Buch lesen: «Das Pfannen-Deckel-Prinzip»

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Deutsche Erstausgabe (ePub) Oktober 2020

© 2020 by Bianca Nias

Verlagsrechte © 2020 by Cursed Verlag

Inh. Julia Schwenk, Taufkirchen

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags, sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile,

Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit

Genehmigung des Verlages.

Bildrechte Umschlagillustration

vermittelt durch Shutterstock LLC; iStock

Satz & Layout: Cursed Verlag

Covergestaltung: Hannelore Nistor

Druckerei: CPI Deutschland

Lektorat: Jannika Waitl

ISBN-13: 978-3-95823-847-3

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Klappentext:

Jeder Topf findet seinen Deckel. Angeblich. Was aber ist, wenn man kein gewöhnlicher Topf, sondern eher eine Bratpfanne ist?

Tobias ist mit seinem Comedy-Podcast Tobis Kämmerlein mehr als erfolgreich, doch zur Überraschung seines Managements sträubt er sich vehement gegen ein Bühnenprogramm, obwohl dies ein Sprungbrett für seine Karriere sein könnte. Aus diesem Grund setzt seine Agentur ihren neuen Mitarbeiter Luíz auf Tobias an, um ihn umzustimmen.

Während Luíz alle Register zieht und sich auf Anhieb gut mit Tobias versteht, findet er schon bald heraus, warum dieser einen Live-Auftritt ablehnt: Tobias hat das Asperger-Syndrom.

Auch wenn ein Bühnenprogramm in weite Ferne gerückt ist, arbeiten die beiden weiter zusammen – und schon bald fliegen die Funken. Aber hat ihre Liebe trotz all ihrer Unterschiede eine Zukunft?

Kapitel 1

Tobias

»Nein, nein, nein und nochmals nein.«

Ich schüttele den Kopf, obwohl Irina das am anderen Ende der Leitung nicht mitbekommen kann.

»Mensch, Tobias, jetzt stell dich doch nicht so an! Das ist deine große Chance!« Meine Agentin hat noch nie ein Blatt vor den Mund genommen und aus ihren Worten schließe ich, dass sie total genervt ist. Unvermittelt sehe ich sie vor mir, wie sie ungeduldig mit dem Handy am Ohr im Raum umherwandert und die Augen verdreht.

»Vergiss es. Ich brauche keine große Bühne«, halte ich erneut dagegen und versuche, mich entschlossen und unerbittlich zu geben. »Meine Fans lieben den Podcast. Ich habe jede Woche einen festen Stamm an Zuhörern, ständig kommen welche dazu. Warum soll ich also plötzlich irgendwo live auftreten?«

»Weil das der vollkommen logische, nächste Schritt ist!«, platzt Irina heraus.

»Ach.« Ich schnaube abwehrend. Dieselbe Diskussion haben wir in den vergangenen Wochen oft geführt, daher ahne ich, welche Argumente sie gleich vorbringen wird.

»Der Podcast ist ein einseitiges Medium, ohne direkte Interaktion mit den Zuhörern. Auf der Bühne hast du ganz andere Möglichkeiten«, mahnt sie auch sogleich. »Das kann dich ganz weit nach vorne bringen!«

»Brauch ich nicht. Will ich nicht.« Ich erwische mich dabei, wie ich mit dem Zeigefinger unsichtbare Kreise auf der Fensterbank male. Oh Mann, dabei hinterlasse ich Fingerabdrücke auf dem blankpolierten Marmor. Schnell greife ich zu dem nebelfeuchten Mikrofasertuch, mit dem ich gerade Staub gewischt habe, bis mich Irinas Anruf jäh unterbrochen hatte. Mein Blick fällt aus dem Fenster auf die regennasse Straße. Verdammt, bei dem Mistwetter brauche ich keine Fenster putzen, wie ich es eigentlich vorgehabt habe. Dabei ist heute Samstag! Den Tag reserviere ich mir immer zum Einkaufen und Putzen, damit ich sonntags für den Podcast den Kopf frei habe.

»Dein Bekanntheitsgrad steigt ständig und die Stadthalle wäre ruckzuck ausverkauft, wenn wir dich mit einem Bühnenprogramm ankündigen würden.« Mit einem Mal schlägt Irina einen völlig anderen Tonfall an, den ich zwar bemerke, aber nicht deuten kann. »Tobi, du bist der neue Stern am Comedyhimmel! Du könntest ganz groß rauskommen, verschwendest aber dein Talent, indem du bloß einen Podcast in deinem stillen Kämmerlein produzierst.«

Ich massiere mir mit dem Zeigefinger die Nasenwurzel, weil sich schlagartig ein stechender Schmerz hinter meiner Stirn ausbreitet. Der Gedanke, auf einer Bühne zu stehen, behagt mir ganz und gar nicht.

»Ich denke nicht, dass ich mein Talent verschwende, indem ich das mache, worin ich gut bin«, erwidere ich lahm.

»Quatsch nicht!« Meine Agentin schnaubt. »Du hast mehr als zwanzigtausend Follower auf allen Kanälen! Wenn du mich meinen Job richtig machen lassen und mich nicht immer bremsen würdest, hätten wir die Hunderttausend schon längst geknackt.«

Oh Mann, sie versteht mich einfach nicht! Manchmal weiß ich nicht, warum ich überhaupt ihre Agentur mit meinem Management beauftragt habe. Eigentlich habe ich gedacht, dass sie mir dann alles Unangenehme vom Hals hält, nicht, dass sie mich fortlaufend zu etwas drängt, das ich auf keinen Fall will.

»Keine Bühne«, wiederhole ich trotzig. »Ich trete nicht vor Zuschauern auf, das habe ich dir schon hundertmal gesagt. Und dabei bleibt es.«

Sie seufzt lediglich in den Telefonhörer, erwidert aber nichts darauf. Sekundenlang schweigen wir uns an, was mit der Zeit richtig unangenehm wird. Mehrmals bin ich versucht, mich für meine ablehnende Haltung zu entschuldigen, doch ich fürchte, dass ich Irina damit ein falsches Signal sende und sie dann noch drängender wird.

»Treffen wir uns morgen auf eine Tasse Kaffee?«, fragt sie mich plötzlich und wechselt aus heiterem Himmel das Thema. »Ich kenne ein total gemütliches Café, das direkt bei dir um die Ecke aufgemacht hat.«

»Äh…« Blitzschnell gehe ich in Gedanken die Top Five meiner Standardausreden durch, doch keine will so recht passen. »Ich trinke weder Kaffee noch Tee.«

»Die haben dort auch ein Glas Wasser für dich«, kontert sie. »Morgen Nachmittag um fünfzehn Uhr? Also nachdem du die neue Folge aufgenommen hast.«

»Da habe ich schon etwas vor.« Ich winde mich wie ein Aal in einer heißen Bratpfanne.

»So? Was denn?«, hakt Irina unerbittlich nach.

Verdammt! Verzweifelt drehe ich dem Fenster den Rücken zu und sehe mich auf der Suche nach einer spontanen Eingebung in meinem Wohnzimmer um. Auf dem höchsten Brett ihres Kratzbaumes sitzt Duchesse und schaut mich aus ihren grünen Augen durchdringend an, ohne sich zu bewegen. Mit ihrem schwarzen Fell ähnelt sie einem Panther, der auf seine Beute lauert. Manchmal ist sie mir echt unheimlich, vor allem, wenn sie mich so anstarrt wie jetzt. Sie sieht nicht nur aus, als würde sie jedes Wort verstehen, in ihrem Blick glaube ich auch, pure Verachtung zu erkennen. Entweder ist sie sauer auf mich, weil ich es gewagt habe, ihrer Durchlaucht heute Mittag Lachsterrine anstelle von Hühnchen in Gelee zu servieren – oder auch, weil ich mich total dilettantisch verhalte und nicht einmal eine simple Notlüge zustande bekomme, um mich vor einem Treffen mit meiner Agentin zu drücken.

»Ich muss mit meiner Katze zum Tierarzt«, platzt es spontan aus mir heraus.

»Zum Tierarzt. Mit der Katze. An einem Sonntag?«, fragt Irina nach.

Schlagartig steigt Hitze in mir hoch und ich spüre, wie sich Schweißtropfen auf meiner Stirn bilden. Oh Mann, ist das anstrengend, zu lügen. Los, mach schon Tobi, du kannst das!

»Äh… das ist eine Privatsprechstunde. In der Tierklinik. Schweineteuer, aber man muss nicht so lange warten.« Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Notfälle natürlich auch sonntags dort behandelt werden. Also stimmt das zumindest halbwegs.

»Nun gut. Echt schade, aber dann verschieben wir das mit dem Kaffee«, gibt meine Agentin endlich nach.

»Ja, das wäre besser.«

»Tschüss, Tobias. Ich rufe dich nächste Woche noch mal an«, verabschiedet sie sich.

»Ja, tschüss.«

Hastig drücke ich das Gespräch weg, bringe das Mobilteil zurück auf die Ladestation im Flur und atme erleichtert auf. Puh, das ist gerade noch glimpflich ausgegangen. Trotzdem nagt das schlechte Gewissen an mir, weil ich Irina dermaßen plump angelogen habe. Ich mache mir nichts vor, natürlich hat sie das bemerkt.

Während ich die restlichen Möbel im Wohnzimmer abstaube, lasse ich das Telefongespräch mit meiner Agentin nochmals Revue passieren. Es ist ja nicht das erste Mal gewesen, dass sie mir den Vorschlag unterbreitet hat, ein Bühnenprogramm zu entwerfen und mich dadurch bekannter zu machen. Gegen Letzteres habe ich nichts einzuwenden, im Gegenteil. Es ist faszinierend, nach jeder Podcastfolge die Reaktionen der Zuhörer auf meinem Instagram-Account zu lesen und herauszufinden, welche Gags besonders gut angekommen sind und welche überhaupt nicht verstanden wurden. Daraus ziehe ich immer wieder Ideen, was ich besser machen kann, und bekomme Inspiration für die nächste Folge.

Aber vor echten, lebenden und atmenden Menschen zu stehen? Die mich dabei auch noch ansehen? Du liebe Güte, das bekomme ich einfach nicht hin.

Ich bringe das Staubtuch ins Badezimmer, wo es zusammen mit anderen Putzlappen in die Waschmaschine wandert. Die Maschine werde ich jedoch erst dann anstellen, wenn ich vom Einkaufen zurück bin. Nicht auszudenken, wenn sie auslaufen würde, wenn ich nicht zu Hause bin. Aus Gewohnheit überprüfe ich, ob der Wasserzulauf der Waschmaschine zugedreht ist, damit auch wirklich nichts passieren kann, solange ich weg bin.

Wie spät ist es eigentlich? Das Gespräch mit Irina hat etwa fünfzehn Minuten gedauert, also muss es gegen sechzehn Uhr sein.

Ich stöhne unterdrückt. Dieses blöde Telefonat bringt meinen ganzen Tagesablauf durcheinander!

Normalerweise bin ich jetzt schon beim Supermarkt in der Dachsteinstraße angekommen. Für den Einkauf brauche ich zehn Minuten, dann wieder fünfzehn Minuten für den Rückweg. Es sei denn, ich würde den Bus nehmen und mir einen Teil des Fußweges, also etwa zehn Minuten Zeit sparen. Damit wäre ich zwar schneller, aber… nein, auf gar keinen Fall.

Busfahren bedeutet, auf engstem Raum mit jeder Menge wildfremder Leute zusammengepfercht zu sein, die alle unterschiedlich riechen. Die wenigsten davon duften angenehm. Meine Abneigung gegen öffentliche Verkehrsmittel stammt noch aus meiner Schulzeit, in der mir nichts anderes übrig geblieben war, als den Schulbus zu nehmen. Damals habe ich das schon kaum ertragen und mir ist regelmäßig auf der kurzen Fahrt schlecht geworden. Den absoluten Supergau habe ich immer dann erlebt, wenn die anderen Kinder ihr Frühstück im Bus ausgepackt haben und sich zu ihrem Geruch auch noch der von Schinkenbroten und Bananen gesellt hatte. Seit dieser Zeit hasse ich vor allem Bananen wie die Pest.

Ich grummele ungehalten und gehe in den Flur, um mir Jacke und Schuhe anzuziehen. Nein, ich laufe lieber. Automatisch tasten meine Hände nacheinander sämtliche Jackentaschen ab und ich vergewissere mich, dass ich alles einstecken habe, bevor ich die Wohnung verlasse.

Handy, Brieftasche, Schlüssel, Tragetasche. Ich habe alles, was ich brauche, dennoch fühlt es sich an, als hätte ich etwas vergessen. Ungehalten runzele ich die Stirn. Seitdem ich anstelle eines handgeschriebenen Zettels eine App nutze, hat sich mein Ritual geändert, das ich sonst immer vorm Einkaufen durchgegangen bin. Die Einkaufsliste aus der Küche zu holen und einzustecken, ist weggefallen. In den ersten beiden Wochen hat mich das dermaßen irritiert, dass ich schon überlegt habe, die App wieder zu deinstallieren und die benötigten Sachen wie zuvor auf ein Blatt Papier zu schreiben. Letztendlich habe ich mich dagegen entschieden, nachdem ich das Pro und Contra gegeneinander abgewogen habe. Ich mag die App. Sie ist an meine liebste Rezepte-Webseite gekoppelt, bei der ich freitags aussuche, was ich die Woche über kochen will, und anschließend die Zutaten bedarfsgerecht einkaufe.

Handy, Brieftasche, Schlüssel, Tragetasche. Ich gehe erneut die vier benötigten Dinge durch, um mich wieder auf mein eigentliches Vorhaben zu fokussieren, dann verlasse ich schnell die Wohnung. Manchmal lässt sich das ungute Gefühl, etwas vergessen zu haben, einfach übergehen, indem man sich auf den nächsten Schritt konzentriert.

Der Regen hat zum Glück etwas nachgelassen, obwohl der Himmel noch recht bedrohlich aussieht. Ich beschleunige meine Schritte, bis ich nahezu renne. An der Straßenecke kann ich einen Zusammenstoß mit einer alten, etwas gebückt gehenden Frau und ihrem Hund gerade noch vermeiden, indem ich schnell nach links ausweiche und dabei ein höfliches »Tschuldigung« murmele.

Es ist Frau Schultz, die unter mir im Erdgeschoss wohnt und ihre asthmatische Bulldogge Bruno ausführt. Der kugelrunde Hund hebt den Kopf und will mich wohl brüskiert anknurren, doch für mich hört sich das eher an, als hätte sich ein Erdferkel verschluckt und müsse sich räuspern.

Frau Schultz zieht das keuchende Minimonster mit der Leine zu sich und beugt sich zu ihm hinunter. »Brunilein, sei lieb. Das ist doch der Tobias, den kennst du doch!«, ermahnt sie den Hund in einem säuselnden Singsang.

»Hallo, Frau Schultz!«, stoße ich hastig hervor und mache einen Bogen um die alte Dame.

»Die jungen Männer haben es heutzutage immer so eilig«, erklärt Frau Schultz ihrem kleinen Liebling und erwidert meinen Gruß nebenbei mit einem hoheitsvollen Nicken.

Ich belasse es bei einem belustigten Schnauben und gehe einfach weiter. Junger Mann? Ich gehe schnurstracks auf die dreißig zu, ganz so jung bin ich also nicht mehr. Aus der Sicht meiner Nachbarin wird jedoch jeder als junger Mann betitelt, der noch keine siebzig ist.

Das Zeitgefühl scheint sich mit jedem dazukommenden Lebensjahr zu verändern und nach ganz eigenen Regeln abzulaufen. Wie sonst schaffen es die Rentner mit absolut zuverlässiger Genauigkeit, immer dann einkaufen zu gehen und an der Kasse vor einem zu stehen, wenn man es eilig hat?

Diese weltbewegende Frage muss ich irgendwann mal in meinen Podcast einfließen lassen.

Luíz

Unbehaglich rutsche ich auf dem Stuhl herum, dessen Sitzfläche ziemlich hart, zudem viel zu kurz geraten und damit total unbequem ist. In Gedanken verfluche ich mich dafür, heute Morgen ausgerechnet den blauen Einreiher angezogen zu haben. Der sieht zwar toll aus, aber der Stoff meiner Anzughose ist so glatt, dass ich ständig befürchte, gleich von diesem blöden Sitzmöbel zu flutschen wie ein Stück Butter von einer heißen Pellkartoffel.

Das Teil aus glänzend rotem Plastik hat eine merkwürdige Form, die mich an ein umgekipptes P erinnert. Ich habe keine Ahnung von solchen Designerstücken, aber es stammt bestimmt nicht aus einem normalen Möbelhaus, sondern eher aus einer Kunstgalerie. Wie alles in diesem Büro. Die Einrichtung ist hypermodern, war garantiert teuer und soll wohl jedem Besucher vermitteln, dass er es hier mit einem finanzstarken Unternehmen zu tun hat, bei dem man froh sein muss, überhaupt als Kunde angenommen zu werden. Irina Rahlbach legt als Leiterin von Irkko, der Agentur für Künstler- und Konzertmanagement, anscheinend mehr Wert auf einen solchen suggestiven Eindruck denn auf Gemütlichkeit.

Ich sitze erst zum zweiten Mal hier auf diesem Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, doch ich fühle mich genauso unwohl wie bei meinem Einstellungsgespräch in der letzten Woche. Hoffentlich gewöhne ich mich noch an das Ambiente, schließlich war es mein absoluter Wunschtraum, hier zu arbeiten. Nicht nur das Gehalt ist fantastisch, sondern auch der Ruf, den die Agentur genießt, weil sie jede Menge namhafter Künstler betreut. Gefragte Models und Filmstars, die teilweise den Sprung über den Teich geschafft haben, oder auch bekannte Bands, deren Konzerte regelmäßig ausverkauft sind. Hier werde ich es mit vielen Stars und Sternchen zu tun bekommen und ich kann es kaum erwarten, mit der Arbeit endlich richtig loszulegen.

Frau Rahlbach hat allerdings schon seit mehreren Minuten einen Kunden am Apparat, den sie regelrecht umgarnt, einem Bühnenprogramm zuzustimmen. Da sie ihn mit Tobias anredet und die Rede von einem Podcast ist, weiß ich sofort, mit wem sie gerade spricht. Schließlich bin ich ein Profi. Es kann sich bei ihrem Gesprächspartner nur um Tobias Kämmerer handeln, der den Podcast Tobis Kämmerlein produziert. Warum sie mich vorhin zu sich gerufen hatte, noch bevor sie das Telefonat begonnen hat, weiß ich nicht, aber ich werde es bestimmt bald erfahren.

Kämmerer ist ein absolut begnadeter Comedian, der mit viel Witz und einer guten Portion Ironie das Weltgeschehen auseinandernimmt und der Gesellschaft dabei einen Spiegel vorhält. Beim Zuhören wird man nicht nur von seiner warmen, unwahrscheinlich sexy klingenden Stimme eingenommen, sondern muss auch ihm und seinen geistreichen Gedankengängen überwiegend zustimmen. Ich würde nicht so weit gehen, mich als Fan von Tobis Kämmerlein zu bezeichnen, aber die Art, wie sein Macher dieses Medium nutzt und ihm seinen eigenen Stempel aufgedrückt hat, ist wirklich außergewöhnlich.

Meine Chefin beendet nun das Gespräch und wirft ihr Handy anschließend mit einem wütenden Schnauben auf den Schreibtisch. »Gottverdammte Scheiße!«, flucht sie wenig damenhaft. »Der Kerl raubt mir noch den letzten Nerv!«

Sie steht von ihrem Chefsessel auf und wandert zum großen Panoramafenster hinüber, aus dem man einen beeindruckenden Blick über die Skyline der Innenstadt hat. Dabei wendet sie mir den Rücken zu und beachtet mich überhaupt nicht mehr, als hätte sie meine Anwesenheit völlig ausgeblendet.

»Was halten Sie von ihm?«, fragt sie jedoch so plötzlich, dass ich mich unwillkürlich im Raum umsehe, um festzustellen, ob sie tatsächlich mich meint oder mit jemand anderem spricht.

»Äh… von Tobias Kämmerer?« Verblüfft drehe ich mich in ihre Richtung und muss sofort wieder mit dem Gleichgewicht kämpfen, um nicht von diesem verflixten Stuhl zu fallen.

»Ja.« Sie seufzt vernehmlich und verschränkt die Arme vor der Brust, während sie weiterhin aus dem Fenster schaut.

Ich räuspere mich verhalten. »Nun ja, er ist…«

»… als Kunde eine absolute Vollkatastrophe«, fällt mir Frau Rahlbach ins Wort. Ihre Stimme klingt dabei reichlich frustriert. Nun aber dreht sie sich wieder zu mir um und winkt energisch ab. »Möchten Sie etwas trinken? Einen Kaffee? Espresso?«

Ihrem plötzlichen Themenwechsel kann ich nicht ganz folgen, schüttele aber abwehrend den Kopf.

»Nein, danke.«

»Ich brauche jetzt aber was.« Sie setzt sich wieder hinter ihren Schreibtisch, greift zum Telefonhörer und drückt eine Taste. »Merle, bringen Sie mir bitte einen doppelten Espresso und einen Cognac. Oder… ach, nein, eher andersherum. Einen Espresso und einen doppelten Cognac.«

Ich kann ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Meine neue Chefin, die ich als äußerst kompetent und energisch kennengelernt habe, ist anscheinend vollkommen durch den Wind.

Die Tür zum Büro öffnet sich und Frau Rahlbachs Vorzimmerdame, Merle Zimmermann, kommt herein. Ihre mörderisch hohen Absätze versinken im dicken Teppich, mit dem das Büro ausgelegt ist. Zudem trägt sie einen knallengen Bleistiftrock, mit dem sie kaum einen Schritt vernünftig laufen kann. Sorgenvoll beobachte ich sie aus den Augenwinkeln, während sie uns entgegentippelt und das Tablett mit dem gewünschten Cognacschwenker und dem Kaffeetässchen zum Schreibtisch balanciert. Da der cremefarbene Teppichboden keinerlei Flecken aufweist, scheint sie diesen Balanceakt zu beherrschen, sonst sähe es hier ganz anders aus.

Ehrlich, ich werde nie verstehen, warum sich manche Frauen so ein Outfit überhaupt antun. Merle ist eine sehr hübsche Frau, sie hätte es nicht nötig, sich derart aufzudonnern und auch noch pfundweise Make-up aufzutragen.

Trotz der schwierigen Aufgabe, das Tablett unfallfrei über den Teppich zu jonglieren, lächelt mir Merle zu und schenkt mir einen koketten Augenaufschlag. Ich presse die Lippen aufeinander, schaue runter auf mich und wische nebenbei einen Fussel von meinem Knie.

Herrgott, vom ersten Tag an hat Merle mir schöne Augen gemacht, wie man so schön sagt. Dass ich dagegen immun bin, ist ihr sicherlich nicht aufgefallen, weil ich noch nicht dazu gekommen bin, das klarzustellen. Als schwuler Mann hat man es in der Arbeitswelt nun mal nicht leicht, egal, in welchem Job man arbeitet. Zunächst muss man beweisen, was man draufhat, bevor an ein Outing überhaupt zu denken ist. Die Erfahrung habe ich zumindest beim ersten meiner bisherigen Arbeitgeber machen dürfen, danach bin ich vorsichtiger geworden.

»Danke, Merle«, sagt Frau Rahlbach.

Ich schaue wieder auf – und meiner Chefin genau in die Augen. Erst jetzt merke ich, dass sie mich die ganze Zeit über aufmerksam beobachtet haben muss. Ihr Gesichtsausdruck wirkt seltsamerweise triumphierend, was ich gerade nicht richtig einordnen kann. Trotzdem wartet sie, bis Merle das Tablett abgestellt und den Raum wieder verlassen hat.

Frau Rahlbach greift nach der Espressotasse und nippt genüsslich daran. »Nun, Herr da Silva«, beginnt sie dann sachlich. »Ich denke, Sie haben meine Agentur, das Team und unsere Arbeitsweise in der letzten Woche bereits ein wenig kennenlernen dürfen.«

Ich nicke knapp, obwohl es keine Frage war.

»Bestimmt haben Sie dabei festgestellt, dass wir um einen sehr engen, freundschaftlichen und auch vertrauten Kontakt zu den Künstlern bemüht sind«, fährt sie fort.

»Ja, das habe ich tatsächlich gleich zu Beginn gemerkt«, räume ich ein.

Neben mir sind vierzehn weitere Mitarbeiter dafür zuständig, nicht nur die Verträge auszuhandeln, Termine zu organisieren und alles rund um die Events zu planen, sondern auch deren Durchführung zu begleiten und sicherzustellen, dass es den Künstlern und Schauspielern auf Konzerten, Tourneen, Modenschauen oder bei Dreharbeiten an nichts fehlt. Genau so, wie ich mir die Arbeit bei einer solch großen und bedeutenden Künstleragentur immer schon vorgestellt habe.

»Normalerweise sind meine Klienten dankbar, dass wir nicht nur die Verhandlungen mit den Auftraggebern und Vertragspartnern führen und damit ihre Karriere in Schwung bringen, sondern sie auch bei ihren Auftritten begleiten und uns um alles kümmern«, fährt sie ernst fort. »Alle – bis auf Tobias Kämmerer.«

Ich hebe fragend eine Augenbraue. Frau Rahlbach scheint langsam auf den Punkt zu kommen und ich ahne, dass mir nicht unbedingt gefallen wird, was als Nächstes kommt.

»Was wissen Sie von Kämmerer?«, fragt sie nun.

Verhalten zucke ich mit den Schultern. »Ich kenne seinen Podcast, weiß allerdings nicht, was er davor schon alles getan oder veröffentlicht hat. Seine wöchentlichen Beiträge haben zu recht viele Fans, sie sind echt klasse. Außergewöhnlich scharfsinnig, witzig und unterhaltsam.«

Meine Chefin nickt bei jedem meiner Worte, macht dann aber eine abwehrende Handbewegung, die mich zum Verstummen bringt.

»Ja, ja, das ist genau das, was jeder Podcasthörer sagen würde. Was ich aber meinte, ist: Was können Sie mir über die Person Tobias Kämmerer erzählen?«

Ich runzele perplex die Stirn. Ist das eine Fangfrage? Oder testet Sie mein Wissen? Verdammter Mist, ich muss zugeben, dass ich über den Comedian rein gar nichts weiß. Ich habe nicht einmal ein Bild von ihm im Kopf.

»Genau das ist das Problem.« Frau Rahlbach hat mir leider sofort angesehen, dass ich keinen Plan habe. Sie lächelt jedoch entspannt, legt die Fingerspitzen aneinander und lehnt sich mir ein Stück entgegen. »Keine Sorge, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, dass Sie diese Frage nicht beantworten können. Niemand weiß etwas über ihn. Weder wie er aussieht noch wie alt er ist, wo er zur Schule gegangen ist oder welches Auto er fährt. Nicht einmal, dass er hier in der Stadt wohnt.«

»Er hält sein Privatleben geheim?«, frage ich, obwohl die Antwort auf der Hand liegt. »Nun gut, das machen einige Promis. Die meisten wollen damit ihre Familie und ihre Kinder aus der Öffentlichkeit heraushalten, um sie zu schützen.«

»Richtig, das wäre ein Grund«, stimmt meine Chefin mir zu. »Doch keiner dieser Promis wehrt sich darüber hinaus so vehement gegen die Vorschläge seines Managements wie Tobi Kämmerer, wenn es um die Weiterentwicklung seiner Karriere geht. Und ich habe nicht einmal ansatzweise eine Ahnung, warum er das macht.«

Ich richte mich unwillkürlich auf dem unbequemen Designerstuhl auf und setze mich gerade hin. »Sie meinen, selbst Sie wissen nichts über ihn als Privatperson und seinen persönlichen Hintergrund?«

Frau Rahlbach nickt energisch.

»Gar nichts«, bestätigt sie und seufzt erneut. »Das macht es schwer, ihn einzuschätzen und herauszufinden, womit ich ihn locken kann. Er blockt rigoros alles ab, gleichgültig welche Ideen wir bisher für ihn ausgearbeitet haben. Zwar steigt sein Bekanntheitsgrad unaufhörlich, aber wenn wir ihn nicht bald mit einem Bühnenprogramm ankündigen, wird er irgendwann wieder in die Bedeutungslosigkeit abtauchen. Dabei kann ich mich vor lukrativen Anfragen für Interviews, Talkshows und sogar vor einigen TV-Produktionen kaum noch retten!« Sie ringt fassungslos die Hände.

Ich schlucke trocken und mir entfährt ein missmutiges Brummen. Dieser Tobi Kämmerer scheint ein komischer Vogel zu sein. Viele Künstler sind seltsame Typen und haben jede Menge merkwürdiger Macken. Vielleicht ist das so, wenn man eine kreative Ader hat. Normal und durchschnittlich sind jedenfalls die wenigsten von ihnen, das habe ich zu Beginn meiner Berufstätigkeit, also vor etwas mehr als acht Jahren, relativ schnell herausgefunden.

»Und genau dafür habe ich Sie eingestellt«, unterbricht Frau Rahlbach meine Gedankengänge.

»Äh… wofür genau?«, hake ich verblüfft nach.

»Für die Betreuung von Tobi Kämmerer.« Sie nickt selbstgefällig. »Ich wusste sofort, Sie sind der richtige Mann dafür, ihn aus seinem Kämmerlein heraus und auf eine große Bühne zu bringen.«

Ich kann gerade noch verhindern, ein frustriertes Stöhnen auszustoßen.

Oh Mann! Ich dachte, meine Qualifikationen wären gut genug, um endlich mit den Größen des Showbiz zusammenarbeiten zu können! Dabei spreche ich fünf Sprachen fließend, habe einen hervorragenden Abschluss an der Uni hingelegt und kann auf eine mehrjährige Erfahrung in einer mittelständigen Konzertagentur zurückgreifen. Jetzt gleich als Erstes mit einem Comedian arbeiten zu müssen, an den nicht einmal Irina Rahlbach mit ihrer jahrelangen Berufserfahrung herankommt, fühlt sich eher wie eine Bestrafung an.

»Sehen Sie es als Bewährungsprobe«, mahnt meine Chefin nun auch, die meinen entgeisterten Gesichtsausdruck bemerkt haben muss. »Überzeugen Sie Kämmerer, ein Bühnenprogramm zu schreiben und es spätestens im Sommer in der Stadthalle aufzuführen. Wenn Sie das schaffen, verkürze ich nicht nur Ihre Probezeit, sondern lasse Sie danach an die richtig dicken Fische ran. Wie zum Beispiel an die Konzerttournee der Unborn Killers in den Staaten im kommenden Jahr.«

Sie zwinkert mir aufmunternd zu, währenddessen entwischt mir ein überraschtes Schnaufen. Die Unborn Killers? Oh fuck, die weltweit bekannte Metalband ist der Oberhammer! Die ist tatsächlich ein dicker Fisch. Ach, was! Die ist eher ein Walfisch!

»In Ordnung, abgemacht. Ein Bühnenprogramm in der Stadthalle von und mit Tobias Kämmerer.« Ich straffe mich, stehe auf und strecke Frau Rahlbach meine Hand entgegen. Sie erwidert meinen Handschlag fest.

Nun denn, die Herausforderung nehme ich an. Irgendetwas wird mir schon einfallen, wie ich an Kämmerer herankomme und ihn umstimme. Bisher habe ich noch jedes Problem mit viel Ruhe, guten Einfällen und dank meiner Überzeugungskraft lösen können.

Das wäre doch gelacht, wenn ich den Mann nicht dazu bringen könnte, seiner Karriere den richtigen Kick zu geben!

Tobias

Ich habe gerade die Einkäufe weggeräumt und die Waschmaschine angeworfen, als es an der Tür klingelt. Wohlgemerkt direkt an der Wohnungstür, nicht unten am Hauseingang. Irritiert schaue ich auf meine Armbanduhr. Es ist kurz vor siebzehn Uhr. Wer will denn an einem Samstagnachmittag um diese Uhrzeit noch etwas von mir? Das kann eigentlich nur Frau Schmittmann von gegenüber sein, die sich ein Ei oder eine Tasse Zucker borgen will. Die Frau ist schon weit über achtzig, backt aber noch jeden Samstag einen Kuchen, weil sonntagnachmittags ihre Familie zu Besuch kommt. Nur vergisst sie oft etwas beim Einkaufen, das sie sich dann bei mir borgt. Im Austausch dafür bringt sie mir immer ein Stück von ihrem leckeren Backwerk vorbei.

Natürlich schaue ich trotzdem durch den Türspion, die Klinke schon in der Hand, um zu öffnen – und halte abrupt inne. Es ist nicht Frau Schmittmann, sondern ein fremder Mann. Aufgrund der Fischaugenperspektive, die man beim Blick durch den kleinen Türspion hat, wirkt sein Kopf mit den dunklen Haaren total verzerrt, als wäre er so groß und rund wie ein Wasserball. Er ist allein, also kann das keiner der Zeugen Jehovas oder ein ähnlicher Klinkenputzer sein. Die kommen eher zu zweit.

»Ja, bitte?«, frage ich durch die geschlossene Tür hindurch.

»Hallo, mein Name ist Luíz da Silva von der Agentur Irkko«, antwortet der Mann höflich. »Herr Kämmerer, haben Sie einen Augenblick Zeit für ein Gespräch?«

Aha. Er kommt also von meiner Agentur. Von der kann kein irrer Fremder oder potenzieller Axtmörder etwas wissen, weil diese Information nicht auf meiner Webseite oder sonst irgendwo im Internet auftaucht. Trotzdem zögere ich. Bisher habe ich immer nur direkt mit Irina Rahlbach Kontakt gehabt. Obwohl, hatte sie nicht in einem unserer letzten Gespräche erwähnt, dass sie mir demnächst einen ihrer Mitarbeiter an die Seite stellen will? Das hätte ich zwar gerne abgelehnt, aber ich kann von Irina nicht verlangen, dass sie sich persönlich um mich kümmert. Als Chefin der Agentur hat sie bestimmt jede Menge anderer Dinge zu tun. Was will aber nun dieser Mitarbeiter von mir? Bestimmt dasselbe, was ich vorhin Irina auszureden versucht habe. Irgendwie muss ich den Kerl schnellstmöglich wieder loswerden.

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