Gruppen leiten

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Gruppen leiten
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Birgit Herz

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Verlag Barbara Budrich, Opladen, Berlin & Toronto

www.budrich-verlag.de

ISBN 978-3-8474-2108-5 (Paperback)

elSBN 978-3-8474-1090-4 (eBook – PDF)

eISBN 978-3-8474-0449-1 (eBook - EPUB)

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Bettina Lehfeldt, Kleinmachnow – www.lehfeldtgraphic.de

Titelbildnachweis: www.istock.com

Lektorat: Dr. Andrea Lassalle, Berlin – andrealassalle.de

Satz: Judith Henning, Hamburg – www.buchfinken.com

Inhalt

Einleitung

1. Kleine Einführung in die Anfänge der Gruppenforschung

1.1 Einleitung

1.2 Ausgewählte Begriffe der Gruppensoziologie

1.3 Anfänge der sozialpsychologischen Gruppenforschung

1.3.1 Kurt Lewin (1890-1947)

1.3.2 Jacob Levi Moreno (1889-1974)

1.4 Anfänge psychoanalytischer Gruppentherapieforschung

1.4.1 Siegmund Heinrich Foulkes (1898-1976)

1.4.2 Wilfred Bion (1897-1979)

1.5 Das Eisbergmodell

1.6 Phasen der Gruppenentwicklung

1.7 Gruppendynamische Rollen

2. Leitung von Gruppen als betriebswirtschaftliches Anliegen

2.1 Einleitung

2.2 Der Myers-Briggs Typenindikator (MBTI)

2.3 Das Input-Output-Modell nach Rolf van Dick und Michael A. West

2.4 Neuere Entwicklungen im Unternehmensmanagement

3. Impulse psychoanalytischer Gruppentherapieprozessmodelle für die Leitung von Gruppen

3.1 Einleitung

3.2 Psychoanalytische Gruppentherapieprozessmodelle: Siegmund Heinrich Foulkes und Dieter Sandner

3.2.1 Einführung

3.2.2 Gruppenanalyse nach Siegmund Heinrich Foulkes

3.2.3 Psychodynamik in Kleingruppen nach Dieter Sandner

3.3 Transfer auf die Leitung von Gruppen in pädagogischen Praxisfeldern

4. Impulse der Psychoanalytischen Pädagogik für die pädagogische Gruppenleitung

4.1 Einleitung

4.2 Der kulturhistorische Kontext der Psychoanalytischen Pädagogik

4.3 Ein aktuelles Theoriemodell der Psychoanalytischen Pädagogik

4.3.1 Szenisches Verstehen und fördernder Dialog

4.3.2 Ein Praxisbeispiel: Szenisches Verstehen und fördernder Dialog in der Gruppe

4.4 Impulse des Szenischen Verstehens und des fördernden Dialoges für Gruppenpädagogik

5. Unbewusste Konfliktdynamiken in Teams: Ein Fallbeispiel

5.1 Einleitung

5.2 Das Fallbeispiel

5.3 Gruppendynamisches Fallverstehen

6. Gestalttherapeutische Zugänge zur Leitung von Gruppen

6.1 Einleitung

6.2 Die Gründergeneration der Gestalttherapie

6.3 Grundlagen und Prinzipien der Gestalttherapie

6.4 Gestalttherapeutische Gruppenmodelle

6.4.1 Der Gestaltgruppenprozess nach Alaine Kepner

6.4.2 Das Konzept der Gruppe in der Integrativen Therapie nach Hilarion Petzold

6.5 Transfer auf die Leitung von Gruppen in pädagogischen Praxisfeldern

7. Die Themenzentrierte Interaktion nach Ruth Cohn (1912-2008)

7.1 Einleitung

7.2 Grundlagen der Themenzentrierten Interaktion

7.2.1 Humanistische, wertegeleitete Haltung

7.2.2 Das Modell der Themenzentrierten Interaktion – methodische Grundlagen

7.3 Gruppenleitung in der Themenzentrierten Interaktion

8. Leitung in pädagogischen Teams – Anregungen zum konstruktiven Umgang mit Konflikten in Gruppen

8.1 Teamarbeit und Rollen in Teams

8.2 Konflikte und Konfliktmanagement

8.3 Anforderungen an die Gruppenleitung bei Teamkonflikten

8.4 Förderliche Rahmenbedingungen für eine konfliktreduzierende Gruppen- und Teamarbeit

8.5 Schwierigkeiten und Grenzen der Gruppen- und Teamarbeit: Konfliktmoderation

9. Disziplinarerziehung durch Gruppenzwang: Erziehungs- und Bootcamps

9.1 Einleitung

9.2 Strafpraxen in Erziehungs- und Bootcamps

9.3 Erziehungs- und Bootcamps: Totale Institutionen

9.4 Zur Psychodynamik in Bootcamps

9.5 Antidemokratische Tendenzen in der Pädagogik

10. Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

[9] Einleitung

Das Leiten von Gruppen und Teams ist in schulischen wie in außerschulischen Praxisfeldern eine alltägliche Kernaufgabe der pädagogischen Fachkräfte. Die immer wichtiger werdende interprofessionelle Kooperation, bspw. in inklusiven Bildungs- und Erziehungsfeldern, in Beratung und auch Organisationsentwicklung, setzt spezifische Kompetenzen voraus, Gruppen und Teams zielführend und zugleich kollegial zu leiten. In beruflichen Positionen mit Leitungsfunktion steht vor allem die Unterstützung bei und Steuerung von Gruppenprozessen im Zentrum des fachlichen Profils.

Verschiedene Faktoren tragen dazu bei, dass die Zusammenarbeit von und in Gruppen ein hohes Maß an Störanfälligkeiten und Konfliktpotentialen enthält. Die Arbeitsfelder Supervision und Coaching zielen auf eine optimale Lösung solch schwieriger Gruppenkonstellationen und auf die Stärkung der individuellen Ressourcen und Fähigkeiten der Gruppenmitglieder, um gruppendynamische Prozesse zu klären und wertschätzend zu begleiten. Hierfür bestehen unterschiedliche Qualifizierungsprofile, die zumeist in Form berufsbegleitender Fort- und Weiterbildungsangeboten nachgefragt werden.

 

Die Leitung von Gruppen und Teams in pädagogischen Settings setzt ein spezifisches Fachwissen voraus, das die vorliegende Veröffentlichung in einem einführenden Überblick vermitteln will. Es werden Ergebnisse zentraler Grundlagenforschung – auch in ihrem historischen Kontext – vorgestellt und ein handlungspraktischer Transfer auf den Aufgabenbereich des Leitens von Gruppen in pädagogischen Praxisfeldern vermittelt.

Was verstehen wir unter einer Gruppe oder einem Team? Eine Gruppe besteht aus zwei oder mehreren Personen, die miteinander interagieren. „Zu Beginn der 1990er Jahre zeichnet sich im „Mainstream“ der Forschung eine Gruppe durch folgende Merkmale aus:

■ Sie besteht aus zwei oder mehreren Personen,

■ die miteinander interagieren (und nicht nur, stumm auf den Versuchsleiter starrend), nebeneinander sitzen,

■ und das über eine gewisse Zeit hinweg“ (Edding, 2009, 57).

Die Mitglieder einer Gruppe

■ erleben sich als zusammengehörig,

■ definieren sich explizit als zusammengehörig,

■ verfolgen gemeinsame Ziele,

■ teilen Normen und Verhaltensvorschriften für einen bestimmten Verhaltensbereich,

■ entwickeln Ansätze von Aufgabenverteilung und Rollendifferenzierung,

■ haben mehr Interaktionen miteinander als nach außen,

■ [10] identifizieren sich mit einer gemeinsamen Bezugsperson oder einem Sachverhalt oder einer Aufgabe,

■ sind räumlich und/oder zeitlich von anderen Individuen der weiteren Umgebung abgehoben (vgl. Sader, 1996, 39).

Bei zwei Personen sprechen wir von Dyaden, bei bis zu sechs Personen von Kleingruppen, bei bis zu 30 Personen von Gruppen und bei über 35 Personen von Großgruppen. Zwei zentrale Merkmale von Gruppen sind, dass ihre TeilnehmerInnen über eine längere Zeitspanne zusammen sind und gemeinsame Ziele verfolgen. Des Weiteren wird zwischen informellen Gruppen mit einem formalen Regelsystem, etwa eine Klasse oder eine Seminargruppe, informellen Gruppen, die sich spontan und ohne Regelsysteme einfinden, und offenen (bspw. kirchlicher Gesprächskreis) und geschlossenen (bspw. Strafvollzug) Gruppen differenziert (vgl. König, Schattenhofer, 2006, 15f).

Gruppen zu leiten, erfordert Kommunikationskompetenz, Interaktionssensibilität und die Bereitschaft zur Selbstreflexion. So gibt es eine Vielzahl an „Zuhöre- und Verbalisierungstechniken“, die die Kommunikation in der Gruppe fördern. Zu nennen sind hier u.a.: Paraphrasieren, Verbalisieren nonverbaler Interaktionen, Nachfragen, Zusammenfassen, Abwägen, Klären, Weiterführen einer Idee u.v.m. (vgl. Simon, 2009).

Auch die Körpersprache beeinflusst die Kommunikation in Gruppen. Gesichtsmimik, Gestik von Kopf und Hand, Haltung des Oberkörpers oder Stellung der Beine bilden eine „stimmlose Sprache“, derer wir uns selten bewusst sind – es sei denn, wir setzen diese „Sprache“ strategisch überlegt ein.

Das sichtbare, manifeste Geschehen in Gruppen auf der Sachebene ist untrennbar mit dem nicht-sichtbaren Geschehen (dem individuellen und gemeinsamen Unbewussten) auf der emotionalen Ebene verbunden. Latente, nicht bewusste Wünsche und Ängste sind als nicht direkt sichtbare Affekte in jedem Gruppengeschehen präsent.

Die Dynamik in Gruppen umfasst daher zwei Ebenen. „die erkennbare Dynamik des Verhaltens der einzelnen Gruppenmitglieder zueinander und dem Gruppenleiter gegenüber, die häufig mit den Entwicklungsstadien des Menschen verglichen wird, ist die zunächst an der Oberfläche unmittelbar spürbare Seite. Die unausgesprochenen Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen, die das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder unbewusst determinieren, stellen die zweite Ebene dar“ (Brocher, 2015, 37).

Das manifeste Geschehen in Gruppen wird maßgeblich beeinflusst durch gemeinsame unbewusste Gefühle und Phantasien der Gruppenmitglieder. Ihr Verhalten in der Gruppe und ihre Ausgestaltung des Zusammenseins mit anderen werden durch implizites Wissen gesteuert. „Implizites Wissen“, so schreibt Ulrich Streek, „ist unbewusstes Wissen“ (Streek, 2014, 22). Dieses unbewusste Wissen bildet gleichsam die Tiefendimension gruppeninterner Prozesse.

[11] Die Relevanz einer professionellen Auseinandersetzung mit solchen unbewussten Interaktionsdynamiken zeigt sich vor allem bei der Leitung von Kinder- und Jugendlichengruppen. Anhand eines Praxisbeispiels aus einer Schulklasse wird in diesem Buch exemplarisch die Bedeutung und Wirkmächtigkeit solcher unbewussten Gruppenprozesse und -phantasien mit ihren Übertragungs- und Gegenübertragungsphänomen zwischen der Klassenleitung und einer SchülerInnengruppe erläutert.

Diesen unbewussten Vorgängen und Prozessen widmet sich vor allem die psychoanalytische Gruppentherapieforschung. Sie analysierte die komplexen Wechselbeziehungen zwischen dem Verhalten der Leitung und der Entwicklung der Gruppe, so dass hier empirisch überprüfbare Zusammenhänge vorliegen. Dieser Erkenntnisgewinn führt zu ausgesprochen bedeutsamen und hilfreichen Anregungen für die professionelle Leitung von Gruppen und Teams in pädagogischen Praxisfeldern.

Auf die Anfänge der sozialpsychologischen Forschung über Gruppendynamik wird hier ebenfalls Bezug genommen, weil deren grundlegende Fragestellungen und Ergebnisse auch heute noch aktuell sind, vor allem bspw. mit Blick auf die verschiedenen – idealtypischen – Phasen in Gruppenprozessen oder auf mögliche psychodynamische Rollen von Gruppenmitgliedern.

Als Gruppenmodelle in der Tradition der Humanistischen Psychologie werden der gestalttherapeutische Ansatz und die Themenzentrierte Interaktion vorgestellt. Sie werden in der pädagogischen Praxis häufig eingesetzt und bieten vielfältige Anregungen für die Wahrnehmung, Gestaltung und Reflexion der Leitungsrolle sowie deren unterschiedliche Ebenen des Involviertsein in die Gruppenprozessdynamik.

Der vorliegende Band informiert über einige zentrale Wegbereiter der Theorieentwicklung über Gruppen. Während v.a. Kurt Lewin und Jakob Moreno die Gruppendynamik im Hinblick auf deren Einsatz in Organisationen, Institutionen oder Selbsterfahrungsgruppen erforschten, widmeten sich Siegmund Heinrich Foulkes, Wilfred Bion oder Dieter Sandner primär gruppentherapeutischen Fragestellungen. Bei Ruth Cohn stand die Entfaltung eines autonomen Subjektes mit seiner Interdependenz im sozialen Umfeld im Vordergrund, während Fritz Perls die Selbstaktualisierung bisher unbekannter Potentiale und das Auflösen von Blockaden und Hindernissen ihrer Nutzung anstrebte.

Das idealtypische Phasenmodell der Entwicklung von Gruppenprozessen nach Bruce W. Tuckmann – als Analyseergebnis der bis 1965 vorliegenden Studien über Gruppen – war grundlegend für weitere Untersuchungen. Psychodynamische Rollen in Gruppen erlauben exemplarisch, das sichtbare Verhalten von Gruppenmitgliedern zu kategorisieren.

Die professionelle Leitung von Gruppen und Teams beinhaltet immer wieder auch, Konflikte in und mit der Gruppe zu moderieren. „Jede Gruppe steht am Anfang immer wieder vor der Aufgabe, Klarheit über Ziele, [12] Zielhierarchien und Wege zum Ziel zu schaffen“ (Stahl, 2007, 11). Die Kenntnis unterschiedlicher, teilweise aus psychotherapeutischen Gruppenmodellen stammender Systematiken, bietet vielfache Anregungen und erlaubt einen praxistauglichen Transfer auf die pädagogische Gruppenleitung.

Das Interesse an Gruppen und Teams, vor allem im Kontext ihrer wirtschaftlich nutzbaren Potentiale, führte zu einer Vielzahl organisationspsychologischer Modelle. Deren strategische Ausrichtung unterscheidet sich deutlich von gruppenbezogenen Fragestellungen im Erziehungs-, Bildungs- und Sozialwesen. Da auch dort mittlerweile betriebswirtschaftliche Aspekte zunehmend an Bedeutung gewonnen haben, gibt dieser Band exemplarisch einen kurzen Einblick in die Implementation ökonomisch orientierter Gruppen- und Leitungsmodelle.

Auch der Missbrauch von Gruppen und deren Instrumentalisierung zur Durchsetzung von disziplinarischen Verhaltensmanipulationen durch Gruppendruck und Gruppenzwang soll trotz ihrer latenten und manifesten Tabuisierung erläutert werden. Ausgehend von den Ideologien der Erziehungs- und Bootcamps wird ein in der pädagogischen Praxis aktuell weit verbreitetes Modell vor allem mit Blick auf seine antidemokratischen Inhalte kritisch analysiert.

Auch wenn, wie Cornelia Edding bereits 2005 feststellte, heute Gruppen- und Teamarbeit zunehmend auch über das Internet organisiert wird (vgl. Edding, 2005, 17), so bleibt das Leiten von Gruppen und Teams in Bildung und Erziehung keine virtuelle, sondern eine ganz konkrete und anspruchsvolle Aufgabe für Lehrkräfte, PädagogInnen und ErzieherInnen. Unter den Bedingungen von Diversität sowie einer Zunahme an Komplexität und Aufgabenvielfalt in allen pädagogischen Praxisfeldern gewinnt Leitungskompetenz in heterogenen Kooperations- und Netzwerkstrukturen verstärkt an Bedeutung.

Der Band vermittelt einige grundlegende Wissensbestände, Zusammenhänge, Anregungen und Reflexionsimpulse, um dieser Aufgabe mit Freude, Fachkompetenz und Flexibilität gerecht zu werden. Die kurze Einführung ist mit Blick auf Studierende ebenso wie auf BerufsanfängerInnen in pädagogischen Praxisfeldern verfasst und zielt auf eine Stärkung der handlungsorientierten Befähigung für das Leiten von Gruppen. Jedes Kapitel schließt mit einer Literaturempfehlung, mit der der nur kurz dargestellte theoretische Überblick und die praktischen Beispiele vertieft werden können.

Gerade weil wir als Gruppenmenschen sozialisiert sind, kann der rational geschulte Blick auf Gruppenprozesse in pädagogischen Praxisfeldern und auf das Leitungsverhalten dazu beitragen, zielführende Fachlichkeit und Arbeitszufriedenheit zu unterstützen.

Hannover, Dezember 2016

Birgit Herz

[13] 1. Kleine Einführung in die Anfänge der Gruppenforschung
1.1 Einleitung

Das wissenschaftliche Interesse an Gruppen ist ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Während die Soziologie das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft untersuchte, die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse das Individuum selbst zum Forschungsgegenstand machte, entwickelten sich als neue, eigenständige Wissenschaftsdisziplinen die Sozialpsychologie und die psychoanalytische Gruppentherapieforschung. Die Forschungsarbeiten ihrer Pioniere werden in diesem Kapitel kurz vorgestellt. Das idealtypische Phasenmodell der prozessorientierten Entwicklung einer Gruppe sowie die neurotische Rollenbesetzung von Gruppenmitgliedern bilden den Abschluss dieses Kapitels. Obwohl die Anfänge der Gruppenforschung mittlerweile über 70 Jahre zurückliegen, bleiben sie immer noch aktuell.

1.2 Ausgewählte Begriffe der Gruppensoziologie

Im Kontext der Etablierung der Soziologie als eigenständige Wissenschaftsdisziplin am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Forschung über Gruppen ein wesentlicher Teil soziologischer Theoriebildung (vgl. Mills, 1974; Neidhardt, 1983). Die entscheidenden Untersuchungen über psychodynamische Prozesse in Kleingruppen wurden von experimentell arbeitenden Psychologen durchgeführt, die mit ihren Forschungsarbeiten die Sozialpsychologie begründeten. Bevor einige ihrer wichtigsten Pionierarbeiten skizziert werden, wird eine begriffliche Differenzierung aus der Sicht der Soziologie voranstellt.

Bernhard Schäfers hat in seiner Veröffentlichung über die „Entwicklung der Gruppensoziologie und Eigenständigkeit der Gruppe als Sozialgebilde“ unterschieden zwischen

■ Gruppe,

■ Team,

■ Menge,

■ Masse,

■ Institution,

■ Organisation und

■ Assoziation (vgl. Schäfers, 1994).

[14] Zur Definition von Gruppen

„Eine soziale Gruppe umfasst eine bestimmte Anzahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), die zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Gruppenziel) über längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich“ (Schäfers, 1994, 20f). Als Beispiele für Gruppen können Schulklassen, ein autonomes studentisches Seminar oder Arbeitsgruppen in Betrieben genannt werden.

 

Zur Definition von Teams

Teams setzen sich in aller Regel aus berufsaffinen Mitgliedern zusammen. Sie bewältigen einen gemeinsamen Arbeitsauftrag in einem überschaubaren Zeitrahmen. Teams sind ein fester Bestandteil moderner Managementsysteme, um über Synergieeffekte das Leistungspotential zu steigern. „Der Begriff Team ist eine Sammelbezeichnung für alle arbeits- und aufgabenbezogenen Gruppen, deren Mitglieder kooperieren müssen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen“ (König, Schattenhofer, 2006, 18). Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer therapeutischen Wohngruppe bilden bspw. ein Team.

Zur Definition von Mengen/Massen

Eine Menge ist die „Gesamtheit der Personen, die sich ohne Verabredung und daher in der Regel auch ohne intensivere Kommunikation und Interaktion am gleichen Ort aufhalten. Die Menge teilt also – zunächst einmal – nur das Kriterium der räumlichen Nähe und des Beieinanderseins. Die beteiligten (versammelten) Personen bleiben zunächst anonym“ (Schäfers, 1994, 22). Als Beispiel kann exemplarisch das Publikum im Kino oder Theater genannt werden. Zur Masse wird eine solche Menge, wenn sich die beteiligten Personen im Hinblick auf ein gemeinsames Ziel zusammenschließen (vgl. König, Schattenhofer, 2006, 16).

Masse ist ein „vielschichtiger Begriff zur Kennzeichnung einer dicht gedrängten Menge von Menschen, die im Hinblick auf ein sehr reduziertes Ziel sich verständigt und interagiert“ (Schäfers, 1994, 22). Exemplarisch für eine Masse können etwa Fangruppen bei einem Fußballspiel genannt werden.