Fliederbordell

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BERNHARD SPRING

FLIEDERBORDELL

Ein Till-Thamm-Krimi

Gefördert von dem Walter-Bauer-Stipendium der Städte Merseburg und Leuna, gestiftet von der TOTAL Raffinerie Mitteldeutschland GmbH

2013

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954621552

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

PROLOG

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

PROLOG

Er konnte ihn förmlich riechen, konnte ihn lachen hören, dort hinter dem schmalen Lichtstreifen, den die Tür freigab. Und der in seine Dunkelheit fiel. Wie auch das Lachen – und dieser unbestimmte Geruch, der schwer in der Luft lag und ihn würgen machte.

Seine Hand ballte sich zu einer Faust. Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet, wie oft schon hatte er sich hierher gesehnt! Und nun war es endlich soweit, nun stand er hier im Schatten, bereit, jeden Moment hervorzuschnellen, in das Licht hinein, um dem Kerl den Schädel einzuschlagen. Immer wieder auf ihn einzuschlagen, bis er zu Boden gehen würde.

Er spürte, wie sein Puls allein schon bei der Vorstellung an das Kommende zu rasen begann, wie ihm das Blut gegen die Schläfen hämmerte und ihn berauschte. Das war gut.

Langsam tastete er sich durch den Raum, suchte das Licht, den Spalt in der Tür, die Öffnung, durch die noch immer das Lachen des anderen drang. Bald schon würde es verstummen, für immer, dachte er grimmig, nun vor Anspannung schnaubend, und hob seine Faust. Und trat mit einem letzten Schritt in das Licht.

1. KAPITEL

„Und wo ist Ihr Kollege?“

Der Mann wies mit einem beinah schon entschuldigenden Blick hinter sich zum Gebüsch. „Der musste sich mal übergeben“, sagte er dabei verlegen.

„Auch das noch!“, entfuhr es Thamm. Er stemmte die Arme in die Seite und sah hinaus auf den Fluss.

„Ist er das Wehr runtergekommen?“

Krause schnaubte heftig aus. „Till, du kennst doch das Prozedere, oder?“, grummelte er, ohne aufzusehen. „Ich weiß nur, dass hier eine Leiche in der Uferböschung liegt. Aber wo sie in die Saale gelassen worden ist, kann ich dir beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht später, wenn ich sie bei mir auf dem Tisch habe.“

„Und wie lange sie so in etwa im Wasser lag …?“, versuchte es Thamm wieder.

„Auch das – später“, ergänzte Krause gelassen. Seufzend wandte sich Thamm dem Kollegen vom Streifendienst zu. Der bemühte sich, eine halbwegs passable Figur zu machen. Auf Mitte zwanzig schätzte Thamm ihn. Der Junge war sichtlich nervös in Gegenwart des Kriminalhauptkommissars – und einer angespülten Leiche, selbstverständlich, dachte Thamm etwas amüsiert. „Also“, fragte er halbwegs um einen vertraulichen Ton bemüht, „haben Sie mir wenigstens was zu sagen?“

„Ja“, beeilte sich der junge Kerl zu antworten. „Ein Jogger hat den Toten entdeckt. Er wollte hier an den Baum, um … naja … um mal auszutreten, und da hat er beim Urinieren die Leiche zwischen den Sträuchern gesehen.“

„Beim Urinieren?“, fragte Thamm nach. Der Polizist wurde unter seinem konzentrierten Blick merklich kleiner. Nervös blätterte er in seinen Aufzeichnungen. „Ja … so hat er es zumindest zu Protokoll gegeben.“

„Soll das heißen, der Typ hat auf die Leiche geschifft?“

„Oh mein Gott!“, stöhnte der Streifenpolizist und wurde noch blasser im Gesicht.

Thamm klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. „Nun haben Sie sich mal nicht so, okay? Sammeln Sie Ihren Kollegen ein und sperren Sie das Umfeld großräumig ab. Viele Leute werden um diese Uhrzeit hier ja eh nicht mehr rumlaufen, aber ich möchte trotzdem hier niemanden am Ufer rumspazieren sehen, verstanden? Und Ihren Jogger … na, Sie kennen doch das Verfahren, ja?“

Damit ging Thamm wieder an das Flussufer heran. So richtig hatte er sich die Leiche noch gar nicht angesehen. Er warf einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sein Kollege schon weit genug weg war, dann zog er ein Taschentuch aus der Hose und hielt es griffbereit. Für alle Fälle. Thamm atmete tief ein.

Was ihm zuerst auffiel, waren die wässrigen Augen. Wie die von einem Fisch. Sie waren blass und bläulich, als hätte das Wasser schon begonnen, sie auszuspülen. Das ganze Gesicht war aufgedunsen und verquollen, dazu mit einem feuchten Glibber überzogen, der es matt glänzen ließ. In dem halboffenen Mund hatten sich kleine Algen verfangen, Flussgräser – irgendein Grünzeug.

„So was sieht man auch nicht alle Tage“, murmelte Krause zwischen zwei Fotos, die er von dem Toten machte.

„Hättest du das gedacht, als du heute Morgen aufgestanden bist? Mann, die Woche fängt ja gut an“, versuchte Thamm zu scherzen.

„Man sollte den Tag nicht vor dem Abend loben“, gab Krause trocken zurück, zückte ein Diktiergerät und sprach mit monotoner Stimme in den Rekorder: „Wasserleiche, männlich, kleine Statur, asiatischer Herkunft, unauffällig gekleidet, Sommerjacke, keine Anzeichen von …“

„Na, der wird doch nicht von ganz allein in die Saale gesprungen sein!“, witzelte Thamm, aber er musste sich dazu schon ziemlich zwingen.

„… Verwesung“, beendete Krause ungerührt seine Notizen. Dann schaltete er das Gerät ab. „Du glaubst gar nicht, wie oft das vorkommt, Till“, erklärte er. „Die Saale ist doch tückischer, als man denkt. Die ganzen Strudel … da passiert immer wieder mal was. Aber der hier“, fuhr er fort und deutete auf die Leiche, „der ist nicht einfach so in den Fluss gefallen. Dem wurde nachgeholfen.“

„Woran siehst du das?“, fragte Thamm und beugte sich über den Toten. Er konnte keine Anzeichen für irgendeine äußere Gewalt­anwendung finden. Da lag einfach nur ein vom Wasser aufgeweichter, lebloser Kerl asiatischer Abstammung, wie Krause richtig festgestellt hatte. Sollte das eine Rolle gespielt haben …?

„Als wir die Leiche gefunden haben, lag sie mit dem Kopf nach unten im Wasser“, meinte Krause und trat einen Schritt näher an den Toten heran. „Keine Angst, ich hab wie immer alles ordentlich festgehalten, aber dann haben wir zur besseren Erstuntersuchung die ganze Sauerei mal lieber umgedreht. Wenn du mal kurz ein Stück rutschst …“ Da fuhr Krause schon mit beiden Armen unter den toten Körper, krallte sich an der Jacke fest und drehte ihn schwungvoll auf Thamm zu.

„Hey, pass doch auf!“, rief der Kommissar überrascht. Der Tote lag nun direkt vor seinen Füßen, bäuchlings und – mit eingeschlagenem Schädel. Inmitten des schwarzen, verklebten Haars klaffte eine kahle Stelle, ein faustgroßes Loch. Zuerst glaubte Thamm, in dessen Mitte den Ansatz einer Glatze auszumachen, bis er mit einem Mal die graue, saubergewaschene Masse erkannte, die zwischen den Knochenplatten hervorschimmerte.

 

„Scheiße!“, stieß Thamm von Ekel gepackt aus und erhob sich blitzschnell. Eilig fuhr er sich mit dem Taschentuch vor dem Mund. Am liebsten hätte er in diesem Augenblick auch gekotzt, doch mühevoll unterdrückte er den Würgereiz.

„Mensch Krause, du Pappsack, hättest du nicht vorher was sagen können? So ein Mist! Also … Gott!“, fluchte er, doch wie immer ließ das den Pathologen kalt.

„Du hast gefragt und ich hab’s dir gezeigt“, sagte er nur und zog sich in aller Ruhe die Gummihandschuhe aus. „Den Rest kriegen die Jungs von der Spurensicherung wohl auch ohne mich hin und, wie gesagt, die ersten Ergebnisse bekommst du, wenn ich den Sportsfreund hier auf meinem Tisch habe. Bis demnächst also.“

Thamm nickte, ohne den Blick von der Leiche abwenden zu können. Da fiel ihm noch etwas ein. „Hey Krause“, rief er ihm hinterher. „Wie sieht’s denn mit Papieren aus? Portemonnaie, Ausweis – habt ihr was gefunden?“

Krause war schon auf dem Parkweg und drauf und dran, das Feld zu räumen. „Ach ja – musst du selber mal nachschauen“, rief er dem Kommissar zu.

„Was soll denn das bitte schön heißen?“, fragte Thamm verdutzt.

„Hab ich halt vergessen“, gab Krause unbeeindruckt zurück, als wäre das das Selbstverständlichste auf der Welt. „Du kriegst das doch auch hin.“

Das konnte doch nicht wahr sein! Sollte Thamm allen Ernstes noch einmal an die Leiche ran und ihr die Hosentaschen durchwühlen? Nein, das sollte der Herr Gerichtsmediziner doch mal schön selber machen!

„Und was ist mit Fingerabdrücken, DNA-Spuren und dem ganzen Kram?“, rief Thamm ihm hinterher, doch Krause winkte nur beiläufig ab. „Ist eh alles durchs Wasser im Eimer. Da kannst du nichts mehr versauen.“

Und ging.

„Dieser verdammte …“, knurrte Thamm in sich hinein. Doch es half nichts. Krause hatte ihn sitzen lassen. Da kamen schon die zwei Typen von der Spurensicherung, um die Leiche einzutüten. Vor denen wollte der Kommissar nicht wie ein Weichei aussehen. Also kniete er sich vor den Toten – und griff ihm langsam in die aufgeweichten, kalten Taschen. Nichts. Thamm bemühte sich, die Fassung nicht zu verlieren, als er die dünne Jacke des Toten öffnete und ihm in die Innentasche fuhr. Doch auch da – nichts.

„Nehmen Sie auch nichts mit, wenn Sie abends noch mal vor die Tür gehen?“, fragte er den Kerl, der ihm am nächsten stand, doch der verzog keine Miene. Mach schon, Alter, schien sein ganzes Gesicht zu sagen, wir wollen alle Heim.

Seufzend rang sich Thamm also zu dem letzten, hässlichsten Teil seiner Suche durch: Mit einem Gefühl grenzenlosen Ekels schob er seine bloße Hand unter den Hintern des Toten, tastete nach den Gesäßtaschen, fühlte nichts zwischen seinen Fingern und dem Jeansstoff, der über den toten Körper gespannt war. Auch hier also vergebene Liebesmüh, dachte er mürrisch.

„Also gut, meine Herren“, erklärte er schließlich den beiden Kriminaltechnikern, während er sich von der Leiche erhob, „Ich bin fertig für heute. Ihr Patient.“

2. KAPITEL

Manchmal hätte er ja schon gerne gewusst, was Anja nur hatte! Nachdenklich trank Thamm seinen Morgenkaffee auf der Empore und ließ den Blick über seine Wohnung gleiten. Alle Zimmer lagen dort unten, zu einem einzigen, großen Raum verschmolzen. Weiße Tapete mit nur ganz wenigen Bildern, dunkle Möbel als geiler Kontrast, die breite Sofaecke – und sonst nur die absolute Weite des freien Raums. Keine Grünpflanze, kein Plüschteppich: Das war die absolute Luxus-Männerbude.

Und da schraubte sich Anja auf einmal an solchen Kleinlichkeiten hoch wie den Heizkosten für so eine weitläufige Wohnung, die nur vor Bad und Küche Türen hatte. Da kam sie ihm plötzlich mit Nutzfläche und verschenkter Fläche wegen der Dachschräge, dabei war die doch genau das, was der ganzen Sache den letzten Schliff gab. Aber das verstand Anja irgendwie nicht und redete von Jugendwohnung und Erwachsenwerden und war überhaupt so richtig kontra.

Manchmal konnte sie so was von spießig sein!

Dabei ist die Wohnung einfach nur saugeil, dachte Thamm trotzig und schlürfte seinen Kaffee. Hatte Anja nicht auch schon oft hier oben gestanden, auf der Brücke zwischen dem offenen Schlafzimmer und dem Büro, so weit oben über dem unteren Geschoss? Na also. Sie hatte es doch genossen, wenn er von unten hochschaute, wo sie mit frechem Blick viel zu langsam den Morgenmantel zusammenzog. Oder ihm etwas quer durch die Wohnung hinterherrief, wenn er eigentlich schon längst im Flur verschwunden war. „Für mich Körnerbrötchen! Vergiss die Milch nicht in meinem Kaffee! Komm endlich hoch!“ – Einmal hatte sie sogar ihr Höschen von oben aufs Sofa fallen lassen und genauso schelmisch gegrinst wie er, als er hochsah, woher der Fetzen Stoff geflogen kam …

Und jetzt, von heut auf morgen, reichte ihr das alles nicht mehr und sie schlief wieder in ihrer Wohnung. Thamm blickte mürrisch drein. Er mochte es nicht besonders, allein zu sein. Okay, so ein gewisser Abstand musste sein, deshalb hatten sie ja auch beide noch ihre eigene Wohnung. Das führte wieder auf das Wesentliche zurück, dagegen war nichts einzuwenden. Aber jetzt war Anja schon das ganze Wochenende weg gewesen und hatte sich auch am Montag nicht gemeldet und Thamm fragte sich, wie lange sie dieses Spielchen noch weitertreiben wollte.

Gut, in letzter Zeit hatte er sich vielleicht ein bisschen zu wenig um sie gekümmert. Aber seit Hoffmann pensioniert worden war, stand Thamm ganz allein mit dem ganzen Kram da. Und der Neue aus Magdeburg ließ auch auf sich warten – gerade jetzt, wo eine Leiche durch die Saale geschwommen war.

Für einen kurzen Moment dachte Thamm an das ausgewaschene Loch in dem Haarschopf, an das Stück Gehirn, das dazwischen grau geschimmert hatte … Allein der Gedanke daran drehte ihm noch einmal nachträglich den Magen um. Das war ja alles gar nicht wahr, versuchte er sich einzureden. Wer weiß, was er da wirklich gesehen hatte. Aber der fahle Geschmack blieb und Thamm konnte sich einfach nicht überwinden, den letzten Schluck Kaffee runterzukippen.

Eilig ging er die Treppe runter ins Bad. Und dann noch der ganze Papierkram, dachte er, als er seinen Bart im Spiegel begutachtete. Der könnte auch noch einen Tag so stehenbleiben.

Im Zahnputzbecher stand nur noch eine Bürste. Ihre hatte Anja mitgenommen – Thamm wurde einfach nicht fertig darüber, obwohl er das doch schon vor Tagen bemerkt hatte. Anja hatte sich komplett zurückgezogen: Ihr Handtuch war im Wäschekorb gelandet, auch der Waschlappen war vom Haken verschwunden. Ihr Duschbad, das Shampoo, der Rasierer – alles weg vom Wannenrand, der auf einmal richtig leer aussah. Und sogar im Badschrank fand sich nichts mehr von ihr. Nur die Zahnseide, die hatte sie aus irgendeinem Grund übersehen und vergessen.

Entnervt warf er die Schranktür wieder zu. Er musste endlich mal diesen Spürhund aus dem Kopf kriegen. Das hier war kein Tatort, verdammt, nur sein Bad, aus dem Anja ausgezogen war. Da galten andere Regeln.

Thamm beeilte sich, aus der Wohnung zu kommen. Eigentlich mochte er es ja, gemütlich in den Tag zu starten, aber seit Anja nicht mehr da war … die längsten vier Tage seines Lebens waren das gewesen! Irgendwie fühlte es sich nur noch halb so cool an, zu Hause zu sein.

Da kam ihm der neue Fall genau richtig, der konnte ihn auf andere Gedanken bringen. Scheiße für den Toten, dachte Thamm, aber ganz gut für ihn, immerhin. Er hob sein Rad von der Aufhängung im Flur und schulterte es, warf die Tür hinter sich ins Schloss und war auch schon die drei Absätze runter und im Hof.

Vor dem Haus stieß er auf Jesko. Natürlich, der war ja immer da, der Penner. Bekloppte Freundlichkeit, dachte Thamm und nickte dem Nachbarn trotzdem flüchtig zu. „Ach, der Herr Kommissar“, meinte der wie immer, ohne noch was Richtiges zu sagen, und winkte mit dem Schlüsselbund. „Schlimmer als ein IM“, grummelte Thamm vor sich hin, als er in den Kreisverkehr bog. „Möchte nur einmal aus dem Haus kommen, ohne gleich diese senile Gusche sehen zu müssen.“

Thamm radelte durch die Magistrale hoch bis hinter die Eisenbahnbrücke, wo der langweilige Teil der Stadt anfing. Gemütlicher Norden, hieß das im Maklerjargon. Wohnblöcke für Senioren, Reihenhaussiedlungen, eingemeindete Dörfer bis hoch nach Schkopau und beinah bis nach Halle ran. Und mitten dazwischen die Polizeistation. Idylle pur – kaum zu ertragen.

Thamm ging sich selbst mit seiner miesen Laune auf den Sack. Aber irgendwie kam er nicht raus aus diesem Tief. Er beeilte sich, den Parkplatz hinter sich zu bekommen, wo ihm irgendjemand immer so einen dämlichen Spruch zusteckte, von wegen: Na, ist dir der Sprit ausgegangen? Oder: Hast du kein Geld für Benzin, Kollege? Super … Ausgerechnet die fettesten Bullen mit den dicksten Schlitten rissen ihr blödes Maul am weitesten auf!

Gott, was war er nur heute schlecht drauf! Das musste doch mal aufhören. Zusammenreißen, dachte Thamm ärgerlich über sich selbst.

„Tag, Wozny“, rief er kurzangebunden in das Pförtnerzimmer rein – bloß nicht dabei stehenbleiben, der quatschte sich immer einen Zahn locker und auch jetzt war er schon drauf und dran, sich aus seinem Drehstuhl zu wuchten und an die Scheibe zu schlurfen. Also schnell mal reinlächeln und weiter.

„Was gibt’s Neues?“, fragte Thamm, als er endlich sein Büro in der ersten Etage erreicht hatte und Jette ihm geradezu entgegenflog. „Warst du beim Frisör?“

Jette verzog das Gesicht zu einem ironischen Grinsen. „Letzte Woche schon, aber schön, dass dir das auch mal auffällt. Krause hat vorhin angerufen. Er bittet dich in seine heiligen Hallen. Hat wohl erste Ergebnisse.“

„Nicht schlecht“, meinte Thamm. Normalerweise war Krause nicht gerade von der schnellen Sorte. „Hat er schon was gesagt?“

Jette schüttelte den Kopf. „Und du, hast du schon eine Meinung?“

Thamm sah seine Sekretärin nachdenklich an. Bisher hatte er sich noch überhaupt nicht so richtig Gedanken über den Toten gemacht. War ja auch noch nicht viel raus, er hatte rein gar nichts in der Hand.

„Ich wollte Krause abwarten“, murmelte Thamm, aber damit ließ sich Jette nicht abspeisen. „Ist doch schon merkwürdig, oder?“, fragte sie langsam. „Ein Mord an einem Asiaten …“

Daran hatte er am Abend zuvor auch schon gedacht, aber trotzdem konnte er sich jetzt das Stirnrunzeln nicht verkneifen. Wollte Jette etwa allen Ernstes die Ausländerkarte spielen? „Halt mal den Ball flach“, fuhr er ihr in die Parade. „Bis jetzt ist das für mich ein ganz normaler Toter, ja? Da ist zunächst erst einmal alles möglich. Und erst, wenn Krause mir Genaueres sagt, bastle ich mir meine Theorie zusammen.“

Damit wandte er sich dem Treppenhaus zu, aber weit kam er nicht.

„Vorher musst du aber noch mal in dein Büro“, rief ihm Jette hinterher und diesmal klang ihre Stimme ziemlich spöttisch. Womit wollte sie ihn jetzt schon wieder ärgern?

„Ich hab da noch ein Geschenk für dich“, lächelte sie vielsagend und verschwand kurz in ihrer Buchte, um mit einer dünnen Akte zurückzukommen, die sie dem verblüfften Thamm mit großer Geste in die Hand drückte.

„Was soll ich damit?“

„Der Neue ist da“, sagte Jette. „Und er wartet schon seit acht auf dich.“

„Gerade mal zehn Minuten. Das ist nichts gegen die anderthalb Wochen, die wir hingehalten wurden“, brummte Thamm gedankenverloren und betrachtete das Dossier. Hatten die Deppen aus Magdeburg also nun doch endlich mal Hoffmanns Stelle neu besetzt! „Stefan Wolff“ stand auf dem Klappdeckel. Thamm öffnete die Akte, besah sich flüchtig die wenigen Unterlagen, die ihm alle gleich nichtssagend vorkamen, und schlug sie auch schon wieder zu. „Und, wie ist er so?“, fragte er Jette, doch die zuckte nur mit den Schultern. „Neu“, meinte sie lächelnd.

Mit gemischten Gefühlen betrat Thamm sein Büro. Und das war er also, der Neue: Stand am Regal, auch noch auf Thamms Seite vom Zimmer und hielt einen Bilderrahmen in der Hand. Wolff also.

Insgesamt ein unscheinbarer Typ, dachte Thamm sofort, als er ihn sah. Schlank, mittelgroß, mittelblond – überhaupt war der Neue in allem ziemlich mittel: keine besonderen Merkmale, kein besonderer Kleidungsstil, dafür aber ein Gesicht wie von den Boy Bands der Neunziger. Ja, der sah irgendwie nach Neunzigern aus, auch wenn Thamm selbst nicht ganz wusste, was er eigentlich darunter verstand. Vielleicht, dass Wolff bei Frauen hoch im Kurs stand, weil er „schmuck“ und „süß“ und im Grunde vollkommen gehaltlos aussah. Ein weiches Gesicht eben, das von einem Bubi.

 

„Fühl dich ganz wie zu Hause“, murmelte Thamm ironisch.

„Entschuldigung“, sagte Wolff sofort und trat auf Thamm zu. „Frau Kleinschmidt hat gemeint, es wäre okay, wenn ich schon mal in unserem Büro warte.“

Unser Büro – in Thamms Ohren klang das wie glatter Hohn. Als hätte der Neue hier schon echte Ansprüche. Kritisch betrachtete er ihn. Wolff schien davon irritiert, streckte schließlich die Hand zum Gruß aus und ließ sie doch gleich wieder sinken, weil Thamm nicht reagierte.

„Das da ist dein Schreibtisch“, erklärte Thamm kühl und deutete auf den leer geräumten Tisch am Fenster.

Wolff warf nur einen kurzen Blick durch das Zimmer. „Ziemlich kahl hier“, befand er. Aber was hatte er sich denn vorgestellt? Plakate an den Wänden, Blumen? Hoffmann und Thamm hatten auf jeden überflüssigen Müll verzichtet, sogar der Drucker wurde nur draußen in Jettes Büro geduldet. Und jetzt kam der hierher und machte gleich einen auf Klugschiss.

Gott, dieser Wolff nervt jetzt schon mit seiner komischen Art, dachte Thamm. Der stand da so halbmotiviert im Raum und Thamm sah es ihm regelrecht an, wie er sich krampfhaft überlegte, was er als nächstes sagen wollte – ganz schlecht.

Wolff hielt noch immer das Bild in der Hand. „Ist das mein Vorgänger?“, fragte er interessiert und mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Wollte wohl irgendwie ins Gespräch kommen, ein bisschen Smalltalk machen, aber Thamm war nicht danach.

„Mein Partner“, sagte er nur kurz, und dann: „Kannst ja auch ein Bild von deinem Ex aufstellen, aber bitte auf deiner Seite vom Zimmer.“ Das hatte gesessen. Aber Wolff nickte bloß langsam, stellte das Bild zurück ins Regal und trottete zu seinem Schreibtisch. „Verstehe“, meinte er. „Aber seit wann duzen wir uns eigentlich?“

„Seit etwa fünf Minuten. Sonst noch was?“

Wolff hatte wieder dieses unverbindliche Lächeln im Gesicht, als ob er noch irgendeinen Trumpf in der Hinterhand hätte.

„Wäre nur noch zu klären, was gerade ansteht“, sagte er gelassen. „Muss ja ziemlich die Luft brennen, immerhin war ja Herr Reinhardt ganz scharf drauf, die Stelle hier gleich wieder zu besetzen.“

„Ja, auf dich haben wir gerade noch gewartet“, entfuhr es Thamm zähneknirschend. Er wusste, wie Reinhardt tickte. Das Chefchen konnte sich an beiden Händen abzählen, dass Hoffmanns Stelle sicherlich gestrichen worden wäre, wenn er nicht von vornherein ordentlich Druck gemacht hätte. Die kürzen ja überall, wo sie können. Also hatte Reinhardt ein paar Statistiken aufgebauscht und auch mal seine Kontakte genutzt – er war ja sonst nicht so engagiert, aber immerhin hatte es diesmal was genützt: Die Stelle war wieder besetzt, wenn auch mit so einem Typen wie Wolff.

Und inzwischen hatte sich ja dann doch noch etwas getan da draußen.

„Wir haben gestern Abend eine Leiche in der Saale gefunden“, sagte Thamm mehr widerwillig als wirklich redebedürftig. „Bisher haben wir noch rein gar nichts. Du kommst uns also wie gerufen.“ Die letzten Worte strotzten nur so vor Zynismus.

Wolffs Gesicht erhellte sich leicht, als wäre er froh, endlich durchstarten zu können. „Ist die Identität schon geklärt worden?“, fragte er routiniert.

„Nein. Der Tote hatte keine Papiere dabei.“

„Raubmord?“

„Halte ich für unwahrscheinlich. Zu brutale Vorgehensweise. Der Hinterkopf des Toten war vollkommen zerdeppert. Wenn das wirklich nur ein kleiner Raub gewesen sein sollte, dann müsste der Täter schon ziemlich runter sein mit der Psyche.“

„Wurden irgendwelche Indizien am Tatort gefunden?“, fragte Wolff weiter.

„Welcher Tatort?“, gab Thamm etwas bissig zurück. „Bis jetzt haben wir nur einen weit abgesperrten Fundort, sonst nichts. Wo das Opfer ermordet worden ist und wo es ins Wasser gelassen wurde, ist noch völlig offen.“

Wolff sah ihn kritisch an. „Aber das Ufer ist doch abgesucht worden, oder?“

Was sollte das jetzt werden? Wollte ihn dieser Aktenfresser aus der Direktion gleich mal eins überbraten und eine Lehreinheit in richtiger Polizeiarbeit verpassen? Aber nicht mit mir, dachte Thamm angesäuert.

„Wie stellst du dir das vor?“, meinte er betont ruhig. „Soll ich Jette auf blauen Dunst einfach mal bis nach Bayern runter schicken, damit sie an der kompletten Saale irgendwelchen Müll einsammelt und fachmännisch auswerten lässt? Nee, solche Kapazitäten haben wir nicht. Und auch nicht die Zeit dafür. Ich hoffe viel eher, dass uns die Gerichtsmedizin verraten wird, wie lange unsere Leiche im Fluss schwamm. Und dann erst können wir konkrete Uferstreifen bestimmen, wenn wir Glück haben. Und wenn deine Fragestunde jetzt rum ist, kannst du gleich mitspielen. Wir haben nämlich ein Date bei unserem Leichenschänder vom Dienst. Also kommst du?“

Wolff ließ sich das nicht zweimal sagen, schnappte sich von Hoffmanns Schreibtisch, der jetzt seiner war, ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber – wie ordentlich, dachte Thamm, der bereits in der Tür stand. „Ach, und übrigens: Willkommen im Team“, rief er dem Neuen zu. Damit trat er hinaus auf den Flur, dicht gefolgt von Kriminalkommissar Stefan Wolff.