Du weißt doch, Frauen taugen nichts

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Herbstgewitter

Spät am Freitagabend trudelte Carola völlig erledigt bei mir in Lübeck ein. Wenn sich das so einspielte, dann würden wir uns wohl so gut wie jedes Wochenende sehen. Mal in Hannover, mal in Lübeck, bis ich so weit war, nach Hannover zu ziehen. Carola war von Hannover zuerst zu ihrem Bruder nach Bielefeld gefahren, um mit ihm über die Webseite ihrer Praxis zu sprechen, die dieser für sie erstellen wollte. Sie und Britta wollten ganz modern eine Webseite für ihre Praxis ins Internet stellen, um so für wenig Geld Werbung machen zu können.

Eigentlich hatten wir abgesprochen, dass wir gleich nach ihrem Eintreffen, auf einen Trunk zu Horst gehen. Aber Carola legte sich erst einmal auf das Sofa, halb auf mich längs, kuschelte sich ein, wollte erst einmal nur ruhig entspannen, und von mir eine Tüte Streicheleinheiten bekommen.

„Ich bin völlig geschafft“, kam es mehr murmelnd als gesprochen aus ihrem Mund.

„Wenn du willst, können wir auch hier bleiben. Von mir aus müssen wir nicht noch weg.“

Aber Carola schüttelte den Kopf. Sie wollte nur kurz verschnaufen, und nachdem sie sich etwas erholt hatte, drängelte sie auch schon zum Aufbruch. Sie hatte sich bereits mit Freunden im „Carrickfergus“ verabredet, um einen gemeinsamen Ausflug, der für Sonntag geplant war, noch einmal kurz zu besprechen, und dabei na klar noch ein kühles Bierchen zu trinken. Also bummelten wir durch die bereits dunkel werdende Lübecker Altstadt. Selbst jetzt, Mitte September, war es noch angenehm warm.

Nächsten Tag, am Samstag, war dann die Sommerparty meiner Schwester angesagt, die sie jedes Jahr zum Ende des Sommers, in ihrem Garten, zusammen mit ihrem Lebensgefährten veranstaltete.

Auch Carola freute sich Michael, nach vielen Jahren wieder zu sehen. Allerdings schien sie etwas nervös zu werden, als sie, nachdem sie sich noch am Vormittag mit Carmen zum Bummeln in der Altstadt getroffen hatte, bei mir wieder aufschlug. Um 16:00 Uhr sollten wir bei meiner Schwester eintreffen.

Da wir in der letzten Nacht erst morgens, als es schon hell geworden war, eingeschlafen waren, war ich, als Carola sich mit Carmen zum Stadtbummel traf, wieder ins Bett verschwunden, um noch etwas Schlaf nachzuholen, und auch gleich etwas vor zu schlafen. Carola legte sich, nach ihrem Ausflug noch einmal zu mir, sodass wir erst kurz bevor wir los mussten, aus dem Bett kamen.

„Weiß Michael denn, dass ich mit dir zu seiner Party komme“, fragte Carola mich, bevor wir die Wohnung verließen, um uns auf den Weg zur Party zu machen.

„Nö, ich habe nur gesagt, dass ich nicht alleine komme.“

„Was ist, wenn Michael es gar nicht so toll findet, wenn er mich sieht?“

„Wieso sollte er? Ich denke ihr ward früher so dicke miteinander.“ Ich war verwundert. „Das kann doch nur nett werden, wenn ihr euch nach Jahren mal wieder trefft, und ein bisschen von alten Zeiten plaudern könnt.“

„Ja schon, aber vielleicht will er mich gar nicht sehen.“

Ich schaute sie baff an: „Wieso?“

„Keine Ahnung.“

Mehr kam nicht von ihr.

Ich war etwas erstaunt. Sie hatten sich, wie Carola selbst gesagt hatte, seit Jahren nicht mehr gesehen, und das, obwohl Carola erst vor ungefähr einem Jahr aus Lübeck weggezogen war. Ich fragte mich im Stillen, ob die beiden sich damals im Streit getrennt haben, und Carola wegen irgendeinem Vorfall ein schlechtes Gewissen hat, sodass Michael vielleicht berechtigt immer noch auf sie sauer sein könnte. Warum sollte er sonst sie eventuell nicht sehen wollen? Anscheinend war selbst Carola der Ansicht, dass Michael durchaus einen Grund hatte, ihr Wiedersehen nicht unbedingt toll zu finden. Das verwunderte mich, da Carola selbst immer von Michael als guten, wenn nicht sogar als ihren besten Freund schwärmte. Ich fragte aber nicht näher nach.

„Wenn es Knatsch gibt, bleiben wir nicht lange. Wir können ja dann, statt dort zu bleiben, weiter nach Ratzeburg fahren, bei Pelz ein Eis essen, und am See spazieren gehen.“

Pelz, in Ratzeburg am Ratzeburger See liegend, ist eine der berühmtesten Eispavillons in ganz Schleswig-Holstein. Selbst Motorradfahrer von der Westküste oder der dänischen Grenze, ja selbst aus Niedersachsen und aus Meck-Pomm, sagen oft, wenn sie sonntags mit dem Bock durch die Gegend fahren wollen, nicht: „Lasst uns mal einen Motorradausflug machen“, sondern es heißt einfach nur: „Lasst uns mal zu Pelz, Eis essen fahren“, was dann eben automatisch eine Tour durchs Land beinhaltete.

Ich wusste nicht, was zwischen den beiden damals gelaufen war, wollte aber Carola auf jeden Fall anzeigen, dass ich, sollte es zwischen den beiden auf der Feier nicht gut laufen, gerne bereit war, ohne großes Aufheben, mit ihr den Tag auch anders zu verbringen, dass sie mir wichtiger wäre, als diese Feier.

Relativ entspannt stiegen wir, zumindest ich war entspannt, in Carolas Auto, und fuhren zur Sommergartenparty meiner Schwester. Auch ich sollte dort einige Leute treffen, die ich nach vielen Jahren das erste Mal wieder sehen würde. Der Sommer war immer noch, obwohl wir schon Mitte September hatten, voll im Gange. Wir erlebten einen gemütlichen Grillabend im Garten meiner Schwester. Auch die Ängste von Carola, dass Michael sich ihr gegenüber abweisend verhalten würde, waren unbegründet gewesen. Ich sah die beiden, noch mit anderen zusammen, die aus der Klicke um Michael stammten, sich gemütlich unterhalten. Sie tauschten wohl alte Erinnerungen aus, und selbst wenn sie dabei vielleicht auch alte Differenzen bereinigten, taten sie dies zumindest mit viel Lachen.

Als wir uns spät abends auf den Weg nach Hause machten, war Carola bester Laune. Ihre Befürchtungen waren nicht eingetroffen. Sie hatte sich mit Michael bestens verstanden, die alten Bande waren noch da. Für Dienstag früh hatte Carola sich, bevor sie wieder nach Hannover zurückfahren musste, mit Michael sogar noch einmal zu einem Frühstück, in einem Lübecker Café verabredet. Wir waren ziemlich aufgekratzt, als wir ins Bett kamen.

Carola schmiegte sich an mich und sagte mir verschmust, dass sie sich bei mir sauwohl fühle, dass sie davon überzeugt sei, dass ich der Richtige bin.

Das ging bei mir runter wie Honig. Der siebte Himmel war nichts dagegen.

Es war schon wieder früher Morgen, als wir einschliefen, obwohl wir nicht ausschlafen konnten, da wir uns ja zu einem Ausflug mit Freunden verabredet hatten.

Als der Wecker klingelte, hüpfte ich zuerst aus dem Bett. Auch wenn ich noch ein paar Stunden Schlaf hätte vertragen können, war heute nun einmal nicht mehr drin. Nach dem ich mit dem Duschen fertig war, sprang Carola unter die Dusche. Als Carola sich nach dem Duschen abgetrocknet hatte, stellte sie sich nackt, nur mit einem Handtuch, wie einen Turban um ihre Haare gewickelt, vor den Spiegel, um sich die Augenwimpern an zu tuschen. Ich lehnte mich entspannt gegen den Badezimmertürrahmen und schaute ihr dabei, mit einem verliebten Grinsen und leicht amüsiert, bei dieser Farbauftragung zu.

Plötzlich drehte Carola den Kopf zu mir hin. „Guck nicht so kritisch, ich weiß, dass ich nicht schön bin.“

Klatsch. - Das hatte gesessen. Die Ohrfeige saß, auch wenn sie mich nur verbal getroffen hatte.

Ich würde aus meinem schönen Tagtraum gerissen. Carolas wütender Blick traf mich eiskalt. In meiner Überraschung kam von mir erst einmal nur: „Ich hab doch gar nicht kritisch geguckt. Ich darf doch wohl noch zuschauen, wenn du dich anmalst. Ich schau dir gerne zu.“

Dann noch nachsetzend, nach dem ich Luft geholt hatte: „Das gehört nun einmal zu den Kompetenzen, wenn man eine Freundin hat“, und versuchte dabei, auch wenn ich völlig überrumpelt war, und über den Ausruf von Carola geschockt, verschmitzt zu grinsen.

Carola war, in Vergleich zu gestern und letzter Nacht, ganz plötzlich völlig verwandelt. So hatte ich sie noch nie erlebt. Ich war wie vor den Kopf geschlagen.

Erst später, als wir beide zu dem Treffpunkt, an dem wir unsere Freunde treffen wollten, fuhren, hatte ich mich so weit gefangen, um über die Szene in meinem Bad nachzudenken, während Carola mit starrem, geradezu maskenhaftem Gesichtsausdruck nach vorne schaute. Ich verstand das Theater nicht. Auch nachdem ich meine Gedanken einigermaßen sortiert hatte, blieb ich bei der Auffassung, dass es völlig normal sei, wenn man seine eigene Freundin zuschaut, wenn sie nackt vor dem Spiegel steht.

Ich hatte den Anblick von Carola genossen, wie sie da nackt vor dem Spiegel gestanden hat. Ich schaute Carola immer gern an. Egal ob sie nackt vorm Spiegel stand, im Federbett eingekuschelt, sodass nur ihr Kopf zu sehen war, oder sie lesend auf dem Sofa saß. Es war ein schönes Gefühl sie ansehen zu können. Und wenn sie, so wie letzte Nacht, der Meinung war, dass ich der Richtige für sie sei, dann durfte ich sie ja wohl auch angucken. Wenn nicht ich, wer denn sonst?

Mir fiel wieder ihre panische Eifersucht wegen der Schwedischlehrerin ein. So wie sie sich verhielt, könnte man fast meinen, sie glaubte, ich halte sie nur als Trostpreis so lange bei mir, bis ich meinen Hauptgewinn finden würde. Sie schien wirklich zu glauben, sie wäre nur ein Trostpreis. Dabei müsste Carola doch eigentlich klar sein, dass ich für einen Trostpreis nicht mein geliebtes Schweden aufgegeben hätte.

Wir wollten an diesem Tag, mit unseren Freunden zusammen, nach dem kleinen Ort Schmilau, ungefähr fünf Kilometer südlich von Ratzeburg fahren, in dem es einen kleinen Freizeitpark gibt. Von dort war geplant, auf einer stillgelegten Bahngleisstrecke, mit einer Draisine nach Ratzeburg und wieder zurückzufahren. Es war ein lang geplanter Sonntagsausflug von Carmen, Hans, Peter und Carola. Ein Geburtstagsgeschenk für Horst, der zwar bereits vor ein paar Monaten Geburtstag gehabt hatte, da allerdings die Vorbereitung für solch eine waghalsige Expedition nun einmal mehrere Monate in Anspruch nimmt, wurde erst jetzt etwas daraus. Treffpunkt für den Aufbruch dieser Expedition war die Kneipe von Horst. Dort angekommen wollte Carola mit Carmen zusammen in ihrem Auto fahren, mal wieder ein Frauengespräch führen. Wir restlichen setzten uns bei Hans ins Auto und führen los. Das Wetter war, wie immer in diesem Sommer, toll. Es würde ein schöner Tag werden. Auf der Fahrt nach Schmilau musste ich allerdings ständig an Carola denken. Seit ihrem Ausbruch bei mir im Bad war sie wie verwandelt, und das hatte sich auch, als wir die anderen vor der Kneipe von Horst getroffen hatten, nicht gebessert. Im Gegenteil. Ihr Verhalten war, während wir vor der Kneipe auf Horst warteten, noch abweisender, und das fast schon in einer aggressiven Art und Weise mir gegenüber, wie ich es bei ihr noch nie erlebt hatte.

 

Wobei „noch nie“ falsch war. Ihre berüchtigte „mich Verurteilungs-E-Mail, sechs Jahre vorher, war auch aggressiv gewesen. Aber so weit zurück dachte ich damals, auf den Weg nach Schmilau, nicht.

Im Freizeitpark Schmilau angekommen, setzten wir uns erst einmal alle an einen langen Tisch, der dort im Freien für die Besucher aufgestellt war, und machten Lunchpause. Die Fahrt mit der Draisine würde einige Kondition und Kraft fordern, da mussten wir uns vorher ordentlich stärken. Carola sorgte dafür, dass sie so weit wie möglich von mir entfernt, sich hinsetzen konnte, in dem sie wartete, bis ich mich selbst gesetzt hatte. Dann erst setzte sie sich an das andere Ende des Tisches. Weiter weg von mir, sollte sie nicht so verwegen sein, sich gleich ganz an einen anderen Tisch zu setzen, ging nicht.

Frisch gestärkt bestiegen wir dann eine Draisine, und mit Muskelkraft ging es Richtung Ratzeburg. Kreuzten die Gleise eine Landstraße, musste vor der Straße gehalten werden. Zwei von uns hielten mit Fahnen den Straßenverkehr auf, die Draisine fuhr auf die andere Straßenseite, die beiden mit den Fahnen wurden wieder eingesammelt, und es ging weiter. Während die Männer abwechselnd mit Muskelkraft die Draisine weiter Richtung Ratzeburg bewegten, Carmen sich die Landschaft anschaute, stand Carola in der hintersten Ecke der Draisine, starrte auf dessen Fußboden oder in die Landschaft, ständig bemüht meinem Blick auszuweichen.

So kamen wir in Ratzeburg am Bahnhof an, an dem das Draisine-Gleis an einem Poller endete. Wir bummelten alle den Bahnsteig längs zum Bahnhofscafé, schauten uns da ein bisschen die Umgebung an, klönten ein bisschen, und wollten dann langsam wieder Richtung Schmilau zurückfahren. Carola war mir, stumm wie ein Fisch, die ganze Zeit ausgewichen. Als sie sich immer noch stumm wieder Richtung Draisine schlich, hängte ich mich an ihre Fersen und ging auch stumm, ungefähr zwei Meter neben ihr, in Richtung der Draisine. Die anderen hatten sich noch in dem Bahnhofscafé etwas angesehen, Carola und ich waren alleine auf dem Bahnsteig. Näherte ich mich ihr, wich sie aus, achtete darauf, dass der Abstand gewahrt blieb.

Plötzlich, völlig unerwartet, stürmte Carola auf mich zu und umschlang mich mit beiden Armen. Sie presste sich an mich, ich kann es gar nicht anders beschreiben, wie eine Ertrinkende auf dem weiten einsamen Meer, die plötzlich auf einen großen schwimmenden Baumstamm gestoßen war, und diesen voller Verzweiflung und Hoffnung auf Rettung, umklammerte. Ich schien für eine Ertrinkende der einzig vorhandene Rettungsring, auf der einsamen, gefährlichen, großen See zu sein. Ich war erstaunt, verwirrt, und da das alles völlig unerwartet passierte, total von den Socken. Anders war es nicht zu beschreiben. Genau die Gefühle hatte ich, als Carola mich regelrecht umklammerte und sich an mich presste.

Vorsichtig legte ich meine Arme, oberhalb ihrer Hüften, um sie, drückte sie vorsichtig, obwohl das eigentlich nicht ging, da sie sich schon fest an mich presste, näher an mich.

„Mädchen, was ist denn los mit dir“, fragte ich, so zärtlich, wie es nur ging.

Sofort ging durch Carola ein Ruck. Sie stieß mich weg. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck sehen. Ein gequälter, total verzweifelter Ausdruck, der sich in dem Augenblick, als ich ihn zu sehen bekam, wieder in die abweisende, steinerne Maske veränderte, wie sie es schon den ganzen Tag gewesen war.

„Nichts. Mit mir ist nichts.“

Und schon ging sie wieder stumm, mit versteinertem Gesicht auf den Bahnsteig vor sich blickend, zwei Meter neben mir her. Kam ich ihr näher, wich sie mir wieder aus.

„Was ist mit dir?“

Keine Antwort. Ein weiterer Schritt zur Seite, von mir weg.

Das war es für heute. Es war kein Herankommen mehr an Carola. Die anderen stießen zu uns, wir fuhren alle mit der Draisine wieder zurück nach Schmilau, fuhren von dort wieder mit den Autos nach Lübeck, und saßen den Abend bei Carmen und Hans im Hinterhof, bis es dunkel wurde.

Irgendwann gingen Carola und ich nach Hause, gingen dort ins Bett, um zu schlafen, wobei ich mir nicht klar war, ob Carola wirklich schlief oder nur so tat. Auf jeden Fall hatte sie abweisend den Rücken zu mir gewandt, und lag wie ein Eisklotz neben mir und blockte jeden Annäherungsversuch von mir ab. Ich legte mich mit offenen Augen auf den Rücken und grübelte. Aber die Gedanken liefen im Kreis, ohne an ein Ziel zu kommen.

Wow – was für ein Sonntag. Irgendwie hatte ich ihn mir anders vorgestellt. Vor knapp vierundzwanzig Stunden, am gleichen Ort, hatte es noch geheißen, sie fühle sich bei mir sauwohl, und ich wäre der Richtige.

Am Tag darauf, also Montag, hatte Carola noch einen Besuch bei einem alten Freund, Thomas zu machen, den sie bei der Sommergartenparty meiner Schwester, auch das erste Mal seit mehreren Jahren, wieder gesehen hat. Den Termin hatte sie schon, wie auch das Frühstück für morgen mit Michael, während der Gartenparty vereinbart. Ich hatte gleich früh am Vormittag abermals einen Termin bei der WAK, um ein intensives Gespräch mit dem Personalvermittler, wegen Hannover zu führen. Außerdem sollte an diesem Vormittag, auch wenn es für meine Berufsplanung unwichtig geworden war, der Schwedenkursus beginnen, der bis zum Nachmittag dauern sollte.

Da wir beide früh los mussten, war es nicht die richtige Zeit eine Aussprache durchzuführen, obwohl mir klar war, dass dieses dringend geschehen musste. Außerdem wusste ich einfach nicht, wie ich an Carola herankommen sollte. Sie hatte immer noch diesen völlig abweisenden, versteinerten Blick, und ihre ganze Gestik zeigte an, dass jeder Versuch an sie heranzukommen, bei ihr nur noch einen weiteren Rückzug, in sich selbst bedeuten würde. Ich war völlig überfordert, wusste nicht, was ich machen sollte. Es schien nicht einmal möglich einen Streit vom Zaun zu brechen, und irgendeine Reaktion bei ihr zu provozieren. Wie streitet man sich mit einer stummen, steinernen Wand? Ich wusste es nicht.

Ich sollte Carola anrufen, wenn ich bei der WAK mit allem fertig war. Wir hatten abgemacht, dass wir uns dann, wenn möglich schon am Nachmittag treffen. Ohne Freunde, wir ganz alleine. Das war auch wirklich dringend nötig.

Bei der WAK ergab sich aber, dass der Kursus, in dem man mich reinstecken wollte, überhaupt nichts für mich war. Dass das ein Anfängerkursus war, hatte man mir ja schon gesteckt, dass das aber so schlimm war, hatte ich mir nicht vorgestellt. Das war nun absolut überflüssig. Selbst wenn ich auch weiterhin nach Schweden hätte auswandern wollen, wäre der Kursus verschwendete Zeit gewesen. Die Schwedischlehrerin bot allerdings in der Volkshochschule einen anderen Kursus, einen Diskussionskursus für Fortgeschrittene, am gleichen Tag um 18:00 Uhr, an. In der Unterrichtspause suchte ich kurz meinen Sachbearbeiter bei der WAK auf, um zu fragen, ob ich den Kursus wechseln könnte, was er mir auch glatt genehmigte. Ich sollte an diesem Tag, wenn ich schon einmal anwesend war, den Anfängerkursus mitmachen, und dann am Abend zu dem Fortgeschrittenenkursus wechseln, und diesen dann fortführen. So lernte ich wenigstens noch etwas Neues, auch wenn das für meine berufliche Zukunft zurzeit nicht sichtbar etwas bringen würde.

Dass der Kurs für Fortgeschrittene bereits heute Abend war, passte mir nun gar nicht, da ich ja eigentlich mit Carola abgemacht hatte, dass ich sie, nach Beendigung des Anfänger-Schwedischkurses, anrufen sollte, damit wir uns dann gleich irgendwo treffen konnten. Da jetzt der zweite Kurs dazwischen kam, konnte ich sie zwar anrufen, aber wir konnten uns am Nachmittag, wenn überhaupt, nur kurz treffen. Mir blieb aber nichts anderes übrig, da ich nicht den Eindruck vermitteln wollte, obwohl der Schwedischkurs ja nun grundsätzlich überflüssig war, nicht willig zu sein.

Nach Beendigung des Anfängerkurses rief ich Carola, wie vereinbart an. Aus Spaß begrüßte ich sie, wie ich es in den letzten Wochen oft getan hatte, am Telefon auf Schwedisch. Sie hatte das immer witzig gefunden, wenn ich etwas auf Schwedisch brachte. Immerhin war ja auch mein erstes E-Mail an sie, damals Ende Juli, auf ihren persönlichen Wunsch hin, auf Schwedisch gewesen.

„Sprich deutsch mit mir, wenn du mit mir reden willst.“

Ich stutzte. Meine gute Laune, die ich trotz der abweisenden Art von Carola seit gestern, noch gerade gehabt hatte, sank auf einen Tiefpunkt: „ Was ist das für eine Begrüßung? Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“

„Warum rufst du mich überhaupt an?“

„Wir hatten doch vereinbart, dass ich anrufe, wenn ich hier fertig bin. Was ist los mit dir?“

„Nichts. Ich bin noch in Marli.“

Marli war der Stadtteil, in dem sie sich mit Thomas hatte treffen wollen. Und nach nichts klang das nicht gerade, was sie da, durch das Telefon, von sich gab.

„Ich hab erst von 18:00 bis 19:30 den Schwedischkursus. Sehen wir uns noch vorher?“

„Nein, das schaffe ich nicht. Du kannst nach dem Kursus zu Horst kommen. Ich warte dort auf dich.“ Ihre Laune war immer noch schlimm. Was hatte sie bloß?

„O.k, dann treffen wir uns da“, sagte ich mit einer Stimme, die auch ihr klar zeigen musste, dass ich gekränkt war. Sie wusste, dass wir uns dringend treffen mussten, schien aber ein Plauderstündchen mit einem alten Freund für wichtiger zu halten. Auch mein Ton schien sie in keiner Art und Weise zu beeindrucken. Sie verabschiedete sich am Telefon so abweisend, wie sie sich gemeldet hatte.

Während meiner ersten Kursstunde in dem Diskussionskreis musste ich ständig an Carola denken. Was war bloß los mit ihr? Schon gestern war sie ja so komisch gewesen. Ich muss zugeben, dass ich mich nicht so in den Kursus einbrachte, wie eigentlich geplant gewesen war. Hier fühlte ich mich nun total falsch. Das war doch reine Zeitverschwendung. Es gab nun wirklich Wichtigeres zu klären, als auf Schwedisch über die schwedische Tagespolitik zu sprechen, die mir, gerade heute, wirklich total am Arsch vorbei ging.

Nach dem Kursus beeilte ich mich erst einmal noch schnell nach Hause zu kommen, da ich seit dem Morgen, ich hatte ja nicht geahnt, dass ich bis abends unterwegs sein würde, nichts mehr gegessen hatte. Durch feste Nahrung im Magen gestärkt, sah ich zu, dass ich zu Horst in die Kneipe kam. Hoffentlich hatte sich die Laune von Carola inzwischen wieder gebessert, dachte ich mir noch auf dem Weg im Stillen. Um mit ihr ein vernünftiges Gespräch führen zu können, musste sie wenigstens ein wenig zugänglich sein. Ich kapierte einfach nicht, warum sie so launisch war. Es hatte zwischen uns keinen Streit gegeben. Wie sollte das auch, wenn sie, wie gestern, einfach nur stumm war, die Klappe runter schlug, und hinter ihrem Visier verschwand, und niemand bekam mit, warum.

Bei Horst stand Carola am Tresen und machte immer noch ein Gesicht, als ob ihr eine Laus, in der Größe eines Elefanten über die Leber gelaufen war. Sie goss sich selbst aus einer Flasche Wein ein. Ein Privileg, das sie hier in dieser Kneipe besaß, da sie früher, bevor sie nach Hannover gezogen war, auch hinter dem Tresen gestanden hatte. Mich guckte sie kaum an, war abweisend, und schaute wenn irgendwie möglich in eine andere Richtung, so als ob sie mir nicht in die Augen sehen konnte. Als ich ihr zur Begrüßung auf die Wange küssen wollte, zuckte sie regelrecht zurück. Auf ein Gespräch ließ sie sich dort in der Kneipe überhaupt nicht ein, sondern beschäftigte sich hauptsächlich damit, auf die Weinflasche zu starren. Nachdem ich zwei Guinness getrunken hatte, fragte Carola endlich, ob wir jetzt nach Hause gehen könnten. Ich nickte stumm, zahlte, und wir beide gingen auf die Straße.

Carola ging ungefähr mit zwei Meter Abstand, wie bereits gestern in Ratzeburg, stumm und abweisend neben mir. Ging ich leicht schräg auf sie zu, um den Abstand zu verringern, wich sie in gleicher Weise aus, um den Abstand zu wahren.

 

Wir waren schon einige hundert Meter gegangen, als Carola endlich den Mund aufmachte.

„Und, wie war der Kursus?“

Was sollte diese Plattitüde? Das war doch sicher nicht die Frage, die ihr auf der Leber lag.

„War ganz nett. Wir haben über alles Mögliche diskutiert.“

„Und die Leute, sind die nett?“

„Ja, die sind ganz witzig“, erwiderte ich, obwohl ich, weil ich während des Kurses gedanklich mit Carola beschäftigt gewesen war, von den anderen Teilnehmern kaum etwas mitbekommen hatte.

„Na, dann hast du ja schon neue Freunde für Lübeck gefunden.“

Das kam so trocken, geradezu eiskalt aus ihrem Mund, dass ich sie nur sprachlos von der Seite anschauen konnte. Carola musste gemerkt haben, dass ich sie völlig irritiert anstarrte, sie ließ sich aber nichts anmerken, sondern ging stumm, den Blick geradezu auffällig starr gerade aus, mit fast zwei Meter Abstand von mir, darauf achtend, dass ich den Abstand nicht verringern konnte, weiter.

Ich war mal wieder absolut baff. Erstens hatte Carola das in so einem harten, abweisenden, ja kalten Ton gesagt, dass es richtig wehtat. Und zweitens, was sollte dieser Spruch. Ich wollte und sollte, so schnell wie möglich nach Hannover ziehen. Warum sollte ich da noch neue Freunde für Lübeck finden? Der Kurs sollte in vier Monaten zu Ende gehen, und bis dahin sollte für den Umzug schon alles klar sein. Sollte ich bereits schon vorher einen Job in Hannover bekommen, sollte der Umzug sogar schon vorher stattfinden. Den ganzen Weg nach Hause war Carola abweisend, ja richtig kalt, und nur darauf bedacht, dass der Sicherheitsabstand zwischen uns sich nicht verringerte.

Außer dem Hinweis, mit meinen tollen neuen Freunden in Lübeck, sagte Carola nichts auf dem Weg nach Hause. Es war absolutes Schweigen im Walde. Selbst das Rauschen von Bäumen fehlte in den nächtlichen Straßen von Lübeck.

Bei mir zu Hause angekommen, setzte Carola sich gleich stumm auf das Sofa im Wohnzimmer. Dort saß sie mit einem Gesichtsausdruck, als ob ihr etwas tierisch auf dem Magen lag. Aber der Ausdruck sah nicht nur gequält aus, sondern hatte immer noch etwas Maskenhaftes, Versteinertes an sich.

Ich wollte endlich wissen, was mit ihr los war, und ging vor dem Sofa im Wohnzimmer nervös auf und ab.

„Was ist los mit dir?“

Keine Antwort.

„Carola, würdest du mir bitte sagen, was mit dir los ist. Du bist abweisend wie ein Stein.“

„Du stellst die falsche Frage.“

Batsch. Das war kurz und hart. Kalt ausgesprochen, ohne Emotion.

„Wieso? Du hast doch eindeutig was. Und ich möchte gerne wissen, was es ist.“

„Das ist die falsche Frage.“

Der gleiche kalte Ton.

„Wieso?“

„Wenn du die richtige Frage stellen würdest, könnte ich dir auch antworten.“

Das klang schon richtig pampig. Wie ein kleines Kind, das: „Ich will aber den Lutscher haben“, trotzig von sich gab. Ihr Gesichtsausdruck, hart wie Stein, hatte sich dabei nicht verändert.

„Was soll denn der Quatsch?“ Während Carola auf dem Sofa saß, lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Fensterbank und schaute Carola nicht verstehend und völlig verzweifelt an.

„Ich finde schon, dass du auf diese einfache Frage eine Antwort geben kannst. Es ist doch klar zu sehen, dass du was hast. Und ich möchte wissen, was es ist.“

„Du stellst nicht die richtige Frage.“

„Was, verdammt noch mal, ist die richtige Frage?“

Ich war wohl bei der Frage etwas lauter geworden. Carola schaute mich jetzt direkt an. Ihr maskenhafter Gesichtsausdruck hatte einen kleinen Knacks bekommen. Ich hatte sie erschreckt. Trotz aller Panik, die ich selbst in mir fühlte, war mir klar, dass das nicht passieren durfte. Mit Angst kamen wir nicht weiter. Ich ging durch das Zimmer, setzte mich vor ihr auf den Fußboden, umschlang vorsichtig ihre Unterbeine und legte meinen Kopf auf ihre Knie.

„Carola, da du anscheinend die richtige Frage kennst, ja anscheinend sogar die Antwort, die du darauf geben würdest, musst du mir schon sagen können, wie die Frage heißt. Wie soll ich denn darauf kommen, wenn die Frage, was mit dir los ist, die Falsche ist?“

„Das kann ich dir nicht sagen, darauf musst du schon selbst kommen.“

Das erste Mal, dass ihre Stimme nicht den eisigen trotzigen Ton hatte, sondern etwas ängstlich klang.

„Ich weiß nicht wie. Du musst mir schon sagen, wo ich da ansetzen muss.“

„Das ist nicht so einfach.“

„Wieso ist das nicht einfach? Du musst doch Wissen, was mit dir los ist.“

„So einfach ist das nicht. Ich bin eben ein schwieriges Mädchen. Du musst schon die richtige Frage stellen.“

Der ängstliche Ton war wieder verschwunden. Wie ihr Gesicht aussah, konnte ich aus meiner Position nicht sehen, aber der Ton wies darauf hin, dass das kleine schwierige, bockige Mädchen wieder den Lutscher haben wollte. Ich hatte meinen Kopf immer noch auf ihren Knien. Ich schüttelte verzweifelt leicht mit dem Kopf. „Woher soll ich wissen, was die richtige Frage ist.“

Endlich rückte Carola damit raus.

„Ich brauche etwas Zeit, um nachzudenken.“ Jetzt hatte der Ton wieder den harten abweisenden Klang, wie schon vorhin auf der Straße, auf dem Weg in meine Wohnung.

„Worüber?“

„Über uns.“

„Wieso über uns, was ist passiert?“

„Ich hab vorgestern bei der Geburtstagsfeier jemand wieder gesehen, wo ich eigentlich dachte, dass da nichts mehr ist. Aber gestern habe ich gemerkt, dass das nicht stimmt.“

Der Ton war immer noch eisig. Ich schaute zu ihr auf. Ihr Gesicht war maskenhaft, trotzig, abweisend, kalt.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. „Was meinst du damit?“

Carola erzählte dann von Thomas. Mit Thomas war sie früher oft zusammen Wein trinken gegangen, haben zusammen etwas herum geschmust. Selbst wenn sie einen festen Freund gehabt hat. Des Öfteren sind ihre früheren Freundschaften wegen Thomas auseinandergebrochen. Aber sie hat sich doch immer wieder mit ihm getroffen. Zum gemütlichen Wein trinken, und herum schäkern. Angeblich war da aber nie mehr gewesen. Sie hatte ihn vorgestern das erste Mal seit Jahren wieder gesehen. Und jetzt meinte sie, war sie sich ihrer Gefühle nicht sicher.

„Und, willst du mit ihm zusammen sein?“

„Nein, das wird nie was. Thomas würde nie mit mir etwas anfangen.“

„Das war eigentlich keine Antwort auf meine Frage. Ich wollte wissen, ob du was mit ihm anfangen würdest.“

„Wieso sollte ich, wenn er sowieso nicht will.“

„Das ist immer noch keine Antwort auf meine Frage“

„Ich weiß nicht. Ich muss darüber nachdenken.“

„Mein Gott, du hast doch noch am Freitagabend, ja selbst vorletzte Nacht noch gesagt, dass ich der Richtige wäre.“

„Das weiß ich auch. Du bist auch der Richtige. Aber bist du das auch in zwei oder in drei Jahren? Ich brauche Zeit zum Nachdenken.“

„Wenn du der Auffassung bist, dass ich der Richtige bin, wieso zweifelst du dann daran, ob ich das auch noch in zwei oder drei Jahren sein werde?“

„Wie soll ich das denn heute schon wissen?“

„Hab ich irgendwie Mist gemacht? Irgendwas Falsches? Hab ich dir wehgetan?“

„Nein, das hast du nicht.“

„Was ist dann jetzt auf einmal mit uns, mit mir?“

„Ich weiß es wirklich nicht.“

Carolas Stimme, die eben noch regelrecht kalt gewesen war, hatte sich plötzlich total verändert. Auch mit dem versteinerten Blick war es vorbei. Ich schaute ihr ins Gesicht. Sie war kurz davor loszuheulen. Die Augen glänzten schon vor Nässe. Dann brach es, mit Tränen in den Augen, aus ihr regelrecht heraus.

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