, und demselben Schönheitsmal einen Zentimeter oberhalb ihres rechten Mundwinkels.

„Es ist schön, Sie wiederzusehen, Zoe“, sagte Dr. Monk und erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl. Normalerweise nahm sie in den Therapiesitzungen gegenüber von dem schwarzen Ledersessel Platz, um ihren Patientinnen direkt gegenüber zu sitzen, ohne dass etwas zwischen ihnen stand. „Es ist ja schon einige Wochen her.“

„Ich wollte keinen weiteren Termin mehr ausmachen“, sagte Zoe und verschränkte dabei straff die Arme vor der Brust. „Sie hatten ja gesagt, dass es mir jetzt besser ginge.“

„Es ging Ihnen auch besser“, sagte Dr. Monk mit sanfter Stimme. Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor, um Zoe unmittelbar gegenüberzustehen. „Aber ein Trauerfall kann auch nach einer äußerst erfolgreichen Therapie einen Rückfall auslösen. Unsere erlernten Bewältigungsmechanismen funktionieren danach eventuell nicht mehr – oder wir sehen einfach keinen Sinn mehr darin, sie überhaupt anzuwenden. Wenn jemand verstirbt, der einem sehr nahe stand, dann ist es ganz normal, noch ein wenig mehr Unterstützung zu brauchen.“

Zoe versuchte erneut, nicht nur die Zahlen wahrzunehmen, sondern Dr. Monks darunter verborgenen Gesichtsausdruck zu erkennen, aber es gelang ihr auch diesmal nicht. „Ich dachte, ich hätte das jetzt unter Kontrolle.“

Dr. Monks Körperhaltung entspannte sich, die Winkel ihrer Schultern flachten sich ab, wurden geschmeidiger. „Ich würde Sie bitten, einen neuen Termin auszumachen. Und zwar für die nahe Zukunft. Am besten so bald wie möglich.”

„Okay.“ Zoe atmete tief durch. „Aber deshalb bin ich nicht hergekommen.“

Dr. Monk nickte bedächtig. „Ich kann Ihnen ansehen, dass Sie eine ziemlich schwere Zeit durchmachen. Wie viel Schlaf kriegen Sie denn im Moment?“

„Nicht besonders viel.“ Zoe zuckte mit den Schultern. „Ich schlafe erst spät nachts ein und stehe spät wieder auf. Alkohol hilft. Aber dann bin ich am nächsten Tag müde, weshalb ich manchmal auch tagsüber schlafe.“

Dr. Monk nickte erneut, diesmal energischer. Viermal. „Ich vermute, dass Sie in einer schweren depressiven Episode stecken“, sagte sie. Zoe blieb nichts anderes übrig, als dem zuzustimmen; Dr. Monk kannte sie schließlich sehr gut. Sie wusste nichts über Depressionen – auch nicht, ob der Begriff überhaupt verwendet werden sollte in Fällen, in denen Traurigkeit doch eine vollkommen angemessene Reaktion war. Aber sie vertraute ihrer Therapeutin. „Am besten verschreiben wir Ihnen ein Medikament, das Ihnen dabei hilft, etwas besser damit zurechtzukommen. Ich stelle Ihnen jetzt gleich ein Rezept aus und bei unserem nächsten Termin können wir dann genauer darüber sprechen.“

Zoe nickte und ahmte dabei den Rhythmus nach, den sie bei ihrer Ärztin beobachtet hatte: Eins, zwei, drei, vier – und stopp. „Ich mache noch diese Woche einen Termin aus.“

Dr. Monk zögerte, biss sich auf die Unterlippe. Sie tippte sich mit ihrem Kugelschreiber auf die Haut neben der Lippe, in der anderen Hand hielt sie das noch unausgefüllte Rezept. „Wie viel trinken Sie zur Zeit?“, fragte sie .

Zoe zuckte erneut mit den Schultern. „So viel wie nötig ist, um die Zahlen zu betäuben.“

Zoe sah, wie der Umfang von Dr. Monks Augen sich vergrößerte. Die Haut hob sich mit ihren Augenlidern, die Winkel der Krähenfüßchen, gerade so an ihren Augenwinkeln sichtbar, änderten sich. „Also gut.“ Sie kritzelte mit einer schnellen Handbewegung etwas auf das Rezept, dann ging sie zu ihrem Schreibtisch und kramte in einer der Schubladen herum. „Also, ich möchte, dass Sie dieses Rezept einlösen, aber ich denke auch, dass sie etwas brauchen, um das Problem sofort in den Griff zu bekommen. Hiermit können Sie die Zwischenzeit überbrücken.“

Sie richtete sich mit einem Tablettenstreifen in der Hand auf, deren Silberfolie das durch die großen Fenster hereinströmende Licht reflektierte. Sie streckte die Hand aus, um Zoe die Tabletten hinzuhalten und Zoe nahm sie mit einer mechanischen Bewegung entgegen.

„Beginnen Sie heute Abend mit der Einnahme“, fuhr Dr. Monk fort. „Zu jeder Mahlzeit eine – morgens, mittags, abends. Nicht auf nüchternen Magen nehmen. Und bitte keinen Alkohol mehr trinken, okay? Davon sollten die Zahlen ebenfalls betäubt werden. Sollte man aber nicht mit Alkohol kombinieren. Geht das in Ordnung?“

Zoe nickte. „Ich fange heute Abend damit an“, sagte sie.

Dr. Monk atmete zögerlich durch. „Was haben Sie jetzt als nächstes vor? Hätten Sie Zeit für eine Therapiesitzung?“

„Ich fahre zur Arbeit“, sagte Zoe.

„Sie sind wieder im Dienst?“, Dr. Monk klang erschrocken.

„Nein. Meine Suspendierung ist gestern abgelaufen, aber ich bin nicht zum Dienst erschienen.“ Zoe atmete ebenfalls durch. „Ich muss allerdings mit meinem Chef reden.“

Dr. Monk nickte. „Okay. Dann machen Sie das. Aber ich möchte Sie möglichst bald wieder hier sehen.“

„Verstanden.“ Zoe machte sich auf den Weg zum Ausgang, die Tabletten hielt sie immer noch fest in der Hand. Sie traute sich nicht, sich noch einmal nach Dr. Monk umzusehen, denn die Zahlen krabbelten wie Ameisen über ihr Gesicht und Dr. Monk war sich ihrer Existenz noch nicht einmal bewusst.

Wieder im Auto angekommen, schnappte sich Zoe eine der Wasserflaschen, die sie im Türfach lagerte, und spülte damit eine der Pillen herunter. Sie konnte damit nicht warten. Um es durch ihr Gespräch mit Maitland zu schaffen, war sie jetzt auf ihre Unterstützung angewiesen.

***

Das J. Edgar Hoover-Gebäude hatte eine beruhigend komprimierte und geometrische Form, mit allerhand gerade Linien im unauffälligen Grau des Betons. Das gefiel Zoe, genau wie das Layout des Gebäudes: alles war symmetrisch angeordnet, mit identischen Designs auf den einzelnen Stockwerken, sodass man im Zweifel immer raten konnte, wo man langgehen musste. Das beruhigte sie ein wenig. Während sie darauf wartete, dass die Tablette ihre Wirkung auf die Zahlen entfaltete, hatte sie es so immerhin nur mit solchen Zahlen zu tun, die nicht ganz so störend waren.

Sie hatte damit gerechnet, eine Weile warten zu müssen, aber nachdem sie dreimal an die Tür geklopft hatte, an der SAIC Leo Maitlands Name stand, forderte er sie unverzüglich auf, einzutreten.

 

Zoe hatte also keine Zeit, nervös zu werden und griff sofort nach der Türklinke, drückte sie herunter und betrat den Raum. Das war auch besser so, dachte sie. Sie war es gewohnt, voller Anspannung draußen warten zu müssen und sich in der ganzen Zeit immer wieder zu fragen, weshalb sie wohl diesmal ermahnt werden würde, aber so konnte sie direkt eintreten und mit dem Gespräch beginnen.

„Agent Prime.“ Maitland richtete sich mit einiger Überraschung auf. Er legte die Unterlagen, die er gerade gelesen hatte, auf seinem Schreibtisch ab und sah zu ihr hinüber. „So bald hatte ich nicht wieder mit Ihnen gerechnet.“

Zoe nickte, denn sie wusste nicht, wie sie sonst darauf hätte reagieren sollen. „Ich habe mir die Akte zu dem Fall angesehen.“

„Und?“ Maitland legte seine Hände vor sich auf dem Schreibtisch ab, ordentlich ineinander gefaltet, geradezu erwartungsvoll. Zoe sah kurz zu den Händen hinüber, wodurch allerhand Winkel und Maße in ihrem Blickfeld erschienen, schaffte es aber, ihren Blick wieder von ihnen abzuwenden.

„Ich bin neugierig geworden“, sagte sie. „Nicht, dass ich den Fall annehmen will. Ich wollte bloß wissen, warum Sie mir die Akte gegeben haben.“

Maitland starrte sie für eine ganze Weile an, seine Miene unlesbar unter den Winkeln seiner Nase und Wangenknochen und deren Schnittpunkt mit den Linien seines Schädels an seiner Stirn. „Sie… waren schon immer die Beste für diese Art von Ermittlungen“, sagte er mit schroffer, aber ruhiger Stimme. „Sie glauben doch nicht, dass mir nicht aufgefallen ist, wie gut Sie mit Fällen klarkommen, in denen es nicht um nullachtfünfzehn Serienmörder geht. Wenn es skurril wird, sind Sie besonders gut. Wenn wir über den Tellerrand hinaussehen müssen. Es mit intelligenten Tätern zu tun haben. Mit Tätern, die anders denken.“

Zoe dachte über seine Worte nach. Es stimmte, was er gesagt hatte. Aber sie wusste nicht, ob es ihr auch gefiel. Ob er sie damit indirekt nicht einfach als sonderbar bezeichnet hatte. „Ja, ich habe schon an einer Reihe ähnlicher Fälle gearbeitet“, gab sie zu, womit sie ihm nicht vollständig recht gab und auch nicht zusagte, diesen Fall zu übernehmen.

„Ich möchte Sie zu nichts drängen, Agent Prime“, sagte Maitland. „Wenn Sie die Arbeit wieder aufnehmen, aber noch gar nicht bereit dafür sind, dann könnte das schlimm enden. Für uns beide. Aber ich denke auch, dass ich Sie gut genug kenne, um zu wissen, dass es Ihnen am besten geht, wenn Sie ein Rätsel vor sich haben, das Sie knacken müssen. Ich sage es ganz offen: Ich wünsche mir, dass Sie diesen Fall übernehmen. Um ehrlich zu sein gibt es niemanden sonst, dem ich es so sehr zutrauen würde, diesen Fall zu lösen, wie Ihnen.“

Zoe hielt einen Moment inne, denn ihre Gedanken überschlugen sich. Es war schwer genug, sie überhaupt zu hören, zwischen all den Zahlen, die ihr die Dezibels, Wortlänge, Silben und die Ausmaße des Tisches und allem darauf mitteilten. Und als Zoe sie dann hörte, war sie sich nicht sicher, was sie davon halten sollte. Es wäre sicher sinnvoll, sich die Zähne an etwas Neuem auszubeißen, anstatt innerlich immer und immer wieder die gleichen Probleme und Sorgen durchzukauen. Dadurch konnte sie die Zahlen für etwas sinnvolles nutzen, so wie sie es früher getan hatten, indem sie sie auf Verdächtige und Tatorte und so weiter anwendete.

Es würde ihr guttun, etwas Positives zu bewirken. Vielleicht das ein oder andere Leben zu retten.

Zumindest, wenn dadurch außer ihr niemand sonst in Gefahr geriet.

„Ich übernehme den Fall“, sagte sie zögerlich. Maitlands Gesicht erhellte sich. Er konnte sich zwar immer noch kein Lächeln abringen, aber seine ansonsten geradezu versteinerte Mimik war doch einem ungewohnt munteren Gesichtsausdruck gewichen. Zoe fuhr allerdings unbeirrt fort, damit der wichtigste Teil dessen, was sie sagen wollte, nicht unterging. „Aber allein. Ich möchte nicht, dass mir ein neuer Partner zugeteilt wird. Ich mache das im Alleingang.“

Maitland neigte seinen Kopf um zehn Grad weiter zur Seite als zuvor, außerdem verengten sich seine Augen um fünfzehn Prozent. „Sie wissen doch, dass das nicht geht, Agent Prime.“

„Ich habe auch in der Vergangenheit schon allein ermittelt“, merkte Zoe an. Das stimmte. Vor ihrer Zeit mit Shelley, als sie zwischenzeitlich keinen Partner hatte, weil niemand mit ihr zurechtkam, hatte sie gezwungenermaßen jede Menge Fälle allein bearbeiten müssen. Denn es wollte einfach niemand mit ihr zusammenarbeiten. Das dauerte immer so lange, bis ihr vorübergehend einer der neuen Rekruten zugeteilt wurde. Und dann wiederholte sich das Ganze.

„Aber nicht in einem Fall diesen Ausmaßes“, sagte Maitland. „Nur bei unkomplizierten Verbrechen. Und außerdem nicht unmittelbar, nachdem Ihre Partnerin verstorben ist. Es tut mir leid, Zoe. Ich sage ja gar nicht, dass Shelley ersetzt werden soll. Oder dass man sie jemals ersetzen könnte. Aber Sie werden in diesem Fall mit einem anderen Ermittler zusammenarbeiten müssen.”

Zoe sah zum Boden hinab, wo nicht so viele Zahlen zu sehen waren. „Ich würde wirklich ungern mit jemand Neuem zusammenarbeiten.“

„Ich habe aber leider schon jemanden ausgesucht. Er wird perfekt zu Ihnen passen, versprochen.“ Maitland erhob seine Stimme, um etwas in Richtung der Tür zu rufen. „Wenn Sie schon da draußen warten, Agent Flynn, dann können Sie jetzt reinkommen. Es ist jetzt an der Zeit, dass Sie beide sich kennenlernen.”

KAPITEL FÜNF

Zoe drehte ihren Kopf gerade rechtzeitig zur Seite, um sehen zu können, wie sich die Tür öffnete. Ein junger Mann in einem dunklen Anzug betrat den Raum. Er war eins neunzig groß, dünn, aber mit einem eng anliegenden Anzug, der zu erkennen gab, dass sich darunter Muskeln befanden. Außerdem hatte er schwarzes Haar und ein fernsehreifes Grinsen voller strahlend weißer Zähne. Dreiundzwanzig oder vierundzwanzig Jahre alt. Zoe konnte ihn auf Anhieb nicht ausstehen.

„Agent Aiden Flynn“, sagte er und streckte ihr die Hand entgegen, sein Gesicht dabei immer noch von einem breiten Grinsen überzogen.

Zoe nahm seine Hand und schüttelte sie leidenschaftslos und erfasste dabei die Maße seines Gesichts und die Winkel seiner hohen Wangenknochen. Er sah von Kopf bis Fuß so aus, als würde er Probleme machen. Sein Anzug saß so gut, mit normalen Kleidergrößen war das nicht möglich; er war also nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert. Dieser Kerl kam also sicher aus einer reichen Familie. Seine Hand fühlte sich weich an und Zoe war nicht auf die Hilfe der Zahlen angewiesen, um erkennen zu können, dass seine Schuhe brandneu waren.

Zoe warf Maitland einen vorwurfsvollen Blick zu. „Das ist sein erster Einsatz“, sagte sie.

„Frisch aus der Ausbildung“, erwiderte Maitland. Er streckte seine Arme aus und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, während er sich in seinem Stuhl zurücklehnte. Sein Rücken blieb dabei vollkommen gerade, nur sein Hüftgelenk bewegte sich.

„Ich möchte nicht die Babysitterin spielen“, blaffte Zoe und klang dabei vermutlich etwas barscher, als sie es gewollt hatte. Maitland konnte sich schließlich immer noch dazu entscheiden, ihr den Fall doch nicht zu überlassen. „Dieser Täter muss ernst genommen werden. Wir müssen ihn so schnell wie möglich schnappen.“

„Das schaffe ich“, ging Agent Flynn hastig dazwischen. „Ich war der Beste meines Jahrgangs. Ich werde mich schnell zurechtfinden.“

„Wie alt sind Sie?“, fragte Zoe. „Dreiundzwanzig?“

„Ja“, antwortete Agent Flynn verwundert. „Woher wussten Sie –“

„Der ist ja noch ein Kleinkind“, sagte Zoe wieder an Maitland gerichtet.

Er hatte seine Mundwinkel nach oben gezogen, um etwas einen halben Zentimeter, wodurch sich die Winkel in seinem Gesicht veränderten. „Agent Prime, Ich gebe Ihnen zwei Optionen“, sagte er. „Entweder arbeiten Sie mit Agent Flynn an diesem Fall, oder Sie arbeiten gar nicht daran. Wofür entscheiden Sie sich?“

Zoe sah zu Flynn herüber und überall in seinem Gesicht wimmelte es nur so vor Zahlen. Er war zu neu. Es gab zu viel zu entdecken. Er schien ganz aus spitzen Winkeln zu bestehen, seine Knochen waren kräftig und kantig, sein Anzug war perfekt geschnitten. Bei Leuten, die sie gut kannte, konnte sie mit der Zeit immerhin die Zahlen ausblenden, die immer gleich blieben. Sie konnte unmöglich mit ihm zusammenarbeiten.

Allerdings hatte sie bei der Arbeit – von Shelley abgesehen – nie jemandem von den Zahlen erzählt. Man hielt Zoe ja ohnehin schon für einen Freak, das wollte sie nicht noch weiter befeuern. Aber das bedeutete auch, dass sie die Zahlen nun nicht als Ausrede anführen konnte. Dass sie Maitland nicht sagen konnte, dass sie um sich herum sowieso schon überall nichts als Zahlen sah – zum Beispiel auf seinem Schreibtisch, der förmlich davon überladen war – und dass sie davon bereits genug abgelenkt wurde.

Zoe war sich bewusst, dass ein solches Eingeständnis sie nicht nur wie einen Freak dastehen lassen würde, sondern dass sich Maitland wahrscheinlich auch dazu gezwungen sehen würde, sie für arbeitsunfähig zu erklären und von ihr zu verlangen, an Therapiesitzungen mit einem vom FBI bereitgestellten Therapeuten teilzunehmen – vielleicht würde er sie sogar in eine psychiatrische Einrichtung einweisen lassen. Das konnte sie nicht riskieren.

„Sie lassen mir keine Wahl?“, sagte sie also stattdessen. Ein Versuch, herauszufinden, ob es auch nur die geringste Chance gab, der Zusammenarbeit mit diesem neuen Partner zu entgehen.

„Natürlich lasse ich Ihnen eine Wahl“, sagte Maitland. „Entweder, Sie machen sich gemeinsam auf dem Weg zum Flughafen, oder Sie gehen wieder nach Hause. Ich kann dafür sorgen, dass Sie schon in ein paar Stunden vor Ort sind. Also, wie lautet Ihre Entscheidung?“

Zoe seufzte. Ihr war klar, wofür sie sich entscheiden musste. Mit diesem neuen Idioten konnte sie nicht zusammenarbeiten. Mit ihm und seinen funkelnden Schuhen und seinem Tausend-Dollar-Lächeln. Aber genauso wenig konnte sie jetzt einfach wieder zurück nach Hause gehen, nicht, wo sie dort nur mit ihren Katzen auf dem Sofa hocken und ins Leere starren würde, nur um nachts Shelleys Familie zu stalken. Sie hatte eine Verpflichtung, nicht nur ihrer verstorbenen Partnerin, sondern auch den Mordopfern gegenüber, denen Gerechtigkeit zustand. Und gegenüber denen, die dem Täter in den nächsten Tagen und Wochen zum Opfer fallen würden, wenn man ihn nicht schnappte.

Die Katzen würden ohne sie zurechtkommen. Ihr Futterautomat würde sicherstellen, dass sie versorgt waren. Und auch sonst gab es auf der ganzen Welt niemanden, der auf sie angewiesen war. Zumindest nicht so sehr wie dieser Fall.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als ihre Bedenken herunterzuschlucken und das Ganze trotzdem durchzuziehen. Sie wusste, dass Shelley es so gewollt hätte.

Und so öffnete sie den Mund, um den beiden Männern das mitzuteilen – auch wenn sie jedes einzelne Wort nur widerwillig über die Lippen brachte.

***

Zoe warf noch einen weiteren Blick auf die Akte, um sich mit dem Fall weiter vertraut zu machen. Es war zwar nur ein kurzer Flug, aber sie hatte dennoch genug Zeit, um sich die Details einzuprägen und sich erste Gedanken über die nächsten Schritte zu machen, die folgen würden, wenn sie gelandet waren. Zunächst einmal würden sie sich etwa den letzten Tatort und die beiden Leichen ansehen.

„Können Sie mir die Akte vorlesen?“ Flynn, der neben ihr saß, hatte schon die ganze Zeit versucht, einen Blick auf die Dokumente zu erhaschen, während sie die Akte durchblätterte. Seine langen Beine waren in einem ungünstigen Winkel in dem engen Flugzeugsitz eingeklemmt, seine Ellbogen waren spitze Kanten, die ständig drohten, in ihren persönlichen Raum einzuschränken. „Ich möchte gut vorbereitet sein.“

Zoe seufzte innerlich und wünschte sich nichts mehr, als dass er sie in Ruhe lassen würde. Aber das war keine unzumutbare Bitte. Er wusste ja nicht, dass sie das, was sie sah, für ihn sozusagen übersetzen musste. Um die Zahlen, die sie überall sah, herauszuschneiden. Sie musste es ihm praktisch wie ein Roboter vorlesen. Ohne Kontext oder Flexion, nur die Worte, wie sie vor ihr auf dem Papier standen. Für sie war es genauso schwer, die Akte so zu lesen, wie es für ein Kleinkind gewesen wäre, sie überhaupt zu entziffern.

„Die erste Leiche wurde nördlich von Syracuse gefunden, die zweite in Syracuse selbst“, sagte sie. „Das erste Opfer war eine einundvierzigjährige Frau namens Olive Hanson, erdrosselt und dann am Ufer des Flusses Oneida zurückgelassen, wo sie wohl zuvor wandern war.“

Zoe reichte ihm die Fotos vom Tatort, die sie sich bereits genauer angesehen hatte. Die Frau am Ufer ausgestreckt, ihr Hals violett, während der Rest von ihr weiß und schmierig war und ihre Augen ins Leere starrten. Dann das letzte Bild: Ihr entblößter Bauch. Das Oberteil war, als einzige erkennbare Veränderung an ihrer Kleidung, nach oben geschoben worden, sodass darunter das in ihr bereits totes Fleisch geschnittene Symbol zum Vorschein kam. Es stach deutlich hervor, wie es solche Dinge immer taten. Eine rote Wunde inmitten weißer, blasser Haut, in deren schmalen Streifen das darunter verborgene Fleisch gerade so zu erkennen war.

 

Zoe blieb mit dem Blick auf Flynns Händen. Sie war nicht dazu in der Lage, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen, nicht so lange sie von all den Winkeln und Berechnungen abgelenkt wurde, die ihr mit jeder seiner Bewegungen ins Auge sprangen. Aber sie konnte erkennen, ob seine Hand zittern würde. Und sie sah ein Zittern, als er zu dem letzten Foto geblättert hatte: ein Tremor in seiner Hand, durch den das Blatt Papier für einen Augenblick wackelte, gerade stark genug, um sichtbar zu sein. Das Foto hatte ihn schockiert.

Das war eigentlich eher ein Vorteil. Wenn er Angst bekommen würde, dann wäre er womöglich leichter zu kontrollieren. Würde eher die Klappe halten, wenn sie Ruhe zum Nachdenken brauchte. Außerdem zeigte es seine Menschlichkeit – es bedeutete, dass er Mitgefühl hatte, von dem man Zoe oft vorwarf, dass es ihr fehlte. Zynisch betrachtet war es gut für sie, jemanden mit Mitgefühl dabei zu haben, der mit den Familien der Opfer sprechen konnte. Wenn man den Familien das Gefühl gab, dass man ihren Schmerz verstand, dann sagten sie mit größerer Wahrscheinlichkeit die Wahrheit.

Zoe nahm die nächsten paar Seiten aus der Akte und las sich die Informationen zu dem anderen Opfer durch. „Das zweite Opfer ist ebenfalls eine Frau. Eine Astronomin namens Elara Vega, die in dem Planetarium, in dem sie gearbeitet hatte, tot aufgefunden wurde. Neunundfünfzig Jahre. Todeszeitpunkt wird auf den späten vorherigen Abend geschätzt. Sie wurde in einem Putzwagen ertränkt.“

Die Fotos dazu zeichneten ein ähnliches, wenn auch nicht ganz identisches, Bild wie die zu dem ersten Mord. Die Leiche lag ausgestreckt wie sie gefallen war, ihre Haar noch nass davon, dass ihre Kollegen sie vom Putzwagem weggezogen hatten, um ihren Puls zu fühlen. Auch ihr Oberteil war hochgezogen, die unteren Knöpfe aufgemacht, damit der Mörder das Symbol in ihre Haut ritzen konnte. Eine scharfe, horizontale Linie und zwei Linien nach unten.

„Also gibt es von dem Symbol abgesehen keine großen Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Morden“, sagte Flynn. Er sah aufmerksam zwischen den Fotos zu den beiden Fällen hin und her und verglich sie miteinander. „Keine Übereinstimmung bei Tatort, Methode, Frauentyp – außer, dass beide schon älter waren. Aber die Polizei vor Ort denkt, dass die Fälle zusammenhängen.“

„Sie hängen eindeutig zusammen“, sagte Zoe ruhig, bemüht, ihn nicht anzupflaumen. „Das Symbol ist eine Art Visitenkarte oder Markenzeichen. Dadurch wird markiert, dass die Taten von derselben Hand begangen wurden.”

„Hmm.“ Flynn reichte ihr die Fotos zurück und beobachtete, wie Zoe sie wieder in den Ordner steckte. „Hey, ich habe gehört, dass Sie schon lange im Dienst sind.“

„Ich bin Ihnen zehn Jahre voraus“, antwortete Zoe. Sie wandte den Kopf ab und sah aus ihrem Fenster. Es wäre großartig, wenn Flynn die Klappe halten könnte. So lange sie nach draußen sah und es ihr dabei gelang, die Fensterscheibe selbst zu ignorieren, konnte sie sich auf das weiße, fluffige Nichts der Wolken konzentrieren. Dort gab es keine Zahlen.

„Sie hatten auch schon viele verschiedene Partner, oder?“, fragte Flynn. „Man hat mir von Ihnen erzählt, nachdem ich Ihnen zugewiesen wurde.“

Zoe erstarrte. Wenn er sie etwas zu Shelley fragen sollte, dann würde sie aufstehen, in den vorderen Bereich des Flugzeugs gehen und so tun, als ginge sie auf die Toilette. Sie wollte das nicht tun – das enge Badezimmer würde von Zahlen überladen sein, all die klitzekleinen Maße eines Zimmer, das auf die größe eines Schrankes zusammengeschrumpft wurde –, aber das wäre immer noch besser, als über Shelley sprechen zu müssen. Niemand sprach gern über sein größtes Versagen. Nicht, wenn es erst so kurze Zeit zurücklag und noch so schwer auf den Schultern lastete.

„Man hat mir auch gesagt, dass Sie eine der Besten sind, wenn es um das Lösen solch komplizierter Fälle geht.“, sagte er. Er war näher an sie herangerückt, fast unmerklich. Fast – aber nicht, wenn man die Millimeter mitzählte. „Sie gelten da als eine Art Genie oder sowas.“

„Tue ich das?“ fragt Zoe emotionslos. Sie wollte ihm nicht in die Falle gehen.

„Ja, ernsthaft. Die haben gesagt, dass ich eine Menge von Ihnen lernen würde.“

„Wen meinen Sie mit ‚die‘?“, fragte Zoe und drehte sich zu ihm und sah ihn mit bösem Blick an. Sie wollte wissen, wer hinter ihrem Rücken über sie sprach – auch wenn das keinen großen Unterschied machen würde. Das übermütige Lächeln auf Flynns Gesicht verschwand, die Muskeln um seinen Mund herum verzogen sich nach unten.

„Ähm, also, einfach alle“, sagte Flynn, jetzt mit Verunsicherung in der Stimme. Er rutschte nun wieder ein Stück in die andere Richtung, zurück in seine Ausgangsposition. „Also, was ich sagen wollte, wir lösen den Fall doch wahrscheinlich ziemlich schnell, oder? Wir beide zusammen? Vielleicht kann ich ja die Führung übernehmen und Sie sagen mir, wenn ich irgendetwas übersehe.“

Zoe starrte ihn noch ein wenig länger an, von nur einem einzigen Blinzeln unterbrochen, dann wandte sie sich wieder von ihm ab, um weiter aus dem Fenster zu sehen.

Sie mochte ihn nicht, diesen Aiden Flynn. Er war überheblich, vielleicht sogar überheblicher als die meisten anderen Anfänger. Ein Neuling, der seine eigenen Grenzen noch nicht kannte. Das hatte wahrscheinlich mit seiner Herkunft zu tun. Es war unwahrscheinlich, dass er jemals ein Nein gehört hatte.

Sie hatte kein Interesse daran, ihm irgendetwas über sich anzuvertrauen, schon gar nicht ihre besonderen Fähigkeiten. Ob die nun ein Segen oder ein Fluch für sie waren, da war sie sich selbst noch nicht sicher, aber diesem Fremden würde sie davon jedenfalls nichts erzählen. Das lag nicht nur daran, dass sie diese Dinge nie mit irgendwem teilte, sondern auch daran, dass es eine Beleidigung für Shelley gewesen wäre. Nur eine einzige Partnerin im Laufe ihrer gesamten Karriere hatte sie jemals dazu gebracht, etwas über sich erzählen zu wollen.

Dieser arrogante junge Mann mit seinem glänzenden Haar und seinem maßgeschneiderten Anzug würde sicher kein Mitglied dieses illustren Klubs werden.

Was bedeutete, dass Zoe nun ein Kampf an zwei Fronten bevorstand: Sie musste nicht nur die Zahlen überwinden, die ihr überall begegneten, wo immer sie auch hinsah, was auch immer sie hörte. Nein, um den Fall lösen zu können, musste sie auch vor ihm verbergen, wie sie es schaffte, ihn zu lösen.

Zoe sah weiterhin nur zu den Wolken und genoss das bisschen Ruhe, dass sich ihr dadurch vor dem Beginn des Sturms bot. Es würde kein einfacher Fall werden. Dennoch hoffte sie, dass sie ihn schnell lösen würde, damit sie ihren neuen Partner nicht mehr allzu lange ertragen musste.