Wie ich meine Zeitung verlor

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Das Neue Berlin –

eine Marke der Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage

ISBN E-Book 978-3-360-01362-0

ISBN Print 978-3-360-01362-0

1. Auflage 2020

© Eulenspiegel Verlagsgruppe Buchverlage GmbH, Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag, Peter Tiefmann

www.eulenspiegel.com


Die Rechte an den hier erstmals veröffentlichten Repor­tagen lagen bei der Zeitung. Die Chefredaktion übertrug sie mir auf meine Bitte hin, dafür danke ich ihr.

1992

Kurz nach meinem Eintreffen am ersten Tag sagt mein Chef, der Leiter der Sportredaktion, gehen wir runter in die große Sitzung, da lernen Sie schonmal paar Leute kennen.

Eine Art Atrium, ein gläsernes Oval innerhalb eines großen fensterlosen Raumes, der aber heller und frischer wirkt als die Sitzungsräume des Gebäudes, in dem ich bis zum vergangenen Jahr gearbeitet habe, obwohl es dort jeweils eine ganze Fensterfront gab; ich habe noch das Flackern des Neonlichts unter den Lidern, das Summen der Klimaanlage im Ohr, die trockene Luft in der Nase; der Sitzungsraum der Wochenzeitung im zehnten Stock und jener der FDJ-Zeitung im achten waren identisch.

Du bist sicher glücklich, daß du zu uns kommen kannst, hatte der gute alte Graubart gesagt, als der Vertrag unterzeichnet war, aber glaube mir, noch glücklicher als du sind wir, weil wir dich gekriegt haben. Das klingt nach Schmus. Doch ich weiß, der Graubart macht keinen Schmus, der Graubart neigt eher zur Knorrigkeit. Es ist gewiß die Wahrheit, was er da sagt, es ist so, daß sie jetzt langsam mal gern einen Ostjournalisten hätten und es aber wohl nicht so viele Ostjournalisten gibt, die unbescholten sind und zwei Worte geradeaus schreiben können.

Wäre ich Politikjournalist, wäre ich jetzt gewiß nicht hier, wäre nicht der erste Ostler in dieser Redaktion. Hier fängt man mit einem Sportmann an, soviel kann man mit dem nicht falsch machen, das ist mir klar: daß ich mein Riesenglück dem recht unverfänglichen Gegenstand meines Schreibens verdanke.

Aber ein bißchen brüsten darf ich mich schon, wegen des Geradeausschreibens. Wie achtungsvoll, um nicht zu sagen demütig hatte ich früher, in der Wochenzeitung im zehnten Stock, immer die vom Globus-Ausschnittsdienst gelieferten Sportartikel der Westzeitungen gelesen, am achtungsvollsten die jenes Blattes, bei dem ich nun beginne, es waren und sind die elegantesten. Und sie waren und sind auch nicht so scharfmacherisch wie die des Blattes aus Frankfurt, das fand ich auch gut. So elegant und tolerant schreiben zu können und zu dürfen, ach!

Schreib doch mal, sagte zur Wende der Graubart, schreib so viel du kannst, wir brauchen was. Ich hatte ihn bei internationalen Wettkämpfen im Westen kennengelernt, zu denen ich ab 1988 durfte, zu einer Zeit, als der Staat schon aufgeweicht war. Die sechs Jahre davor durfte ich nicht. So war das damals, macht man was nicht mit, reist man auch nicht mit, darum ist man noch lange kein Widerständler; kein Ostler, der bis zum Ende bis zur Wende Journalist war, sollte auch nur den Anschein erwecken, er sei Widerständler gewesen.

Ebenso war ich kein Engstirniger, ich war neugierig auf den Graubart, den ich von seinen Artikeln aus dem Ausschnittsdienst kannte, wir unterhielten uns abendelang, und einmal stritten wir uns, in Maßen. Ich kritisierte die Renaissance der ewig Gestrigen, das Erstarken der Republikaner bei ihm im Westen, so etwas sei bei uns nicht möglich, glücklicherweise! Mein neuer Freund strich sich lächelnd über den Bart: Was ich nicht sage! Er sitze mit der Frau des Chefs der Republikaner im städtischen Sportbeirat, das seien Leute, mit denen man sich normal unterhalten könne und deren Ansichten nicht ins Extreme oder gar Unerträgliche gingen. Aber was man so liest, da klingt es ganz anders, insistierte ich. Ich weiß nicht, was du liest, sagte der Graubart der knorrige, ich weiß nur, wie es tatsächlich ist.

Auch die schwergewichtigen Frankfurter hatten mich eingeladen. Sie hatten verfolgt, wie ich von Berlin aus für München und die ganze Republik immer mehr und wohl auch immer gediegener schrieb, und wollten mich wegkaufen, so ähnlich, wie es die Bayern immer im Fußball machten. Aber es funktionierte nicht. Ich saß vor einem der Herausgeber, und er fragte mich gleich zu Beginn, ob ich in der Partei gewesen sei. Ja. Aber nur weil Sie mußten, oder? Sonst hätten Sie drüben gar nicht Journalist werden können. Es war eine Brücke, die er mir baute, doch ich antwortete wahrheitsgemäß, ich mußte nicht. Ich bin zu dem Zeitpunkt schon Journalist gewesen. Niemand hat mich gezwungen, ich bin aus eigenem Willen in die Partei, weil ich der Meinung war, weil ich damals wirklich glaubte, ändern kannst du in diesem Land nur was mit und in ihr.

In jener Sekunde war das Wohlwollen des Herausgebers fort. Ich vermute, nur seine gute Erziehung bewahrte ihn davor, seiner Abneigung allzu deutlich Ausdruck zu verleihen. Doch sie war spürbar. Ich wiederum begriff, daß er einen Opportunisten akzeptiert hätte. Gewiß, so einen bei sich willkommen zu heißen, war er bereit gewesen, ich habe keine Ahnung, ob nun er meine Abneigung spürte. Wir schleppten das Gespräch noch über eine Anstandszeit von vielleicht fünf Minuten und verabschiedeten uns, ohne uns Gutes zu wünschen.

Mir zugewandt sind die Menschen im Glasoval, sie klatschen sich die Finger wund, als der Chefredakteur mich vorstellt, sie heißen in meiner Person den Osten willkommen, das ist schön. Das ist so schön hier alles. Dann bittet der Chefredakteur mich, etwas über mich zu ­erzählen, darauf bin ich nicht gefaßt. Ich bin sogar in heilloser Verwirrung. Tausend Geschichten hätte ich in petto, aber das geht doch jetzt hier nicht, die zu erzählen, was soll ich nur sagen, ich stottere, ich sei bei der Wochenzeitung gewesen, bei der großen des Ostens, die hier, ich wisse ja nicht, vielleicht gar nicht bekannt sei, man könne sie, also vielleicht könne man sie mit der aus Hamburg vergleichen, aber vergleichen nun auch wieder nicht richtig – wie peinlich. Was für ein Beginn! Die Menschen klatschen wieder, spärlich zwar nur noch, doch auch großmütig, großmütig ist es, mir nach dieser Vorstellung Applaus zu spenden.

Abends gebe ich in einer Gastwirtschaft meinen Einstand für die Kollegen des Sportressorts, nicht wie bei uns Abteilung heißt es, sondern Ressort. Unaufgesetzte, fast spielerische Eingemeindung, Stunden schon, da ruft ein freier Mitarbeiter mir zu, du hast natürlich den Ostbonus. Wenn es nach Leistung gegangen wäre, hätte ich die offene Stelle kriegen müssen. Sofort strecken sich ihm Hände entgegen, mit der Innenseite voran, wie von Polizisten, die den Verkehr stoppen, ej, rufen dazu einige in Richtung des Freien, ganz ruhig, ganz ruhig. Dann machen wir weiter, als wäre nichts gewesen, aber ich bin noch überwältigt von der Chuzpe des Burschen. Ich weiß auch gar nicht, ob er nicht recht hat. Ich ziehe es, während ich Konversation betreibe, fortwährend in Erwägung; so ist es oft, kaum sagt jemand einen Satz mit größter Gewißheit, schon bin ich geneigt, über den Satz nachzudenken, nur wegen der Gewißheit, mit der er hervorgebracht worden ist.

Das Niveau im Ressort ist hoch, jeder hat in seiner Art zu schreiben etwas, das die anderen sich von ihm abschauen können, ein jeweils einzelnes und zugleich ein gemeinsames Strecken, es beglückt mich, daran teilzunehmen. Wir haben auch einen feinen, einen groß­zügigen Chef, er dirigiert sanft und kritisiert nicht ­rabiat: Nachdem ich im Spätdienst in die Überschrift einer Nachricht Schweinfurth geschrieben habe, nimmt er mich am Morgen beiseite und sagt milde, Schweinfurt schreibt sich eigentlich ohne h. Acherje, sage ich. Deutsche lernen Deutschland kennen, gibt er nur zurück.

Freundschaften ergeben sich. Meinen zwei, drei hinzugewonnenen Freunden erzähle ich jene Geschichten, die ich während meiner peinvollen Vorstellung im gläsernen Oval nicht habe erzählen können. Ein paar davon. Aus meinem ersten Leben. Ich sage ironisch und doch auch ernsthaft, das und das ist in meinem ersten Leben gewesen, und spüre dabei schon Verwunderung, es tatsächlich erlebt zu haben. Ich denke mir, für sie, die gerade um mich sitzen, muß es jetzt sein wie vor einer halben Ewigkeit für mich, wenn ich den Kriegserinnerungen meines Vaters lauschte. Wie er, den Hals eines Pferdes umklammernd, im kalten Frühjahr die Oder überquerte, ich kannte die Oder, und logisch, ich kannte Pferde, doch seine Geschichte von dem Fluß, dem Tier und ihm als Soldaten blieb unwirklich, gleich einem seltsamen, ich weiß gar nicht ob grausamen oder heiteren Märchen.

Zweimal wäre ich beinahe Stellvertretender Chefredakteur geworden, oder sagen wir so, das erste Mal hätte ich es werden können, das zweite Mal war ich es eigentlich schon, aber der Reihe nach: Hätte werden können heißt, daß die Chefredakteurin der Wochenzeitung, bei der ich fleißig die Sportseite bestückt habe, es mir vorschlug unter der Maßgabe, zuvor müßte ich ein Jahr auf Parteischule. Und das wollte ich nicht. Um nichts in der Welt. Nicht diese Berieselung. Ich wollte einfach nur weiter schreiben. Ich fühlte mich auch gar nicht bereit zum Leiten, ich war keine 30, und in der Redaktion, in diesem für DDR-Verhältnisse liberalen Haufen, saßen wunderbare Autoren, ältere, erfahrene Leute, klügere und belesenere als ich, was sollte ich denen sagen, was ihnen beibringen?

 

Vor allem aber hatte ich, als die Chefredakteurin mir den Posten antrug, sofort einen ihrer Stellvertreter vor Augen, der gehörte zu jenen Wissenden und Belesenen und im übrigen auch außerordentlich Freundlichen. Zuweilen, wenn die Chefin verhindert war, mußte er an ihrer Statt in die wöchentliche Anleitung durch die Agitationskommission des ZK der SED. Da kriegten die obersten Redakteure des Landes ihre Weisungen. Sie gaben sie wenige Stunden später an uns, ans Fußvolk weiter, und da saß dann also dieser grundanständige, hochintelligente Stellvertreter und betete uns herunter, was zu schreiben und, ganz entscheidend, was nicht zu schreiben sei, und er war so traurig dabei, so blaß, er gab sich keine Mühe, sein Unwohlsein, seinen Unwillen zu verbergen, oder er gab sich welche und es gelang ihm nicht. Und in einem Jahr, und jetzt kommt das für mich Entscheidende, in einem Jahr sollte ich zu dieser Anleitung marschieren und anschließend vor die Mannschaft treten? Sollte so wie jener zur Weitergabe von Befehlen, zur Wiedergabe von Borniertheiten sich zwingende Mann an der Stirnseite des Versammlungsraums sitzen, mit fahlem Gesicht und vielleicht mit rebellierendem Magen? Allein die Vorstellung war kaum erträglich. So sagte ich der Chefredakteurin, der linientreuen, ohne langes Nachdenken ab. Sie gab zurück, du bist wie Christa Wolf, gute Schreibe, aber in entscheidenden Momenten Verweigerer. Sie klang eisig und blickte mit einemmal auch kalt, da begriff ich, daß sie es als harsche Kritik gemeint hatte, für mich war es ja ein Lob, das schönste, das ich je bekommen hatte: Mensch, staunte ich, du Schniepel und Christa Wolf in einem Atemzug!

Nur der Vollständigkeit halber: Sie schaute mich danach nicht mehr mit dem Arsch an, sie konnte nicht mehr ­grüßen, lächerlich, aber das war die Dimension, wenn man in einer bestimmten Situation nicht mitzog. Wenn man nicht vollzog, was mit einem geplant worden war. Und damit zur zweiten Stellvertretenden-Chefredakteurs-­Geschichte.

Wendezeit. In unserem kleinen Land erschien noch täglich die Sportzeitung, so wie in Italien die berühmte rosa­farbene Gazzetta. Nur daß unser Blatt leider ein ganz uninspiriertes war, ein noch langweiligeres, als es hätte sein müssen. Ich ging auf das Angebot ein, es als zweiter Mann zu leiten, warum denn nicht in diesen Zeiten des Aufbruchs. Gerade in diesen. Nur in diesen. Endlich schreiben ohne Beschränkungen, ob fremde oder selbst­auferlegte, endlich tabulos Zeitung machen, ja doch, diesmal war ich bereit. War in Vorfreude. Dann aber, schnell und geräuschlos, wurde die Zeitung übernommen, die neuen Besitzer saßen im nah hinter der Mauer stehenden Hochhaus und verordneten rasch einen Relaunch. Welche Richtung? frage ich, noch von meiner alten Stelle aus, den Chefredakteur. Ooch, bißchen bunter dürfte es wohl werden. Fotos könnten an Gewicht gewinnen. Auch Überschriften. Und ich dachte, tiefgründiger sollte es werden, fundierter, kritischer, so hatten wir es uns in der kurzen Zeit, in der wir bei uns gewesen waren, doch vorgenommen, und jetzt? Jetzt wußte ich nicht, was für eine Zeitung ich bei meinem Eintritt am 15. Juli vorfinden würde, aber ja, der 15. Juli war auch der Starttag für die neugestaltete Ausgabe, am 15., einem Sonntag, sollte sie produziert werden und am Montag an den Kiosken liegen, mit dem Chefredakteur hatte ich abgesprochen, erst dann zu beginnen, halbwegs in Ruhe am ­Montag. An dem ich natürlich schon im Impressum stehen würde. Ich würde da drinstehen, aber ich wußte nicht, ob ich überhaupt noch dort arbeiten wollte. Ich mußte es nicht. Ich war nicht gezwungen dazu. In diesen wilden Zeiten existierte nichtmal der Ansatz eines ­Vertrages.

Was denn nun, fragte meine Frau an jenem Montag in der Früh. Ich zuckte mit den Schultern. Unser Trabi war vollgepackt mit Archivzeug, lauter Papiere, mit denen ich an meinem alten Platz gearbeitet hatte. Weißt du was, antwortete ich – und wirklich, erst da verfertigten sich die Gedanken –, weißt du was, ich fahre jetzt mit dem Auto zum nächsten Kiosk, kaufe mir diese erste Ausgabe und entscheide nach dem Durchsehen, was ich tue. Ein schnelles, zunehmend entsetztes, wenngleich nicht überraschtes Blättern. Blanker Boulevard, trivialer noch als befürchtet, nun ging es wie von selbst: zuerst dorthin, wo er fabriziert wurde, Bescheid geben, daß ich gewissermaßen schon wieder weg sei. Aber wir müssen uns doch verkaufen, rief der Chefredakteur; ich begriff durchaus, wie er es meinte, und bezog es dennoch auf uns, die einzelnen Seelen. Ich muß mich nicht verkaufen, antwortete ich pathetischer als nötig und ging ab, stolz über meinen Auftritt. Die alten Kollegen, bei denen ich eine halbe Stunde später anklopfte, um zu fragen, ob ich nicht hier bei ihnen weitermachen könne, lächelten und nahmen mich fast wortlos wieder auf, klingt irre heute, war damals aber ohne weiteres möglich, soweit die Geschichte, wie ich einmal für einen beziehungsweise keinen Tag Stellvertretender Chefredakteur gewesen bin, ich habe die vermaledeite Ausgabe mit meinem Namen im Impressum noch daheim im Keller.

An einer großen Serie sitze ich mittlerweile, über die Veränderungen im Ostsport, ich besuche die Sportschulen oder was von ihnen übrig geblieben ist und führe Interviews in Verbänden und Vereinen, ich darf so viele Teile schreiben, wie ich mag, und erhalte für jeden Teil den Platz, den ich brauche, das ist ein Segen. Aber es ist auch seltsam: Auf den Osten mit der Distanz dessen zu schauen, der aus dem Westen angereist kommt, und alles zugleich noch intim von früher zu kennen. Mir behagt die Distanz. Ich habe als Journalist nie einen Drang zum Jubeln und Umarmen gespürt, ich fand ihn kindisch. Aber der unausgesprochenen grundsätzlichen Übereinkunft zwischen Schreibern und Sportlern hatte ich mich früher doch angeschlossen. Und jetzt bin ich so abgerückt von jenem Automatismus, von jenem Früher, ich bin schon weit gekommen beim Trainieren des kühlen Blicks, ich weiß, daß es ihn braucht, um guten und wahren Journalismus zu machen, schrieb ich eben von ­Segen? Das ist der eigentliche Segen: Die Dinge kühl und gegebenenfalls scharf niederschreiben zu dürfen.

Es ist aber, in dieser Serie, derselbe Gegenstand wie früher. Und ich behandle ihn ganz anders als in meinem ersten Leben, darin liegt das Seltsame. Kritisch will ich sein, doch nicht schofelig der eigenen Vergangenheit gegenüber, meiner selbst nicht recht sicher, schleiche ich abends vorm Andruck in der Setzerei herum. Ein Kollege aus einem anderen Ressort, von dem ich nicht weiß, wer er ist, steht vor meinem Text und sieht mich so und winkt mich heran und sagt, das sei doch gut, was ich schriebe, es sei gut, ich solle ihm mal den Gefallen tun und hier nicht so herumtappern.

1995

Es hat sich gelegt, das Vorsichtige. Ich bin hier angekommen, habe die Macht über mich erlangt. Manchmal übe ich auch ein bißchen Macht aus; es ergibt sich so, daß ich in unserem Großraum mit jemandem auf Russisch telefonieren muß, nur eine Absprache, mein Russisch ist lausig, unzureichend für Interviews, aber für sowas Alltagskurzes reicht’s. Als die Kollegen die für sie ungewohnten Töne hören, strömen sie herbei, bilden eine Traube an meinem Tresen und lauschen, ich möchte nicht sagen ergriffen, aber beeindruckt. War das Russisch? fragen sie, kaum daß ich aufgelegt habe, das war jetzt Russisch, oder? Leider nur rudimentäres, müßte ich antworten. Aber sie sind so ehrfurchtsvoll in dem Moment, so glücklich wie kleine Kinder, denen direkt vor der Nase irgendein Instrument gespielt worden ist, welches sie höchstens aus dem Fernsehen kennen, daß ich sie nicht enttäuschen mag und nur kurz und möglichst gelassen nicke. Zugleich, ebenfalls im Bruchteil einer Sekunde, richte ich den Daumen meiner auf dem Tisch ruhenden Hand auf und lasse ihn wieder fallen, ah, wie sich doch eben Bescheidenheit und Bestimmtheit aufs Perfekteste verbunden haben, und fast ohne mein Zutun, erstaunlich, wie einfach alles geht.

Was kostet die Welt, einmal spiele ich mich doch sehr auf. Es geschieht während der Deutschen Leichtathletik-Meisterschaften, und es trifft einen Hünen, der in seiner Disziplin gerade Zweiter geworden ist. Sein größter Erfolg bis jetzt, damit darf er erstmals zu den Weltmeisterschaften fahren, glücklich sitzt er vor uns Journalisten und wartet auf Fragen; war er im Frühjahr, in trunkenem Zustand, nicht unangenehm im Trainingslager auf­gefallen? War da nicht irgendwelches Mobiliar aus dem Fenster geflogen? Steht der Mann nicht sogar im Ruch, irgendwie rechts zu stehen? So sprach man zuletzt hinter vorgehaltener Hand, so deutete man es an im Kreise der anderen Athleten seiner Sparte, darum nun mal Butter bei die Fische, diese Sache im Trainingslager, von der man spricht, und überhaupt Ihr ganzes Verhalten, was sagen Sie eigentlich zu der und zu dem?

Eben, zu Beginn der Pressekonferenz, hatte ich noch keinen Gedanken an jene Gerüchte verschwendet, und jetzt war der Gedanke, in Frageform, plötzlich hervorgebrochen, der Hüne versteinert. Er mag gar nicht reden. Er bekommt auch nur noch eine Höflichkeitsfrage gestellt, und ich, der ich im Kollegenkreise nun wahrlich nicht als Haudrauf gelte, bekomme verwirrte Blicke zugeworfen, was war denn das gerade? Weiß ich auch nicht. Will ich aber gleich wiedergutmachen. Ich laufe dem stumm sich entfernenden Mann nach und sage ihm, es sei nicht meine Absicht gewesen, ihm in dieser Stunde diese Frage zu stellen, es tue mir leid. Er nickt. Er ist erkennbar nicht in der Verfassung, mich zurückzufragen, was zum Teufel denn dann meine Absicht gewesen sei, so komme ich ­davon, ich habe mich entschuldigt, und er hat genickt, nun habe ich noch ein dumpfes Gefühl im Magen, stärker als Flauheit und schwächer als Brechreiz, aber das wird vergehen, drinnen im Stadion läuft ja schon der nächste Wettkampf.

Mittsommerzeit jetzt. Das Tennisturnier in Wimbledon beginnt. Mein Chef ruft mich abends zu Hause an und sagt, ich will Ihnen nur sagen, wir haben Ihren Text kurz vorm Andruck aus dem Blatt genommen, wir fanden ihn nicht recht passend. Den Text, der auf einer Themenseite zum zehnjährigen Jubiläum des Sieges des ­17jährigen Leimeners stand und der beinhaltete beziehungsweise beinhalten sollte, wie jener Triumph damals von den Menschen im Osten aufgenommen worden war; der rausgeschmissene Artikel trug die Überschrift »Wahrscheinlich spielt er nicht schlechter als Emmrich« und ging wie folgt:

Zufälligerweise sind die beiden größten Tennisturniere der DDR kurz vor beziehungsweise zur Wimbledonzeit gewesen. Im Ostseebad Zinnowitz haben sie die Ergebnisse aus London immer mit Reißzwecken an eine uralte Eiche gepinnt, was besonders deshalb nötig war, weil man da oben das Westfernsehen nur schlecht empfangen konnte. Meistens hat Thomas Emmrich aus Magdeburg das Turnier gewonnen und auch das andere in Friedrichshagen, im Osten von Ostberlin.

Nach Friedrichshagen habe ich, quer durch den Wald, von meiner Wohnung mit dem Fahrrad nur zehn Minuten gebraucht, und deshalb hat meine damalige Zeitung, die mit Tennis ebensowenig am Hut hatte wie ich, mich einmal dorthin geschickt. Ich deponierte den Notizblock auf dem Gepäckständer und hätte mir gut vorstellen können, den Tag bei rich­tigem Sport zu verbringen, Leichtathletik etwa.

Emmrich war sehr freundlich. Eigentlich muß er permanent sauer gewesen sein, daß er nie in den Westen durfte, aber entweder hatte er ein stoisches Gemüt, oder er verbarg sein Gefühl. Ich kam nicht auf die Idee, ihn danach zu fragen. Und er erwartete keine solche Frage. Es war eine der vielen stillen Vereinbarungen im Lande. Deshalb weiß ich bis heute nicht, ob Emmrich meint, aus ihm wäre ein Becker geworden, wenn man ihn nur gelassen hätte. ­Natürlich, sagen manche; der Emmrich hätte doch den Becker weggeputzt. Vielleicht hilft es ihnen.

Vor zehn Jahren, als Becker auf dem Durchmarsch war, habe ich eine Reportage über Mütter im Leistungssport geschrieben. Ich fand das Thema passend, denn es war Sauregurkenzeit. Die meisten Leute, für die ich schrieb, verhielten sich ebenfalls ruhig. Es war nicht so, daß sie am Abend des 7. Juli schwarz-rot-goldene Fahnen mit nichts drauf aus dem Fenster gehängt hätten. Manchmal taten sie das nach Fußballspielen, und ich fand schlichtweg, das war Verrat. Ich neigte mehr zum Anfeuern der DDR-Teams. »Neiiiin, Engel, du Idioooot«, habe ich als Kind einmal aus Leibeskräften gebrüllt, als meine Handballer gegen die bundesdeutschen um die Olympiaqualifikation spielten. Hans Engel aus Frankfurt an der Oder verballerte damals den entscheidenden Siebenmeter. Später, als Journalist, traf ich ihn manchmal, und es kam mir immer vor, als schaute er traurig. Er war die personifizierte Niederlage gegen den Klassenfeind.

 

Beim Aufräumen im Keller fand ich jetzt eine vergilbte Broschüre: Leistungssport im imperialistischen Westdeutschland. Ich erinnere mich, sie als 13, 14jähriger Mittelstreckenläufer bekommen zu haben. Darin stehen Sätze wie dieser: »Die auf die sportpolitische Wirksamkeit und auf sportliche Siege zielende Ideologierelevanz ist ein Hauptaspekt der Olympiavorbereitung, um westdeutsche Spitzensportler durch antikommunistische Verhetzung zu personifizierten Gegnern des Sozialismus zu erziehen.« Ich fand das leicht verquast, aber etwas, meinte ich, würde schon dran sein. Bis ich den ersten Berühmten traf, der verhetzt gewesen sein müßte. Es war Bernd Schuster, damals Barcelona. Er erzählte von Zwickauer Verwandten, die er zuweilen besuche, und machte nicht den Eindruck, als hasse er den Sozialismus oder gar mich. Mein Artikel über ihn wurde nicht gedruckt. Boris Becker, will ich damit nur sagen, mußte nicht mehr viel tun. Ich hatte nichts gegen ihn.

Eine Zeitlang dachte ich, er sei mir egal. In Wirklichkeit war er zu unberechenbar, also zu interessant, als daß er mich kalt gelassen hätte. Es wurde mir in dem Moment bewußt, als ein Leser anrief und berichtete, Becker sei mit seiner Freundin Karen zu Besuch bei deren Oma in Liebsdorf, Kreis Luckau, Bezirk Cottbus, und der Chefredakteur meinen Schreibtischnachbarn aufforderte, sofort dorthin zu düsen. Ich spürte Neid, daß er durfte, und war überrascht. Ich war doch zuvor nie neidisch auf einen Kollegen gewesen.

»Hier fahren ja alle die gleichen Autos«, hat Boris in dem Interview festgestellt. Wo er recht hat, hat er recht. Irgendwie abfällig hat er sich nicht geäußert, und das fand ich sehr ehrenwert. Daß wir ziemlich viel Mist bauten, wußten wir inzwischen selbst. Ein paar Tage später kam die Wende. Ich ging nach München und arbeitete einiges auf, in erster Linie für mich. Aber als meine Kollegen klatschten, weil Wasmeier Olympiagold gewann, tippte ich Zahlen in den Computer. Dafür waren sie beschäftigt, als ich mich über Weißflog freute. Erzähle bloß keiner Schleim. Wir sind von weit entfernten Punkten aufeinander losmarschiert. Bei Boris treffen wir uns schon. Ich finde es genial, wie er sagte, er habe zuerst gar nicht wahrgenommen, welche Hautfarbe Barbara hat. Außer­dem spielt er wohl wirklich nicht schlechter Tennis als Thomas Emmrich.

Gleich nach dem kurzen Telefonat, bei dem mir vor lauter Überraschung gar nichts zu sagen einfiel, lese ich das Stück noch einmal, zum ersten Mal außerhalb der Redaktionshektik, und mein Verständnis für’s Nicht-Drucken wächst von Satz zu Satz. Eigentlich ist es sofort da; da hat der Boris dieses großartige Jubiläum, und ich habe nichts Besseres zu tun, als über mich zu schreiben, das ist tatsächlich unpassend. Das geht so nicht. Ich kann mich doch nicht vor den Boris schieben, und dann noch derart flapsig, absolut in Ordnung, was der Chef gemacht hat, im Grunde hat er mich sogar geschützt, und die Zeitung natürlich, fast beschwingt bin ich, weil es mir jetzt doch ziemlich unangenehm wäre, wenn hunderttausende Leute meinen Text zu lesen bekommen hätten.

Die Beschwingtheit hat noch eine tiefere Ursache. Wenn hier ein Stück rausfliegt, dann aus so einem und nicht aus einem politischen Grund, das kannte ich noch nicht, denn in der FDJ-Zeitung, in der ich in der Sportredaktion gewesen bin, sind auch schon Artikel von mir nicht gedruckt worden, und nur aus politischen Gründen: Jenes Stück über Schuster zum Beispiel, den ich in Magdeburg im Hotel traf, während ich auf Maradona wartete, was für eine Geschichte, zwei Tage wartete ich auf ein Interview mit Maradona, die ganze Zeit unten im Foyer, umschwirrt von Lederjacken, die alle Fans abblockten, Maradona läßt sich partout nicht blicken, aber Schuster schlendert herum, scheinbar hat der nix zu tun, in der Westpresse hieß es ja, er sei nicht zu genießen, er sei ein Kotzbrocken gerade zu Journalisten, hab ich verfolgt im Ausschnittsdienst, aber als ich ihn, aus Neugier und um die Zeit rumzubringen, angesprochen hab, war er einfach nur sympathisch. Und offenherzig. Zwei Stunden haben wir uns unterhalten, ziemlich interessantes, auch im Westen nicht bekanntes Zeugs hat er erzählt. Und dann tippe ich es in die Maschine, und der Stellvertretende Chefredakteur sagt, können wir nicht bringen, könnte ja genausogut im Kicker stehen. Mit anderen Worten, dem ist es zu wenig klassenkämpferisch. Dem fehlt so was Friedensinitiativmäßiges. Nichtmal das Sensationelle – sieh an, der Schuster hat Verwandte bei uns, und der besucht sie immer incognito – konnte den Text retten, gerade das nicht. Dieser letztlich verbrüdernde Inhalt, igittigitt.

Warum ich dann von der recht liberalen Wochenzeitung dorthin gegangen bin, zu dieser doch viel strammeren FDJ-Zeitung? Dazu noch eine alte Geschichte: Jetzt eben hat unser aller Tennisspieler Zehnjähriges gehabt und 1988 der amerikanische Weitspringer Zwanzigjähriges, der Mann hatte einen Jahrhundertsprung vollbracht, die sensationellste und gravierendste Weltrekordverbesserung der Sportgeschichte, in jeder Zeitung, die ein bißchen was auf sich hielt, ist daran erinnert worden, aber in keiner ist jemand auf die naheliegende Idee gekommen, mit ihm zu telefonieren und ihn nach seiner Erinnerung und nach den Folgen des Sprunges für ihn selbst zu fragen. Außer eben wir in unserem heute so abschätzig betrachteten Blatt. Pah, heißt es jetzt hier im Westen, eine Million Auflage, aber nur, weil die armen Jugendlichen das lesen mußten, ich kann nur sagen, den Sportteil wollten sie lesen. Weil der ziemlich gut war. Weil da solche Interviews drinstanden. Deshalb hatte ich dorthin gewollt, aus einem ähnlichen Antrieb, wie er mich hierher führte; nebenbei bemerkt war es noch besonders interessant, des Zeitunterschieds wegen nachts mit Amerika telefonieren zu müssen, und zwar von zu Hause, dauernd klackte es in der Leitung, und dann war die Verbindung dauernd unterbrochen, die Genossen aus der Normannenstraße hatten vielleicht Mühe, dem Gespräch zu folgen, ich war voller Adrenalin, und gleichzeitig war ich hochkonzentriert, ich wollte dieses Interview erfolgreich zu Ende führen und äußerte darum den unsichtbaren Mithörern nicht meinen Unmut, und erst recht feixte ich nicht, wie sonst manchmal, wenn es im Hörer geklackt hatte, bitte schneiden, bitte schneiden – bitte? Ob das möglich war, diese Leute am Telefon so zu veralbern? Ich kann nur sagen, mir ist nichts passiert. Mit solchen kleinen Aufmüpfigkeiten haben die sich nicht mehr beschäftigt. Damals kam ich mir großartig vor, daß ich es ins Telefon gerufen habe, heute weiß ich, es war nicht mehr als ein Witz.

Aber ans Eingemachte, wir sind noch bei den Texten, die nicht gedruckt wurden, und ein Verbot hat mich wirklich entsetzt und hat dann auch dauerhafte Auswirkungen gehabt, gleichfalls 1988, ein Stück über den damals besten Handball-Kreisläufer der Welt, einen Magde­burger, der sich schwer verletzt hatte und für Olympia nicht mehr in Betracht kam und von dem Moment an, da er ausfiel, für die Funktionäre nur noch Luft war, selbst um eine ordentliche medizinische Behandlung mußte er bitten und betteln. Er erzählte mir das alles, er hielt sich nicht zurück, und ich schrieb es auf. Der Stellvertretende Chefredakteur der nämliche feuerte das Manuskript mit den Worten auf den Tisch, solchen Dreck drucken wir nicht. Es ist kein Dreck, es ist die Wahrheit, entgegnete ich. Und da rief er, wenn das deine Wahrheit ist, kannst du gern deine Papiere nehmen.

Abends zu Hause, nachdem ich es ihr erzählt hatte, sagte meine Frau, komm, laß uns Kühe melken gehen. Ihre Vorfahren sind aus der Landwirtschaft, aber natürlich hatte sie es symbolisch gemeint, wir werden schon etwas finden, lautete ihr Subtext, Hauptsache, wir hören auf mit den schrecklichen Verrenkungen. Ich antwortete, ich kann nicht Kühe melken. Ich kann nur schreiben, das war genauso überhöht und wahr, ich konnte mir nichts anderes vorstellen als zu schreiben, immerfort zu ­schreiben.

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