Buch lesen: «Uppers End», Seite 5

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„Das stimmt Linda. Es war eine schwere Zeit für mich. Am liebsten hätte ich Martha die Türe wieder vor der Nase zugeschlagen, wenn sie klingelte und ich öffnete. Aber ich musste ja freundlich zu ihr sein. Schließlich entlastete

sie mich, indem sie die Kinder nachmittags zu sich holte.“

„Pah!“, fuhr Martha dazwischen. „Du tust ja gerade so, als wäre ich die schlimmste Person auf der Welt gewesen. Wenn dem so gewesen wäre, wären Ute und Hans bestimmt nicht so gerne zu Heinrich und mir gekommen. Also erzähl hier nicht so´ n Quatsch, Hannah.“

„Ich gebe dir Recht, Martha. Meistens warst du nett zu mir, wenn die Kinder dabei waren. Aber wehe wir waren alleine. Dann fingst du augenblicklich mit deinen Gemeinheiten mir gegenüber an. Ich muss zugeben, manchmal warst du tatsächlich auch einfach mal nett zu mir - manchmal. Ich war damals so naiv und glaubte dir deine Freundlichkeit, denn ich gab die Hoffnung auf Besserung unseres Verhältnisses nicht auf. Wie sich herausstellen sollte, diente deine Nettigkeit aber nur dazu, um Anlauf zu nehmen für deine nächste Gemeinheit. Du wolltest mich in Ahnungslosigkeit und Sicherheit wiegen, um noch effizienter zuschlagen zu können. Leider ist dir das damals bravourös gelungen. Was war ich doch dumm und naiv!“ Hannah machte sich deswegen immer noch schwere Vorwürfe.

„Na endlich hast´ de das kapiert“, triumphierte Martha. „Hast reichlich lange dafür gebraucht, Hannah.“

„Na warte, du böses Weib!“ Hannah drohte mit erhobenem Zeigefinger zu Martha hinüber.

„Benehmt euch!“, mahnte Upper.

Augenblicklich gaben die beiden Ruhe.

„Keine Sorge, Upper.“ Hannah nahm sich gehörig zurück. „An der mach´ ich mir nicht die Finger schmutzig. Nur eins wollte ich noch erzählen: Martha hatte mir damals mit der Backofengeschichte aus ihrer Heimat einen Floh ins Ohr gesetzt. Ich war so in Sorge um Linda, dass ich immerzu daran denken musste. Sollte es tatsächlich stimmen? Könnte es klappen? Ich musste es probieren! Ich wollte nichts unversucht lassen, damit Linda durchkam. Sicherlich hätte ich die Kleine auch ins Kinderkrankenhaus geben können, aber damit hätte ich ja zugeben müssen, dass ich versagt habe. Ich konnte in meiner Vorstellung schon förmlich hören, wie Martha das ausnutzen würde. Auch meine Mutter, die sich sonst aus allem heraushielt, hörte ich schon, wie sie mich als Versagerin betiteln würde. Das alles wollte ich mir ersparen. Mein Entschluss stand fest. Ich musste es ausprobieren. Als ich mit Linda alleine war, legte ich los. Ich überlegte mir zunächst, wie viel Grad Linda aushalten könnte ohne Schaden zu nehmen. Konnte ich meinen Backofen überhaupt auf solch niedrige Temperatur einstellen? Ich schaute nach. Fünfzig Grad war das Minimum. Das war definitiv zu hoch. Bei fünfzig Grad trocknete ich Dörrobst für den Winter. Nein, nein, Linda war doch kein Dörrobst! Ich entschloss mich, zwar die niedrigste Temperatur einststellen, doch dann, wenn sie erreicht sein würde etwas zu warten, bis die Temperatur wieder ein wenig heruntergekühlt wäre und dann würde ich Linda dort wärmen. Soweit der Plan. Doch wie sollte ich sie hineinlegen. Einfach so aufs Backblech? Nein, das wollte ich nicht. Wäre auch viel zu unbequem gewesen. Linda sollte es gut haben. Mir kam eine Idee: Der Gänse Bräter – das würde gehen. Linda war nur halb so groß wie eine gute Gans. Da würde sie bequem hineinpassen. Ich polsterte also den Bräter mit einer Decke und einem kleinen Kissen aus und legte Linda probehalber hinein. Das passte prima. Dann nahm ich sie erst mal wieder heraus, denn ich wollte das Spezial-Bettchen im Ofen vorwärmen. Ich stellte den Bräter samt Kissen und Decke hinein und setze mich mit Linda auf dem Arm auf einen Stuhl, den ich vor dem Ofen bereitgestellt hatte. Bald musste es soweit sein. Ich hatte den Temperaturregler vor zwanzig Minuten ausgemacht. Jetzt musste ich nur noch rasch die tatsächliche Temperatur überprüfen. Dazu hatte ich mir das Thermometer vom Heißentsafter geholt. Ich öffnete also die Türe des Backofens. Auf meinem linken Arm hielt ich Linda, mit rechts packte ich den Griff der Ofenklappe. Ich blickte auf Linda hinab. Mit großen, weit aufgerissenen Augen guckte sie mich voller Angst an. Sie begann fürchterlich zu weinen als sich unsere Blicke trafen. Es war ganz so als würde sie mich anflehen: ´Tu´s nicht! Bitte, bitte tu´s nicht´. Und obwohl sie so klein und schwach war, entwickelte sie plötzlich eine enorme Kraft und versuchte sich zu befreien. Plötzlich wurde mir übel. Mir wurde bewusst, was ich im Begriff war zu tun. Mir war, als hätte eine fremde Macht oder ein böser Zauber mich ergriffen und veranlasst, das zu tun. Entsetzt sprang ich von meinem Stuhl auf. Mit Krachen kippte er hinter mir um. Ich rannte mit Linda aus der Küche raus. ´Nur weg von hier! Weg von dem Herd´, dachte ich. Ich setzte mich mit Linda aufs Sofa im Wohnzimmer und versuchte mich zu beruhigen. Linda war mittlerweile still.“

„Ja, stumm vor Schreck. Kannst du dir vorstellen, wie das damals für mich war? Ich war dir ausgeliefert, konnte mich nicht wehren. Ich spürte die Bedrohung am ganzen Körper.“

„Oh Linda, es tut mir so furchtbar leid. Ich hab´s nur gut gemeint – das musst du mir glauben!“

„Schwamm drüber! Jetzt, wo du vor allen hier deine Tat gestanden hast, habe ich meine Genugtuung erhalten.“

„Aber ich bin damit noch nicht fertig“, insistierte Kanep. „Davon habe ich hier zum ersten Mal gehört. Das ist ja schrecklich! Wie grausam! Das hast du mir nie erzählt, Linda.“

„Ich weiß, Kanep. Ich sah keine Notwendigkeit das zu tun. Ist doch letztendlich gut ausgegangen.“

„Wie kannst du das nur so in aller Seelenruhe sagen? Was man dir angetan hat ist ja wohl … wohl …, da fehlen mir die Worte.“ Kanep war außer sich. Er war wütend auf Hannah und gleichzeitig verzweifelt, weil er nichts tun konnte. Wenn Hannah nicht schon tot gewesen wäre, würde er es jetzt veranlassen wollen.

„Kanep, Hannah mag es getan haben, aber die wahre Schuldige steht da drüben.“ Linda zeigte auf Martha.

„Ich? Jetzt soll ich das gewesen sein? Nein, nein – das hängst du mir nicht an, Linda!“

„Und ob, Martha. Das war auf deinem Mist gewachsen. Du hast Hannah das doch mit dem Backofen erzählt! Außerdem hast du damit angegeben, dass du dich auf geheime Künste verstehen würdest. Warzen besprechen, bei Vollmond, unter einer Buche und so weiter. Verwünschen und verfluchen konntest du auch. Da brauch ich doch nur eins und eins zusammenrechnen und hab´s raus, du alte Hexe!“

„Martha schweig jetzt besser“, mahnte Heinrich. „Willst du noch mehr Schaden anrichten?“ Heinrich befürchtete, das hier könnte nicht gut für sie beide ausgehen. Er versuchte da wieder rauszukommen. Deshalb fragte er seinen Sohn Erhard: „Was sagst du zu der Geschichte, die deine Frau da erzählt hat und zu Lindas Anschuldigungen?“

„Ich hab´ doch gar nichts davon mitbekommen – war doch Arbeiten. Außerdem hat sie´s nicht gemacht. Linda ist nichts passiert. Ihr könnt euch was anstellen. Eins sag ich euch: Hannah ist die beste Mutter und Ehefrau, die ich kenne. Meine Hannah ist eine gute Frau! Und noch was: Martha ist auch eine gute Frau! Sie ist meine Mutter und hat immer gut für mich gesorgt - auch als Papa im Krieg an der Front kämpfen musste.“ Damit war für Erhard die Sache erledigt. Das entsprach genau seiner Art, wie er die Dinge regelte. Er hielt sich möglichst aus allem heraus, denn so wurde er in keinen Streit hineingezogen oder für etwas verantwortlich gemacht. Sollten die anderen ihren Kram machen. Erhard wollte nichts damit zu tun haben. Erhard war einer von Uppers Füll-Seins. Er war ohne bestimmte Aufgabe auf der Erde. Heinrich hatte Upper vor seiner Reise zur Erde gebeten, ihm ein Sein als Ergänzung zur Seite zu stellen. Er wollte ausprobieren einen Nachfolger für sich auszubilden. Aus unerfindlichen Gründen ließ Upper sich auf diesen Versuch ein. Doch gestand er Heinrich lediglich eins von seinem Füll-Seins zu. Seine Spezialisten wollte er für dieses vage Experiment nicht leichtfertig opfern. Wie sich noch herausstellen sollte, hatte Upper gut daran getan. Leider war Erhard aber eine große Enttäuschung für Heinrich. Er besaß keinerlei perfide Energie wie er sie selber besaß und er hegte im Gegensatz zu ihm nie böse Absichten. Kurz, ihm fehlten alle Voraussetzungen für eine würdige Nachfolge. Erhard war das einzige Kind von Heinrich und Martha. Ich denke, Martha verstand es, weitere Kinder durch diverse Methoden zu verhindern. Erhard war ein lieber Kerl aber denkbar ungeeignet Heinrichs Erbe anzutreten. Da konnte Heinrich nur auf einen Enkelsohn hoffen. Nun ja, das erste Enkelkind, das Erhard und Hannah ihm brachten, war Ute. Die Freude war groß, als Ute zur Welt kam – doch sie war nur ein Mädchen. Aber vielleicht würde sie Marthas Traditionen fortführen, wer weiß? Die Möglichkeit war durchaus gegeben, denn Ute war kein Forschungs-Sein sondern ein Flexi-Be, so zu sagen ein Joker. Flexi-Bes sind zunächst ohne besondere Aufgabe auf der Erde, können sich aber später spezialisieren. Entweder entscheiden sie selber über eine mögliche Aufgabe oder ihnen wird nachträglich eine Aufgabe vom Bibo zugeteilt. Gut ein Jahr nach Ute kam Hans auf die Welt. Was war das für eine Freude! Ein Stammhalter, endlich ein Stammhalter! Heinrich sah sich am Ziel. Hans sollte also derjenige sein, welcher auf ihn folgen würde. Daraus konnte tatsächlich was werden. Hans war ein Phantom-Sein, ein Sein das sich selten zeigt und auch nicht zeigen will, wie es ist. Es lebt überwiegend im Verborgenen und gibt seine Archetyp- und Schattenaspekte nie preis. Das macht es unnahbar und unberechenbar. Die meisten Menschen gehen aus Furcht vor ihm auf Abstand. Das gehört zum Plan des Phantom-Seins, denn das nutzt es aus, um Macht über andere ausüben zu können. Hans lebte das perfekt aus. Es war sogar noch schlimmer: Hans avancierte nach und nach zum Popanz, denn Heinrichs Schattenaspekte bemächtigten sich seiner. Heinrich hatte sein Ziel erreicht. Er lebte in Hans weiter.

Begegnung mit dem Teufel

„Wie konnte ihm das denn gelingen? Wenn ein Phantom-Sein doch so unnahbar und unberechenbar ist, dann ist derjenige, der darin lebt auch unbesiegbar – oder habe ich da was falsch verstanden“, fragte Max. Die Sache mit dem Phantom-Sein interessierte ihn sehr. Das fand er überaus spannend. Er malte sich aus, wie er damit irgendwann einmal als mächtiger Unbekannter die Menschheit beherrschen würde. Seine Fantasie schlug bei diesen Möglichkeiten, die sich da für ihn eröffnen könnten, geradezu Kapriolen.

„Max, vergiss es! Denk nicht einmal daran, mein Lieber. Das würde ich dir nie gestatten.“ Upper, der Max´ Gedanken hörte, denn das konnte er, bremste ihn sofort. „Glaubst du etwa, nach all dem, was in eurer Familie passiert ist, würde ich noch irgendjemandem von euch ein Phantom-Sein zugestehen? Das ist ein für alle Mal vorbei. Nie mehr soll das so sein!“

„Ist ja schon gut“, gab Max kleinlaut bei. Er fühlte sich ertappt. „Man wird ja wohl mal träumen dürfen.“

„Ja natürlich“, räumte Upper ein „aber die Sache ist zu ernst. Damit spaßt man nicht. Unterschätzt nie die Macht der Schattenseite!“ Upper mahnte mit erhobenem Zeigefinger während er bedeutungsvoll in die Runde

blickte.“

„Da muss ich Upper beipflichten. Begegnet den Schatten mit größtem Respekt!“ Auch Tomasin fühlte sich ob dieser Thematik gedrängt zur Vorsicht aufzurufen. Er wusste genau, wovon er sprach, denn schließlich oblag es seiner Sorgfaltspflicht die Schattenaspekte zuzuteilen. Besonders heikel war das immer, wenn ein Phantom-Sein zur Erde reiste. Da kam es auf bestmögliche Ausgewogenheit von Archetyp und Schatten an. Auf keinen Fall durfte der Schatten kraftvoller sein als der Archetyp. Wenn das passierte, könnte es schwerwiegende Konsequenzen zur Folge haben. Wie aus dem Nichts könnte ein Phantom-Sein dann unerwartet in Erscheinung treten und sich zu einem Despoten aufschwingen. Tomasin führte zur Verdeutlichung ein Beispiel an. Ihm war überaus wichtig, dass die Anwesenden die Gefahr, die von Phantom-Seins ausging verstanden. „Da gab es einmal einen gewissen Hitler. Das ist gar nicht mal so lange her. Erst lebte er im Verborgenen und träufelte schwachen Seins seine Ideologien ein. Als er genügend Seins auf seine Seite gezogen hatte, war seine Stunde gekommen – er ergriff die Macht über ein ganzes Land. Mehr noch: er strebte die Weltherrschaft an. Zum Glück gab es nichtsdestotrotz genügend starke Seins, die sich ihm entgegenstellten und ihn zur Aufgabe zwangen. Er konnte seine Niederlage nicht hinnehmen und beschloss deshalb auf eigene Faust nach Hause zu reisen. Eins hatte er aber vergessen: er handelte gegen Fridolins Zeitmanagement. Er trat die Reise nach Hause ohne Fridolins Führung an. Er fühlte sich selber berufen ein Führer zu sein. Ein fataler Fehler. So kam es, dass er sich auf dem Rückweg verirrte und im Nichts verschwand. Leider wurden seine menschenfeindlichen Ideen von den schwachen Seins auf der Erde, deren eigene Denkfähigkeit vom Ursprung her schon sehr eingeschränkt war, aufgegriffen. Es war demzufolge nur eine Frage der Zeit, bis wieder ein Phantom-Sein mit unausgewogenem Gleichgewicht von Archetyp und Schatten zu Erde reisen würde und Hitlers entartetes Gedankengut wieder aufleben ließe. Denn auch nach Hitler, genau wie auch schon vor ihm, reiste ein Phantom-Sein mit Unausgewogenheit zur Erde und richteten Schaden an. Das muss ich leider zugeben. Es gibt Faktoren, auf die habe auch ich keinen Einfluss. So kann ich nicht vorhersehen, welche Aspekte letztendlich auf der Erde aufeinandertreffen werden. Natürlich kann ich sehr vieles im Vorfeld berechnen. Aber es bleibt immer ein statistisches Risiko von null Komma null eins Promille, bei dem ein mögliches Restrisiko besteht.“

„Wieso gibt es überhaupt dieses Phantom-Sein?“ Max sprach die Frage aus,

die sich auch alle anderen fragten. Ein allgemeines Murmeln erhob sich.

Alle Augen richteten sich auf Tomasin und erwarteten eine Antwort.

„Ich muss zugeben, das weiß ich auch nicht mehr so genau. Ich kann euch die Frage nicht wirklich beantworten. Aber ich glaube, dass Upper eine Erklärung dafür haben könnte. Nun Upper, kannst du mir, das heißt uns die Frage beantworten?“

„Ich kann es versuchen. Es gibt da eine Legende: Den Ort der Zeit ohne Zeit hat es nicht immer gegeben. Vorher – wie lange das auch immer her sein mag, das vermag niemand so genau zu sagen – existierte die Zeit vor der Zeit. Dort gab es weder unseren Ort hier, noch das Nichts, die Erde oder sonst etwas. Es gab nur sie. Sie war alles, das Ganze, alles in einem – ein einziges großes Sein. Doch dann gab es einen riesigen Knall, hervorgerufen durch eine mächtige Explosion, die das große Sein der Zeit vor der Zeit zerbersten ließ. Was war geschehen? Ein Quod fiel hernieder, von wo auch immer es hergekommen sein mag. Es traf das Sein und begann sich zu spalten. Zunächst zerbarst das Sein in sieben Teile: Mich (Upper), Tomasin und Fridolin. Tomasin und Fridolin hatten als erste Bewusstheit erlangt und checkten was los war. Sie sprangen alsbald beiseite. Ich allerdings konnte nicht fassen, was da geschah. Ich blieb wie angewurzelt stehen und bestaunte, wie Partikel um Partikel sich von einem vierten großen Sein-Teil lösten. Das war der Beginn unseres Zuhauses. Denn die Mehrheit dieser Seins-Partikel verblieb hier. Sie spezifizierten sich in die diversen Typen, wie zum Beispiel Forscher-Sein, Notfall-Sein, Phantom-Sein, Flexi-Be oder Neutros, die zu Füllmaterial taugten und so weiter. Tomasin, Fridolin und ich behielten unsere relativ große Partikeltextur. Es war sogar so viel, dass wir weniger Partikel vom großen Sein waren, sondern vielmehr komplexe Fragmente. Und dadurch, dass ich bei der Explosion nicht beiseite gesprungen war, prasselte ein heftiger Regen aus sich mehrendem Quod auf mich hernieder und reicherte sich in mir an. So geschah es, dass ich der Bibo wurde.

Aus einem fünften Teil formte sich die Erde so, wie wir sie heute noch kennen. Das sechste Stück implodierte und entwickelte sich kurz darauf zum Universum, das die Erde umgibt. Der siebte Teil des ehemals großen Seins beherbergte als letzter noch eine Menge der Explosionsenergie. So kam es, dass die Energie der Implosion auf die der Explosion traf und daraus das Nichts entstand. Damit war unser heutiges System geboren. Als wieder Ruhe eingekehrt war, ich einiges geregelt hatte und sich alles in einer neuen Ordnung befand, begannen die ersten Forschungsreisenden die Erde zu erkunden. Man beschloss nach ihrer Rückkehr, dass die Erde fortan ein Erfahrungsplanet für die Seins sein sollte.“

„So war das also, Upper. Das war ein Unglück und eine Verkettung von Zufällen“, stellte Kanep fest. Wie immer war er derjenige, der Uppers Darstellung als erster verstand und meinte zuordnen zu können.

„Nein Kanep, nicht ganz. Ich glaube heute, dass das eine große Sein es selber herbeigeführt hatte, indem es per – na, ich nenn es mal Gedankenenergie konzentrierte Materie, nämlich ein Quod erzeugt hat und somit den Explosionsimpuls auslöste. In der Legende heißt es zwar, dass niemand weiß, woher das Quod kam, doch ich bin davon überzeugt, dass es nur vom großen Sein selber gekommen sein kann.“

„Aha, das ist aber eine gewagte Theorie, die du mir da auftischst, Upper. Meinst du nicht, wir sollten doch besser die Gesetze der Astrophysik für die Erklärung heranziehen?“

„Kanep, das ist ja mal wieder typisch für dich! Zweifelst du mich an?“

„Ja. Das hieße ja, dass das große Sein einen Plan hatte. Warum sollte es so was tun?“

„Ganz einfach: ihm war langweilig. Es hatte Lust auf ein Experiment. Das kann ich sogar nachvollziehen. Stell dir mal vor, wie es ist, wenn du immer nur mit dir alleine bist. Das muss doch furchtbar sein!“

„Das meinst du. Für mich ist das eine ganz nette Vorstellung. Nur Kanep mit sich allein – ohne irgendwelche anderen Quatschköppe. Och, das ließe ich mir gefallen.“

„Für immer? Und im Bewusstsein, dass die Ganzheit so viele Aspekte hat und diverse Möglichkeiten bietet? Kanep, meinst du nicht, es würde dich da nicht auch reizen diese Möglichkeiten auszuprobieren?“

„Hmm … nun ja, Upper, das könnte schon sein. Wenn ich mir so überlege, wie spannend die Leben mit Linda waren – ich glaube, da hast du doch Recht. Auf Dauer würde es ganz schön öde werden können. Wahrscheinlich würde ich es irgendwann ähnlich machen, und dann natürlich auch nach meinem Plan.“

„Siehst du?“

„Können wir jetzt wieder zu Max´ Frage zurückkehren?“ Linda war der Diskussion zwischen Upper und Kanep überdrüssig. Sie kannte ihren Kanep zu genüge und wusste, wenn sie ihn jetzt nicht stoppen würde, würde er Upper immer tiefer in Diskussionen hineinziehen. Das würde wahrscheinlich so lange andauern, bis Kanep seine Auffassung der Dinge von Upper als die einzig richtige bestätigt bekäme. Vorher würde er keine Ruhe geben. Aber es ging hier schließlich um sie. Linda war diejenige, die den Bericht über ihre Erfahrungen auf der Erde erbringen musste. Kanep würde später noch genug Gelegenheit haben mit Upper zu diskutieren. Wahrscheinlich würde Kanep auch Fridolin und Tomasin mit ins Boot holen. Linda musste bei der Vorstellung schmunzeln. Kanep und Upper und Tomasin und Fridolin, gemeinsam in einer Diskussionsrunde. Linda war bei dem Gedanken auch ein bisschen stolz auf Kanep und freute sich für ihn. Endlich hätte er mal wieder interessante Gesprächspartner mit hohem Niveau.

Upper bat Max seine Frage zu wiederholen. Also begann er: „Wie kann es sein, dass Hans von Heinrichs Schatten ergriffen werden konnte, obwohl er ein beinahe unbesiegbares Phantom-Sein war?“

„Ach ja, genau das war deine Frage.“ Tomasin erinnerte sich wieder. „Das ist eine gute Frage Max. Tatsächlich ist ein Phantom-Sein beinahe unbesiegbar, denn man bekommt es kaum zu packen. Aber bei Hans war das möglich. Wie schon erwähnt, spielte Heinrich gerne mit den Kindern. Besonders gerne spielte er mit dem kleinen Hans, dem Stammhalter der Familie. Wann immer es möglich war, packte er ihn und kitzelte ihn durch. Berührte ihn hier und bald dort und ließ keine Stelle aus. Heinrich konnte seine Finger nicht von Hans lassen. Immerzu musste er ihn befummeln. Wenn sie alleine waren, spielte er mit Hans ein besonderes Kitzel-Spiel: Er kitzelte ihn an Körperstellen, die sonst niemand außer Hannah berühren durfte, wenn sie ihn badete. Deshalb war das ein großes Geheimnis zwischen Hans und seinem Opa. Keiner durfte davon erfahren. Hans fühlte sich zwar nicht wohl dabei, aber er musste es geschehen lassen, weil man lieb sein musste zu Opa. Außerdem hielt Heinrich den kleinen Hans jedes Mal so fest umklammert, dass es kein Entwischen für ihn gab. Hans war in Heinrichs Fängen. Es gab wirklich kein Entrinnen. Was sollte er tun? Es seiner Mutter sagen oder gar seinem Vater? Sagen, dass sein Vater seinen Sohn zwang Dinge zu tun, für die er, Hans, sich schämen musste? Und wem würde man glauben? Ihm, einem kleinen Jungen, der von solchen Sachen noch gar nichts wissen durfte oder Heinrich, seinem Opa und Papas Vater? Hans hatte Angst und diese Angst schwächte ihn immer mehr, je länger es andauerte. Nach einigen Jahren hatte Heinrich den kleinen Hans kaputtgespielt. Er hatte sein Ziel erreicht. Hans Sein war so geschwächt, das sein starker Archetyp an Kraft verlor und sein Schatten die Oberhand gewann. Dadurch konnten Hans´ Schatten und Heinrichs Schatten in Resonanz gehen. Als Heinrich mit Fridolin die große Reise zurück antrat, war das Werk vollbracht. Heinrich hatte Hans seinen Schatten übertragen, der nun in ihm weiter leben konnte.“

„Wie ging es danach weiter?“, wollte Linda wissen.

„Das weißt du selber, Linda. Das ist deine Geschichte. Wir würden jetzt gerne von dir hören, was bei dir geschah. Wie ging es für dich weiter, nachdem du dem Backofen entronnen warst?“

„Moment bitte, warte Linda“, unterbrach Hannah sie. „Linda, ich muss wissen, was da los war. Welche Schatten waren da im Spiel? Was ist mit meinem kleinen Hans passiert? Ich will´s wissen! Ich möchte, dass alles ans Licht kommt. Die Wahrheit – ich will die Wahrheit!“ Hannah flehte Linda verzweifelt an. Sie konnte nicht glauben, was sie da über Heinrich erfahren musste.

„Okay Hannah, ich sag´s dir, aber versprich mir eins: Lass bitte das, was ich gleich preisgebe, zunächst unkommentiert stehen. Hör einfach nur zu, denn es wird vorerst einen Teilaspekt der ganzen Geschichte beleuchten.“

„Wieso Teilaspekt? Gibt es denn da noch mehr?“

„Leider ja, und es wird dir nicht gefallen – keinem hier!“ Aus dem Augenwinkel konnte Linda sehen, wie Heinrich und Martha sich davonstehlen wollten. Rasch wandte sie sich ihnen zu. „Wo wollt ihr denn hin? Wollt ihr etwa abhauen? Das könnte euch so passen! Ihr kommt schön wieder her und hört euch an, was ich zu berichten habe!“

Heinrich und Martha blieben trotzig stehen, machten aber keinerlei Anstalten, wieder in die einberufene Versammlung zurückzukehren.

„Martha und Heinrich!“, donnerte Upper los, dass es nur so schepperte.

„Wollt ihr wohl gehorchen?“

„Was, der kleinen Göre da? Ist doch wohl nicht dein Ernst, oder?“

„Diese kleine Göre da, wie ihr sie so abschätzig nennt, ist Linda, ein großes, erfahrenes Forscher-Sein. Wagt es ja nicht und widersetzt euch ihr!“

„Ist ja gut, Upper. Die soll sich nur nicht so aufspielen. Pah, vom mickrigen Ding – oooh - zum großen Sein, so´ n Mumpitz!“ Martha versuchte Linda zu verhöhnen. Mit übertrieben gespielten Gesten, verbeugte sie sich vor ihr.

„Jetzt ist aber Schluss!“, donnerte Upper erneut los. „Kanep, sei so gut und hab ein Auge auf die beiden.“

„Klar doch! Das ist mir ein Vergnügen, Upper. Das Pack entwischt mir nicht – keine Sorge. Und schau mal, wen ich hier habe.“ Kanep hielt einen kräftigen weißgrau gemusterten Kater mit seinen beiden Händen in die Höhe. „Das ist Moritz! Na, Martha, kennst´ e den noch?“

Und ob Martha Kater Moritz kannte. Zu Lebzeiten auf der Erde konnten die beiden nicht gut miteinander. Martha stach häufig mit ihrer Gehhilfe nach ihm, wenn sie damals bei Linda und Kanep zu Besuch war. Und Moritz rächte sich dann, indem er seine Krallen ausfuhr und Martha kratzte. Meistens gelang es ihm aber sich aus dem Staub zu machen, bevor Martha ins Haus kam, denn eigentlich war Moritz ein friedlicher Kater, der keinem Menschen etwas zu leide tat. Als Moritz´ Leben dann zu Ende war und er hierher zurückkehrte, Martha war schon da, machte er etwas, das alle überraschte: Er hatte Linda auf der Erde oft denken hören: ´Na wartet, wenn ich eines Tages da oben bin´ , damit meinte sie ihr Zuhause in das sie nach ihrem Erdenleben zurückgehen würde, ´dann könnt ihr was erleben. Zieht euch am besten warm an, denn wenn ich komme, dann gibt es die große Abrechnung – das schwöre ich euch! ´. Moritz war damals traurig darüber, dass Linda so sehr unter den Machenschaften ihrer Familie, besonders der Großeltern, leiden musste. Deshalb erstattete er Upper einen Besuch und berichtete schon mal vorab, was er erfahren hatte. Das wiederum veranlasste Upper, Lindas Familie, die zum Zeitpunkt ihrer Ankunft da sein würde, einzubestellen, wenn es so weit wäre. Linda allerdings sendete er eine Botschaft. Wenige Stunden, nachdem Moritz die Erde verlassen hatte, brach ohne Vorwarnung ein heftiges Gewitter aus. Linda wusste sofort: das hatte mit Moritz zu tun. Er hatte schon mal eine warnende Ankündigung gemacht,

die an der richtigen Stelle angekommen war.

„Danke Kanep. Unser Moritz ist eine prima Verstärkung. Dann kann ich nun endlich loslegen und über die Schatten reden. Ich fange am besten mit Hans an: Hans´ Schatten beinhaltete den Schergen, den Tunichtgut und die Dirne. Demgegenüber stand sein Archetyp mit den Aspekten Kraftstrotzender, gute Fee und der Wohlwollende. Damit war Hans´ Phantom-Sein ausgewogen. Der Kraftstrotzende korrelierte mit dem Tunichtgut, die gute Fee mit der Dirne und der Wohlwollende mit dem Schergen. Doch dann begann Heinrich sein durchtriebenes Spiel. Er schaffte es, dass Hans´ Archetyp schwächer und schwächer wurde, denn seine Schattenaspekte waren genau richtig, um mit Hans´ in Resonanz zu gehen und sie zu verstärken. Es passte hervorragend. Heinrichs Schatten besaß die Aspekte des Hanswursts, des Denunzianten und des Killers. Der Hanswurst ging eine Verbindung mit dem Tunichtgut ein, die Dirne mit dem Denunzianten und der Scherge mit dem Killer. Gegen diese Macht kam Hans´ Archetyp schwerlich an. Trotzdem versuchte er es beständig. Hans befand sich fortan in einem unaufhörlichen Kampf zwischen Gut und Böse. Er zerriss den armen Kerl beinahe und hinderte ihn daran einen guten Stand im Leben zu erlangen.“

„Du Scheusal! Was hast du mit meinem Jungen gemacht?“, fuhr es aus Erhard heraus.

„Mit dir war doch nichts los“, antwortete Heinrich lakonisch. „Eine einzige Enttäuschung warst du für mich. Ein Neutro-Sein, was konnte ich damit schon anfangen?! Bestimmt nicht als mein Nachfolger.“

„Lass gut sein Erhard. Ich hab´ Linda versprochen ruhig zu sein. Sei du das bitte auch.“ Zähneknirschend hielt Erhard sich zurück, aber er nahm sich vor, bei nächst bietender Gelegenheit, würde er sich Heinrich vorknöpfen.

„So Hannah, das muss fürs erste genügen. Ich mach jetzt weiter mit meinem Bericht. Schließlich hat sich da noch einiges zugetragen, was erwähnenswert ist. Die Bekanntschaft mit dem Backofen war ein heilsamer Schock für mich gewesen. Von dem Moment an trank ich jedes Milchfläschchen, das man mir anbot, bis zum letzten Tropfen aus. Ich musste stark werden und ich wollte mich so frei bewegen und so rumlaufen können wie meine Geschwister. Nur, es war nicht so einfach, wie es mir vorgestellt hatte. Ich neigte mal wieder zur Übertreibung. Ich denke, das lag damals an meinem Archetyp. Upper hatte mir ja den Aspekt der hilfreichen Gönnerin gegeben. Das war natürlich in Ordnung, denn dadurch war es mir möglich, sofern meine bis dato erlangten Fähigkeiten es erlaubten, mich selbst zu versorgen. Das machte ich zum Beispiel, indem ich meine Milchfläschchen bis zur Neige austrank. Leider fehlte mir ein Gegenpol dazu. Meine Schattenaspekte waren ja noch gut behütet bei Kanep. Mithin fehlte mir der Knauser, der mein Essverhalten in ein vernünftiges Maß gebracht hätte. Also futterte ich munter drauf los. Zunächst war es Milch, bald darauf Brei und dann endlich, ich muss etwa zehn Monate alt gewesen sein, durfte ich die erste feste Nahrung zu mir nehmen. Wie war das herrlich! Dieses angenehm raue Gefühl groben Weißbrots auf der Zunge zu spüren war ein Erlebnis. Das war schon was anderes, als dieser Breiglibber, der entweder im Mund pappte oder viel zu schnell in meinen Schlund rutschte. Dieses Stückchen Brot war herrlich! Erst trocken, dann nasser, bald breiig, aber angenehmer als Brei es je für mich gewesen war – und dieser Geschmack – einfach fantastisch! Doch das allerbeste sollte noch kommen: Als Hannah bemerkte, wie sehr ich dieses kleine Stückchen Brot genoss, reichte sie mir ein weiteres. Dieses Mal hatte sie es auf einer Seite mit Butter und Leberwurst bestrichen. Nachdem sie es mir vorsichtig in meinen Mund geschoben hatte, erlebte ich geradezu eine Geschmacksexplosion. Dieses Stückchen Brot übertraf das erste um Längen. Es war köstlich! Dieser Geschmack von Brot und Butter und Leberwurst, und das Gefühl, wie sich das gröbere Brot mit dem Belag in meinem Mund vermengte und zu einer cremigen Masse wurde, das war toll. Seit diesem Zeitpunkt wollte ich keine süße Breipampe mehr essen.“

„Daran erinnere ich mich noch genau“, schmunzelte Hannah. „Du warst damals kaum satt zu kriegen. Du wolltest alles essen, was wir auch aßen. Nach und nach habe ich dich jeweils probieren lassen. Ich glaube, wenige Wochen später, als du etwa ein Jahr alt warst, habe ich dir gar keine Babynahrung mehr gegeben. Es machte keinen Sinn, denn du hast den Brei einfach wieder ausgespuckt. Da konnte ich schimpfen und machen, was ich wollte.“

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