Geliebter Wächter 2: Wolfsherz

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Geliebter Wächter 2: Wolfsherz
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Billy Remie

Geliebter Wächter 2: Wolfsherz

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Teil 1 – Verlorene Söhne des Westens

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Teil 2 – Lauf des Schicksals

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Epilog

Über den Autor

Impressum neobooks

Teil 1 – Verlorene Söhne des Westens

Hätten wir gewusst, was uns bevorsteht, hätten wir niemals einen Fuß vor die Tür gesetzt. Doch wenn wir nie gewagt hätten, den ersten Schritt zu gehen, hätten wir aufgehört zu existieren.

So gingen wir – wir alle – unserem Schicksal entgegen, obwohl es uns Pflichten auferlegte, die wir uns selbst niemals zugetraut hätten.

Kapitel 1

Es dauerte nur einen Augenblick. Die Stille auf dem Platz. Doch dieser Augenblick schien wie eingefroren, die Welt stand still und das gähnende Schweigen zog sich eine gefühlte Ewigkeit dahin.

Als das Maul des Drachen zuschnappte, erstarrte die Zeit. Von dem Mann, der sich zwischen sie und den Drachen gestellt hatte, war nichts mehr zu sehen, nichts war übrig. Kein Arm, keine Hand, kein Fuß, nicht einmal ein Stück Stoff, er war innerhalb eines Wimpernschlags komplett ausgelöscht. Hätte man in jenem Augenblick, als es geschah, geblinzelt, wäre der Mann wie durch Geisterhand verschwunden, als hätte er nie existiert.

Kacey spürte den heißen Atem des Prinzen im Nacken, der ihn umklammerte und nach dem ersten Schock ungläubig ausatmete. Dessen Arme, die wie dicke Eisenketten um Kaceys Taille geschlungen waren, lockerten sich, als hätten sie von dem einen auf den anderen Moment plötzlich all ihre Kraft verloren. Sie glitten ab und hingen schlaff und nutzlos am Boden.

»Nein«, hauchte jemand in Kaceys Nähe, zudem er sich nicht umdrehte. Er spürte, wie der schlanke Bursche, der den Prinzen und Kacey vom Platz gezerrt hatte, fassungslos auf die Knie sank.

Dann hörte er Gebrüll und das Flackern schwerer Umhänge. Drei in schwarz gewandete Krieger stürmten durch die Reihen der fassungslosen Zuschauer, angeführt von einem schmäleren, kleineren Mann mit goldenen Locken.

Kacey war für einen Moment wie gefangen von dem Krieger, der mit gezogener Waffe furchtlos auf den Drachen – auf Ragon! – zustürmte. Dieser Mann … sah aus wie sein Spiegelbild!

Kacey blinzelte. War dies sein Vater? War dies der Kaiser? Aber er trug nicht das grüngelbe Wappen des Kaiserreichs, er trug einen Drachen, der sich um eine öffnende Lilie schlängelte, auf seinem wehenden Umhang, genau wie die drei Krieger, die ihm folgten.

Ragon warf den Kopf herum, als er die Angreifer bemerkte. Geschickt rollte sich der schlanke Krieger unter Ragons Flügel, wich seinem Schwanz aus und attackierte seine Vorderklaue. Ragon machte einen verwunderten Satz zur Seite und peitschte warnend mit dem Schwanz. Aber die Angreifer setzten ihm nach.

»Nein! Ragon, nicht!« Kacey sprang ebenfalls auf, wollte eine weitere Katastrophe verhindern. Es überraschte ihn, dass ihn niemand aufhielt. Der Prinz, der ihn festgehalten hatte, war wie erstarrt und ließ Kacey einfach davonrennen, genau wie die beiden, die bei ihm standen und in ihrem Unglauben eingefroren schienen.

»Ragon!«, brüllte Kacey dem Drachen entgegen. Doch dieser kauerte sich bereits in Kampfstellung, als seine Angreifer auf ihn zustürmten.

Kacey wollte sich auf seinen geduckten Flügel werfen. Lieber würde er noch einmal Fliegen, als auch nur einen Augenblick länger in dieser Stadt zu bleiben. Er musste hier fort, bevor sie ihn wieder ergriffen und doch noch einsperrten. Wie sollte er ihnen erklären, wer er war und was er wollte? Sie würden ihm jetzt nicht mehr glauben. Und zu allem Überfluss hatte sich Ragon wegen ihm in einen Drachen verwandelt und hatte einfach so einen Mann verschluckt! Einfach so!

Die Angst beflügelte seine Beine, er rannte, als sei die Unterwelt ihm auf den Fersen, dabei war Ragon nicht so weit entfernt gewesen, wie es sich jetzt anfühlte. Der Lauf kam ihm ewig vor, die Entfernung zu dem rettenden Drachen schien endlos zu sein.

Und dann spürte er plötzlich Magie im Nacken, schwer und mächtig knisterte sie in der Luft und ließ ihn beinahe keuchen. So eine starke Energie hatte er noch nie gespürt. Rein instinktiv warf er sich flach auf den Boden und fühlte nur noch den eiskalten Hauch eines Magiegeschosses, das über ihn hinweg flog. Ein Eiskristall so scharf und groß wie ein Drachenzahn flog auf Ragon zu. Er traf seine Schuppen oberhalb des Vorderbeins, doch das beeindruckte ihn nicht.

Drachen waren magieresistent. Das Geschoss vereiste seine Flanke, doch er schüttelte den Frost einfach ab wie lästigen Sand. Dann reckte er den Kopf und zeigte die Zähne, öffnete jedoch nicht das Maul zum Brüllen.

Plötzlich kam Bewegung in die Stadt, die Wachen erwachten aus ihrer ungläubigen Starre und riefen nach Drachenschützen. »Nein!«, brüllte wieder jemand, und dann rannte auch schon der Riese los, der geholfen hatte, Kacey vom Platz zu zerren, um sich mit den anderen Schwertkämpfern auf Ragon zu stürzen. Furchtlos rannte diese wahre Naturgewalt auf Ragon zu und brüllte dabei: »Schießt auf den Flügel! Schießt auf seine Flügel!«

Mehr Eisgeschosse und nun auch Pfeile regneten auf Ragon herab, der den Flügel über den Kopf hob und dann einen mächtigen Satz zur Seite machte, um den verbissenen fünf Kriegern auszuweichen, die seine Unterseite unermüdlich angriffen.

 

Kacey konnte die Unruhe und Angst in Ragons Augen erkennen, wie ein Tier in der Falle. Er war nicht aggressiv, er hatte nur Kacey beschützen wollen. Ragon wehrte sich nicht einmal richtig, doch das hinderte die Angreifer nicht daran, ihn erlegen zu wollen.

»Verschwinde!«, brüllte Kacey und stemmte sich gleichzeitig hoch. »Ragon! Flieg weg!« Dann rannte er wieder auf ihn zu und winkte, als wollte er ihn verscheuchen. »Flieg weg!«

Seinetwegen sollte Ragon nicht verletzt werden!

Ein unterdrückter Laut entkam der Drachenkehle, als ein Drachenpfeil – ein massiver Pfeil mit einer Silberspitze – ein Loch in seinen Flügel schlug. Das brachte Ragon zum Straucheln. Weitere Pfeile schlugen mit einem dumpfen Laut in seine Flanke und in seinen Hals ein, blieben stecken. Ragon schwankte, als ginge er gleich zu Boden, schüttelte die Pfeile ab und versuchte, sich mit seinen Flügeln zu schützen.

Warum flog er denn nicht weg?

»Nein!« Kacey brannten Tränen in den Augen. Hilflos blieb er stehen und drehte sich mitten auf dem Platz herum. Niemand achtete auf ihn, ein Pfeil verfehlte ihn sogar nur sehr knapp und zerbrach auf dem harten Boden.

»Hört auf!«, brüllte er verzweifelt. »Bitte, hört auf! Er ist nicht böse! Bitte, er ist nicht böse!« Er versuchte, sich schützend vor Ragon aufzubauen, aber niemand hörte auf ihn. Natürlich nicht, er war nebensächlich, gegenüber einem Drachen, der einen der ihren verschluckt hatte. Zumal er vor Ragon vermutlich wirkte wie ein Staubkorn, das sich schützend vor einen Elefanten stellte.

»Ragon!«, schrie plötzlich eine allzu bekannte Stimme über den Platz. Kaceys Kopf flog herum und er hätte vor Erleichterung beinahe geschluchzt. Fen rannte mit wütender Miene über den Platz auf ihn zu. Ragon warf sofort den Kopf zu ihm herum. »Weg hier!«, brüllte Fen und rannte Kacey beinahe um. Er schlang einen Arm um dessen Taille, ohne anzuhalten, und stürmte weiter auf Ragon zu, der seine Angreifer mit einem Schlag seines verletzten Flügels zurückwarf und Fen Deckung vor den Pfeilen gewährte.

Kacey hing wie ein Kleidersack in Fens Arm und wurde durchgerüttelt, als Fen ihn an seine steinharte Seite presste und sich leichtfüßig mit einer Hand an Ragons Schuppen hinauf zu seinem Rücken hangelte. Kacey klammerte sich an ihn und schloss die Augen, wie er es bei ihrem ersten Flug getan hatte. Er spürte das mächtige Beben unter ihnen, als Ragon sich aufbäumte und dann losmarschierte. Mit zwei Sprüngen hob er ab und flog so tief über die Stadt, dass er die Schützen auf den Wällen umwarf. Das wütende und verzweifelte Brüllen der Krieger hallte ihnen hinterher und erschütterte Kacey bis ins Mark. So viel Hass war ihm noch nie entgegengeschlagen.

Was hatte er nur angerichtet? Der Wind peitschte ihm ins Gesicht, während er sich an Fen schmiegte und insgeheim darum betete, dass er nur einen Alptraum träumte.

Kapitel 2

Er war nicht verliebt. Nein, das konnte nicht sein. Er war in seinem ganzen Leben noch nie verliebt gewesen, und er lebte schon ziemlich lange. Er hielt die Verliebtheit für eine Laune der Natur, die nur sterbliche Wesen befiel, da Sterbliche nicht das Wissen innehatten, das er besaß, weil sie schlicht ihren Trieben und Gefühlen unterlegen waren. Wie Tiere in der Paarungszeit.

Er hatte geliebt, gewiss, sehr lange und sehr tief und wahrhaftig. Aber er war nie verliebt gewesen. Es waren zwei völlig verschiedene Dinge. Verliebtheit war flüchtig, aber überschwänglich, sie machte blind und hochmütig. Liebe war anders, sanfter, ruhiger, ewiglich. Das eine war ein Sturm auf hoher See, das andere ein stilles Gewässer, aber dafür tief und unergründlich.

Nein, er war nicht verliebt. Aber etwas war anders als damals, aufwühlender. Bewegender.

Mit mahlendem Kiefer und verschränkten Armen lehnte Bellzazar am Bettpfosten und starrte auf den Mann in seinem Bett hinab. Cohen schlief auf dem Bauch, ein Bein angewinkelt, das andere ausgestreckt und die Arme unter das Kissen geschoben, als umarmte er es. Wie ein Kind, das sich nach Nähe sehnte und stattdessen nur in Stoff gepresste Federn liebkoste.

So schlief er immer, ganz gleich wie Bellzazar ihn ablegte oder aus Interesse drehte und wendete, Cohen rollte irgendwann immer wieder in diese eine Position, das Gesicht nach Süden gerichtet. Bellzazar hatte viel Zeit gehabt, Cohens Schlafgewohnheiten zu studieren, seit dieser sich … wandelte.

Noch war sein Körper nicht vollständig regeneriert, er setzte sich aus dunkler Magie, schwarzen Partikeln und seinen Erinnerungen zusammen. Bellzazar hatte ihm ein Teil seines unsterblichen Herzens eingesetzt und nun floss durch Cohens Venen kein Menschenblut, sondern Wolfsblut. Aber seine Seele musste zunächst noch mit der neuen Hülle verschmelzen, und sie war nicht im einwandfreien Zustand, sie heilte zusätzlich noch. Das konnte dauern. Nachdem er kurz erwacht war und Bellzazar ihm die neue Wahrheit offenbart hatte – dass er nun ein Dämon war – hatte Bellzazar ihn wieder ins Bett geschickt. Cohen war zu schwach gewesen, um zu protestieren. Nun schlief er schon seit einer gefühlten Ewigkeit tief und fest.

Und Bellzazar wachte über ihn, während er ihn mit Blicken durchbohrte und darüber nachgrübelte, was mit seinen Gefühlen los war.

Eines wusste er, er würde keine roten Wangen bekommen, wenn Cohen ihn anlächelte, er würde keinen Blumen die Blütenblätter ausreißen, verträumt seufzen oder gar ihre Initialen in eine Rinde ritzen und mit einem Herz versehen.

Er war nicht verliebt, er hatte nicht das Bedürfnis, sich in jedem Augenblick in Cohen zu versenken, auch wenn ihn die fleischliche Begierde das ein oder andere Mal überkam. Er wollte nicht jeden Moment seines Daseins in Cohens Nähe verbringen, ihn ständig anstarren und ihn immerzu berühren, dem Klang seiner dunklen Stimme lauschen, und überhaupt drehte sich sein ganzes Dasein nicht nur darum, sich an Cohen reiben zu wollen, wie eine läufige Hündin.

Aber eines wusste er, sein zerschnittenes Herz fühlte sich warm und heil an, wenn er Cohen in seinem Bett liegen sah, als gehörte er genau dorthin. Bellzazar wollte, dass er dorthin gehörte, dass er schlicht ihm gehörte. Wenn sie sich berührten, prickelte seine Haut. Cohens Blicke ließen ihn die Einsamkeit vergessen, die ihn wie einen Schatten begleitete. Er sehnte sich nicht immer zu danach, aber wenn es geschah, genoss er es wie nie zuvor.

Und als er dachte, er würde Cohen für immer verlieren, hätte er lieber das gesamte Universum mitsamt allen Welten niedergebrannt, als ihn gehen zu lassen.

Er hätte gar sich selbst oder seinen Bruder geopfert, wenn es nötig gewesen wäre.

Und das machte ihm Angst, denn es hatte noch nie irgendetwas oder jemanden gegeben, das oder den er über Desiderius gestellt hätte.

Bei Cohen war der Gedanke ganz präsent, Bellzazar dachte seit Stunden darüber nach. Was wäre, wenn er vor die Wahl gestellt würde, Cohens Leben gegen Desiderius`? Er war auf die Frage aufmerksam geworden, als ihm auffiel, wie leicht und instinktiv ihm die Entscheidung gefallen war, er oder Cohen. Er hätte sich das Herz auch dann herausgeschnitten, wenn es dafür sein eigenes Ende bedeutet hätte.

Und sein Herz kannte auch die Antwort auf die andere Frage: Cohen. Er würde sich immer wieder für Cohen entscheiden.

Nur, dass dieser sich niemals für Bellzazar entscheiden würde, stünde er vor der gleichen Wahl.

Bellzazar machte sich nichts vor, auch wenn Cohen in seinem Bett lag und duldete, dass er ihn berührte, ihn sogar nahm, seine große Liebe war und würde immer Desiderius sein und bleiben.

Wie tragisch, dachte er bei sich und seufzte. Sein Herz krampfte, aber er ignorierte es. Er kannte das Gefühl, er war gewohnt, zu leiden. Liebe war Leid, deshalb war er auch nie verliebt gewesen. Er hatte diesen verblödeten Zustand immer sofort übersprungen, hatte gleich die Liebe gespürt, die blieb, wenn der Nebel aller Triebe verflogen war.

Trotzdem schmerzte es mehr als sonst, wenn er zu sehr darüber nachdachte. Er schüttelte den Kopf und vertrieb die Gedanken. Er wollte gar nicht so genau darüber nachdenken, wem Cohens Liebe gehörte, im Moment sollte er einfach genießen, dass dieser in seinem Bett lag. Auch wenn nur die Lust auf Fleisch sie vereinte. Das war besser als nichts.

Verdammt, hatte er das gerade wirklich gedacht? Besser als nichts?

Nun ja, irgendwie war dem auch so. Denn Cohen war seitjeher das einzige Geschöpf, das es vermochte, die Einsamkeit zu vertreiben. Und das nicht nur aus diesen Räumlichkeiten, sondern allein durch den Gedanken an ihn aus Bellzazars Bewusstsein.

Nein, nein, neckte ihn eine innere Stimme, du bist ganz bestimmt nicht verliebt…

Nicht verliebt! Er schüttelte den Kopf. Aber er befürchtete, dass es bereits viel schlimmer war.

Schlimmer…

Na ja, wem machte er denn eigentlich etwas vor? Er hatte diese seltsame Anziehung zu Cohen schon gespürt, als er noch bei Desiderius lag. Und es überraschte ihn nicht, Cohen besaß die Jägergabe, zudem auch noch eine besonders mächtige Art davon. Deshalb hatte der Drachengeist in Desiderius auf ihn reagiert, und deshalb reagierte auch Bellzazars innerer Totenwolf auf ihn.

Es brachte nichts, darüber nachzugrübeln, gegen die Macht der Natur kam nicht einmal ein Dämonenfürst an. Sie beschritt eigene Wege und Ziele, die sich dem Einfluss aller Magie entzog.

Wie gesagt, alles, was er wusste, war, dass Cohen in seinem Bett lag, und ihn dieser Umstand mehr als glücklich stimmte.

Er war es schlicht nicht gewohnt, glücklich zu sein. Nicht nach all den Jahrtausenden voller Verachtung, Argwohn, Einsamkeit und Kälte.

Aber jetzt, in diesem Moment war er es. Und damit bewies er mal wieder eine äußerst egoistische Haltung, denn immerhin hatte er Cohen zu einem Dämon gemacht, um glücklich zu sein.

Er konnte nicht behaupten, dass er Reue empfand. Höchstens ein gewisses Bedauern, dass Cohen nun etwas war, dass er abgrundtief verabscheut hatte.

Ob er sich nun selbst hasste?

Bellzazar stieß sich vom Bettpfosten ab und kletterte auf die Matratze. Cohen erwachte nicht, auch als er sich an dessen Seite drängte und ihm über die nackte Schulter strich. Die ausgeprägten Muskeln seines Oberarms fühlten sich so steinhart an, wie sie aussahen, aber die Haut darüber war warm und samten, fast zu weich für diesen strammen Körper.

Er war schön, Cohen war schon immer schön gewesen, das wollte Bellzazar gar nicht bestreiten. Doch ihn überraschte, dass er solch eine lodernde Begierde für einen Mann empfinden konnte. Natürlich hatte er auch bei Männern gelegen und einen Mann geliebt, aber wenn es rein um Begierde ging, stellte Cohen alles in den Schatten. Weiber, Kerle … alles dazwischen. Auf seine starke, männliche Art war er schön, doch sein Gesicht war es, was Bellzazar immer mal wieder den Atem raubte, wenn er unvorbereitet hineinsah. Selbst jetzt im Schlaf barg es diese tiefe, geheimnisvolle Ausstrahlung, eine unerschütterliche Entschlossenheit, Stärke und Stolz. Es wirkte immer ein wenig einsam und verloren, aber nicht schwach. Cohen war wie ein Gestrandeter, der nirgendwo richtig hingehörte, aber immer kämpfte, immer auf der Suche nach … irgendetwas, das nur er kannte. Vermutlich wusste er selbst nicht, was ihm fehlte, um zufrieden zu sein.

Das hatten sie gemein.

Und man wollte ihn retten, ihm eine Hand entgegenstrecken und auf eine schwimmende Insel ziehen. Man wollte das Geheimnis hinter seiner ewig andauernden Melancholie ergründen.

Vielleicht konnte Bellzazar das. Hier und jetzt.

Er rückte an Cohen heran, spürte ein Prickeln unter der Haut, als er dessen Wärme und Geruch wahrnahm. Auch als Dämon roch er nach Frost, der sich über eine Blumenwiese legte. Frisch und lieblich zugleich, das Versprechen auf einen unschuldigen, stillen Morgen.

Bellzazar zog ihn an sich, schloss die Augen und vergrub das Gesicht in seinem seidenen, rotbraunen Haar, um ihn im Traumreich aufzusuchen. Dort, wohin die Dämonen gingen, wenn sie träumten.

*~*~*~*

Er saß mit angezogenen Beinen an einem flachen Ufer und starrte auf einen glitzernden Bach, der sich über graues Gestein einen Weg durch hohe Berge bahnte. In den winzigen Tälern zwischen den Bergriesen waren die Wiesen mit roten Blumen getüncht und teilweiße mit einer puderzuckerartigen Schneedecke bedeckt.

Cohen genoss das Gefühl der Kälte auf der Haut und den Geruch des Frostes in der Nase. Es war der Geruch seiner früheren Heimat. Das südliche Gebirge Nohvas, wo er als Bastard geboren wurde und ein Leben voller Schicksalsschläge angetreten hatte. Doch ihn verbanden auch gute Erinnerungen mit seiner Heimat. Sie war im Krieg immer seine sichere Zuflucht gewesen, dort hatte er sich zum ersten Mal richtig verliebt – wenn auch in den falschen Mann –, seinen ersten Kuss bekommen, seine beste Freundin getroffen, die Kinder seines Bruders großgezogen und ein eigenes gezeugt. Er hatte den Anblick der majestätischen Berge, die über allem thronten, so sehr geliebt. Ebenso wie den Schnee und die weißen Wälder, wenn der harte Winter hereinbrach, meist so plötzlich, dass er die Sommerblumen noch auf den Berghängen einfror.

 

Doch das hier war nicht seine Heimat, das wusste er, es war nur das, was er sehen wollte. Er war nicht wirklich dort, aber auch die Illusion war schön. Vielleicht sogar noch schöner, denn hier besaß er beide Augen und keine hässliche, zugenähte Augenhöhle verunstaltete sein Gesicht. Hier war er der, der er sein wollte. Zumindest äußerlich. In einer Illusion, in einem Traum, den er selbst träumte, gab es keine Makel. Selbst die Kälte fühlte sich wohltuend und keineswegs schneidend an.

Cohen spürte ihn, noch ehe er ihn hören konnte. Meist konnte man ihn nicht bemerken, er war im Stande, sich völlig lautlos heranzuschleichen, vor allem in dieser Gestalt.

Cohen blinzelte den Wolf an, der am Ufer entlang gemächlich auf ihn zukam. Er war groß für einen Wolf, knochig und kränklich, sein schwarzes Fell wirkte stumpf und fiel an manchen Stellen aus, außerdem waren seine Ohren ein wenig zu lang, schmal und spitz. Ein Monster, durch und durch, wären da nicht diese schwarzen, bodenlosen Augen, die ihm so sehr vertraut waren wie seine eigenen, wenn er in eine spiegelnde Wasseroberfläche blickte.

Der Wolf gab ein Winseln von sich, als Cohen ihn nur ansah, und kam mit geducktem Kopf angetrabt. Er schlug mit der Pfote neben Cohen bittend auf den Boden, kaum, dass er in Reichweite war.

Als Cohen sich nicht rührte, legte Bellzazar sich neben ihm ab und schmiegte mit einem weiteren Winseln den Kopf auf Cohens Schenkel. Große, schwarze Augen sahen zu ihm auf, die durch den Körperkontakt tiefblau aufleuchteten. Die langen Ohren waren eingeknickt und drückten Unterwürfigkeit aus.

Cohen musste sich ein Schmunzeln verkneifen. Bellzazar war vielleicht mehrere Jahrtausende alt, aber er war noch so verspielt und anschmiegsam wie ein hinter den Ohren grüner Bursche. Und damit traf er leider genau Cohens schwachen Punkt. Wie könnte er ihm in dieser Gestalt widerstehen? Wobei dabei ausnahmsweise keine sexuelle Komponente eine Rolle spielte, natürlich nicht. Und genau darum ging es, er fühlte keine Begierde, aber trotzdem raste sein Herz, wenn Bellzazar sich so aufdringlich an ihn schmiegte und seine Nähe und Berührung suchte.

»Weißt du«, seufzte Cohen und kraulte Bellzazar hinter den Ohren, »das wäre herzerwärmender, würdest du nicht halb verwest aussehen.«

Bellzazar gab ein tierisches Schnauben von sich und erhob sich wieder in eine aufrechtsitzende Position, wobei er so majestätisch und stolz aussah wie ein Löwe. »Du bist auch nicht in jeder Lebenslage eine Augenweide, Coco«, knurrte der Wolf.

Cohen zuckte so erschrocken zurück, als habe er sich die Hand an Bellzazar verbrannt, und sackte dabei auf seinen Ellenbogen, um nicht gänzlich umzukippen.

»Was ist?«, fragte der Wolf mit dunkler, grollender Stimme, wobei sich seine Lefzen bei jeder Silbe unnatürlich für einen Wolf bewegten. »Wenn du gerade aufgewacht bist, siehst du aus wie ein betrunkener Katzenbär. Von deinem Mundgeruch ganz zu schweigen.«

Fassungslos starrte Cohen ihn an. »Du … du kannst sprechen?«

Bellzazar schnaubte, dann hob er die Pfote und strich sich über die lange Schnauze, als wollte er sich den Nasenrücken drücken. »Ich bin ein Gott, natürlich kann ich sprechen.«

»Und … das sagst du mir erst jetzt?«, rief Cohen anklagend aus.

Der Blick des Wolfes war so ungerührt wie er nur sein konnte, es fehlte nur noch, dass er mit den Achseln zuckte. »War es denn davor je von Belang?«

Der Konter entwaffnete Cohens Zorn, aber er verzog genervt das Gesicht, als er sich wieder aufrecht hinsetzte. Räuspernd zog er seine Weste glatt und wich Bellzazars Blick aus, indem er wieder auf den glitzernden Bachverlauf starrte.

»Du musst gerade von Mundgeruch sprechen«, konterte er verlegen, »ich kann ihn bis hierher riechen.«

Ein belustigtes Funkeln schimmerte in den Augen des Wolfes, Cohen konnte es im Augenwinkel ganz genau sehen.

Seufzend wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder der Landschaft zu und nahm sie mit allem, was sie bot, tief in seinem Herzen auf. Bellzazar folgte seinem Blick und spitzte die Ohren, als gefiele ihm, was er sah.

Für einen Moment war es lieblich ruhig und friedlich, so als würde die Zeit stillstehen. Er wünschte, dieser Moment würde ewig dauern und er müsste nie wieder aufstehen. Mit Bellzazar einfach hier zu sitzen und die Verbindung zwischen ihnen zu spüren, die greifbarer war als der Wind um sie herum, erfüllte ihn schlicht mit einem Frieden, den er niemandem hätte begreiflich machen können.

Er hätte es wohl auch nicht zugegeben.

Trotzdem runzelte er nach einem Moment die Stirn und stellte fest: »Etwas ist anders als sonst.«

Bellzazar gab einen Laut von sich, der sich wie ein Seufzen anhörte. »Du bist ja jetzt auch … anders

»Wir sind nicht wirklich hier«, warf Cohen ein und betrachtete mit Wehmut die Berge hinter dem Bachverlauf, »das ist nicht die Wirklichkeit.«

»Genau genommen, ist es schon Wirklichkeit, aber eben eine andere als jene, die du kennst«, warf Bellzazar mit seiner knurrenden Stimme ein, »du träumst. Das hier ist das Traumreich. Aber das heißt nicht, dass alles hier nicht auch irgendwie existiert. Was du siehst ist auch dann wahrhaftig, selbst wenn es verschwindet, sobald du die Augen öffnest.«

Cohen verzog die Lippen zu einem traurigen Ausdruck. »Es fühlt sich nicht an, als würde ich träumen, das meinte ich. Ich kann … fühlen. Mehr als je zuvor. Ich kann sogar den Wind fühlen, wie er durch die Bäume zieht, das Wasser, wie es die Steine im Bach schleift, das Leben in den Grashalmen.« Ratlos schüttelte er den Kopf. »Ich konnte in meinen Träumen noch nie irgendetwas fühlen.«

»Weil du ein Mensch warst«, erklärte Bellzazar und streckte dann seinen langen Körper genüsslich aus, ehe er den Wolfskopf wieder unter Cohens Arm hindurchzwängte und sich halb auf dessen Schoß legte. »Wenn Dämonen träumen, wandeln sie durch Träume. Manche von ihnen sind in der Lage, Sterbliche im Traumreich ausfindig zu machen und zu verführen, so können sie von ihnen Besitz ergreifen oder sie gar verzaubern. Du wirst dich daran gewöhnen, dein Verstand schläft eigentlich nie, und jetzt als Dämon nimmst du das ganz bewusst wahr. Das Traumreich ist auch nur eine andere Geisterwelt.« Seine Wolfsaugen leuchteten mystisch, als er beruhigend zu Cohen aufsah. »Deine Seele ist nun in der Lage, sich ganz frei und ganz bewusst hier zu bewegen, als wärest du wach, weil du im Grunde gar keinen Schlaf mehr benötigst. Wenn du in der anderen Welt einschläfst, bist du in dieser Welt wach, und schläfst du in dieser, erwachst du in der anderen.«

Cohen streckte die Beine aus und legte einen Arm um Bellzazars Hals. Sein schwarzes Fell fühlte sich speckig und heiß an, trotzdem grub er die langen Finger tief hinein und kraulte ihn ausgiebig. »Das ist mir zu kompliziert. Sagen wir einfach, als Dämon ist alles etwas anders.«

Der Wolf grollte, was sich wie ein dunkles Kichern anhörte, und rieb mit geschlossenen Augen den Kopf an Cohens flachem Bauch. »Langsam lernst du, nicht alles zu zerdenken.«

»Ja«, seufzte er und musste leicht lächeln. Und es fühlte sich gut an, nicht ständig alles zu hinterfragen und zu ergründen, Erklärungen zu suchen und immer nach Antworten zu forschen. Er hatte viel mehr Zeit für andere Gedanken.

Vielleicht war die Tatsache, dass er jetzt ein Dämon war schuld, aber irgendwie waren ihm gewisse Dinge gleichgültiger als vor dieser Wandlung. Vor allem die Tatsache, wo er war und bei wem er war und was er mit ihm gemacht hatte.

Hatte er zuvor noch eine gewisse Scham und Reue verspürt, wenn er daran dachte, wie er sich Bellzazar einfach hingegeben hatte, wurde ihm bei der Erinnerung jetzt nur noch warm.

Und wäre Bellzazar jetzt in Menschengestalt… Cohen schloss die Augen und stellte sich sehr lebhaft vor, wie er sich rittlings auf diesen rollen und gleichzeitig seine Hand unter das schwarze Hemd gleiten lassen würde. Wie er sich hinabbeugen und seine Zunge in Bellzazars Mund schieben würde. Allein der Gedanke, ihn zu berühren und zu schmecken und ihrer fleischlichen Begierde einfach ohne Hemmung nachzugeben, verursachte ihm einen prickelnden Schauer. Denn er wusste, wie stark sein Körper auf Bellzazar reagierte, wie intensiv sich seine Berührungen anfühlten, und dass er Cohen Erfüllung schenken würde.

Als hätte er Cohens inneren Nervenkitzel gespürt, knurrte Bellzazar leise und hob den Kopf an.

»Du bist jetzt ein Dämon, Coco«, sagte er mit mühsam beherrschter Wolfsstimme, »das heißt, du nährst dich von falschen und bösen Gefühlen. Von Leid, Gier und Wollust. Nicht, dass ich es nicht genießen würde, aber dennoch. Versuch wenigstens, dagegen anzukämpfen.«

Bellzazar erhob sich und schüttelte sein schwarzes Fell, als hätte ihn eine Armee Ameisen erfasst, die er abzuschütteln versuchte.

»Nein!«, sagte Cohen entschlossen und stand auf. »Warum sollte ich?« Er ballte die Hände zu Fäusten und sah entschlossen auf Bellzazar herab. »Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, meine Gefühle zu verschleiern, mich zu verstecken und zu verleugnen. Ich war ein Jäger, der seine Gabe vor der Kirche verbergen musste, für die ich kämpfte, weil mein Vater sich entschloss, ihr zur Macht zur verhelfen. Ich musste meine Liebe zu Männern vor dieser Kirche verstecken, und musste meine Begierde gegenüber meinem Bruder vor allem und jedem verbergen! Ich habe mein Leben lang mich selbst verleugnet und immer in Angst gelebt.« Seine Stimme war aufgebracht, er sprach sich geradezu in Rage. »Ich lebte ein schauriges, lebensfeindliches Leben auf dem Schlachtfeld.«

Bellzazar setzte sich wieder auf seinen fellbesetzten Hintern und legte neugierig den Wolfskopf schief, wobei seine zu langen Ohren wippten.

»Das ist jetzt vorbei!« Cohen ging vor ihm auf die Knie und sah ihm von Angesicht zu Angesicht tief in die blauen Augen. »Ich habe mein Leben im Schatten verbracht, Bell, und es immer dem Dienen anderer gewidmet, habe nie an mich gedacht. Aber jetzt habe ich eine zweite Chance. Du hast sie mir geschenkt! Ich mag ein Dämon und unsterblich sein, aber dennoch ist es eine zweite Gelegenheit, zu dem zu werden, der ich hätte werden können, wenn ich für, statt gegen meine Gefühle gekämpft hätte.«