Resilienz im Erwachsenenalter

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2 Rahmenbedingungen der Resilienz: Ursachen, Konsequenzen und Bewertungskriterien


Unter den Ursachen der Resilienz werden im Folgenden die Ereignisse verstanden, die häufig als „kritisch“ oder belastend wahrgenommen werden (Filipp & Aymanns, 2010), also die Auslöser von Bewältigungsprozessen.

Weit verbreitet haben sich Konzepte der Krisen-Episoden, wie beispielsweise die Pubertätskrise oder die Midlife Crisis, die beschreiben, wie sich typische und belastende Herausforderungen in einem bestimmten Lebensabschnitt verdichten und bewältigt werden. Kritisch erlebt werden im Erwachsenenalter beispielsweise starke Beeinträchtigungen der körperlichen Funktionstüchtigkeit, Krankheiten, finanzielle Notzeiten, Stress im Beruf oder in der Familie. Zu den Belastungen, die einen hohen Anspruch an die menschliche Resilienz stellen, gehören stark ausgeprägte Formen von Opfer- sowie Gewalterfahrungen und Kriminalitätsfurcht (Greve & Montada, 2008; Kappes et al., 2013), Verlusterfahrungen (Nolen-Hoeksema & Larson, 1999) sowie traumatische Erlebnisse und Naturkatastrophen. Sie können Phasen eines Menschenlebens zu einer großen Belastung werden lassen und die persönlichen Anpassungskompetenzen deutlich strapazieren. Einige der Krisen sind in bestimmten Lebensabschnitten wahrscheinlicher, andere treten eher unverhofft ein und nehmen einem die Chance, sich gezielt darauf vorbereiten zu können.

Einige zentrale Annahmen der Psychologie der Lebensspanne, welche die Forschung zu Resilienz im Erwachsenenalter befruchtet haben (Staudinger et al., 1995; Greve & Staudinger, 2006), werden im Folgenden zunächst aufgegriffen und zur Diskussion herangezogen. Dabei sollen einige Ursachen, die an der Entstehung von wahrgenommenen Diskrepanzen und Stress häufig beteiligt sind, genauer betrachtet werden. Dadurch soll auch deutlich werden, dass Resilienz ein zentrales Entwicklungsziel für viele darstellt, das sich aus unterschiedlichen Quellen (Krisenherden) speist, z.B. die wahrgenommenen altersbezogenen Veränderungen des eigenen körperlichen Zustands (nachlassende körperliche Funktionstüchtigkeit) und die Veränderungen in den sozialen Beziehungen (z.B. soziale Erwartungen an Menschen im mittleren und hohen Erwachsenenalter). Das Ausmaß der erlebten Belastung hängt davon ab, inwieweit eine Krise vorhersehbar war und wie man sich mit ihr auseinandersetzt. Die Erinnerung an bzw. Auseinandersetzung mit erlebten Ereignissen (d.h. historisch und autobiographisch bedeutsame Erlebnisse, Lebensrückblick und Reflexion) ist Teil der psychischen Verarbeitung von Traumata.

In bedrohlich wahrgenommenen Situationen werden psychische Prozesse (Gefühle, Erwartungen, Gedächtnisprozesse) aktiviert, die deswegen so interessant sind, weil sie vermitteln und regulieren, inwieweit eine Anpassung gelingt oder missrät und somit auch der weitere Entwicklungsverlauf beeinflusst wird. Dabei erweist sich die Unterscheidung zwischen kurzfristigen und längerfristigen Veränderungen als zentral, wobei in Fällen von Resilienz Veränderungen gemeint sind, die nicht nur punktuell auftreten, sondern für eine gewisse Zeit auf einem gewissen Niveau gehalten werden.

Schließlich sollen unterschiedliche Ebenen vorgestellt werden, auf denen Menschen auf Stress reagieren. Belastungen können sich in der Beeinträchtigung der körperlichen Funktionstüchtigkeit niederschlagen und Stresshormone freisetzen. Sie können sich aber auch auf die psychische Verfassung auswirken (vgl. Kriterien positiver Entwicklung, Brandtstädter, 2011; psychologisches Wohlbefinden, Ryff & Singer, 2003; ethische Haltungen, Waterman, 1993; Selbstwert). Es können nur einige der durchaus interessanten Konzepte und Befunde vorgestellt werden, die zeigen, dass subjektives Wohlbefinden viele Facetten hat, die zur Beurteilung von Resilienz herangezogen werden könnenist (Kriterien der Resilienz). Dadurch eröffnen sich für Individuen auch Interpretationsspielräume und Möglichkeiten einer akkommodativen Bewältigung im Sinne einer flexiblen Zielanpassung (vgl. Kap. 3).

2.1 Die Psychologie der Lebensspanne als Rahmenperspektive

Zusammenspiel von Biologie und Kultur

Die Lebensspannenpsychologie (P.B. Baltes, 1987, 2003) und verwandte Ansätze (vgl. auch Alwin, 2012) stellen wichtige Konzepte, Überlegungen und Perspektiven bereit, die auch zahlreiche Studien zu Resilienz im Erwachsenenalter und Alter inspiriert haben. Es handelt sich um einen Ansatz, der Annahmen darüber trifft, wie das Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und kulturellen Faktoren die Entwicklung im Erwachsenenalter charakterisiert und erklärt wird. In einer der letzten Publikationen des Alternsforschers Paul Baltes ist von dem biokulturellen Co-Konstruktivismus (biocultural co-constructivism) die Rede (Baltes, Röseler & Reuter-Lorenz, 2006), wonach allgemein formuliert neuronale Aktivitäten sowie körperliche Vorgänge der Anpassung und genetische Dispositionen (vgl. das Konzept der Plastizität) in ihrem wechselseitigen Austausch mit soziokulturellen Umweltbedingungen (gesellschaftliche Rahmenbedingungen, technischer und medizinischer Fortschritt, veränderte Kommunikationstechnologien, soziales Lernen) die menschliche Entwicklung gestalten und formen.

Entwicklung als Gewinn und Verlust

Eine Annahme des Lebenspannenansatzes, nämlich dass Älterwerden mit wahrgenommenen Gewinnen und Verlusten verbunden ist, mag auf den ersten Blick trivial erscheinen. Man sollte hier jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass sich im Erwachsenenalter häufig die Herausforderung stellt, nach positiven Deutungen der eigenen Lebenslage zu suchen oder die persönliche Gewinnperspektive anzupassen und zu erweitern. Was schließlich als Gewinn, Erfolg oder Verlust im Einzelfall „verbucht“ wird, ist häufig relativ und situationsabhängig und besitzt einen dehnbaren Interpretationsspielraum. Es hängt von dem Urteilshintergrund, der Fähigkeit oder Bereitschaft der Personen ab, die ihren Erlebnissen einen Sinn abgewinnen müssen, der ihnen einleuchtend oder plausibel erscheint.

Es wäre aus theoretischen und praktisch motivierten Gründen sehr wünschenswert, mehr darüber zu erfahren, wie die zugrundeliegenden Prozesse genau funktionieren, welche zu qualitativen Urteilen (subjektiven Bewertungen) wie „Gewinnen“ oder „Verlusten“ führen. Dies würde zu einem besseren Verständnis dessen beitragen, wie Menschen handeln, wenn sie in Entscheidungssituationen geraten. Diese Werturteile haben mit der Bindung und Verfolgung von Zielen zu tun (vgl. Achtziger & Gollwitzer, 2006) und motivieren unser Verhalten.

Die Steigerung der eigenen Bewältigungskompetenzen (Baltes & Baltes, 1990; Freund, 2008) ist ein zentrales Anliegen der entwicklungspsychologischen Grundlagen- und Interventionsforschung, dessen Verwirklichung mit zunehmendem Alter der Zielgruppe in vielerlei Hinsicht nicht einfacher wird. Ein fundiertes Fachwissen über altersbezogene, normative Veränderungen in kognitiven, neuronalen und biologischen Bereichen (z.B. Veränderungen der fluiden Intelligenz, neuronalen Plastizität, Morbidität im Erwachsenenalter) und über die bereits existierenden und erprobten Möglichkeiten einer Beeinflussung ist für die Planung von Interventionen und altersangemessenen gesundheitsfördernden Angeboten von entscheidender Bedeutung.

Weitere Annahmen des Lebensspannenansatzes, die wichtig für das Verständnis von Resilienz sind, beziehen sich auf die Multikausalität, die Multidimensionalität und die Multidirektionalität von Entwicklungsverläufen.

Multikausalität

So ist beispielsweise die Effektivität von Fitnesstrainings von unterschiedlichen Faktoren wie dem gesundheitlichen Status einer Person, der Motivation und Ausdauer sowie soziokulturellen Bedingungen (Qualität des aktuellen Angebots) abhängig (Multikausalität), um nur einige wesentliche zu nennen. Diese Faktoren interagieren, bündeln sich bei Individuen in spezifischen Ausprägungen (z.B. individuelle Motivations- und Anspruchsprofile) und können je nach Kombination das körperliche Durchhaltevermögen fördern oder einschränken.

Multidirektionalität

Das Zusammenspiel von Biologie und Kultur beschreibt die allgemeinen Rahmenbedingungen, welche die Form des Lebensverlaufs bestimmen und zu Multidirektionalität führen. Es entwickelt sich, wie Paul und Margret Baltes mehrfach argumentiert haben, so, dass im jüngeren Alter kulturelle Stützsysteme (z.B. Sehhilfen, Hörgeräte, Behandlungsmethoden) effizienter wirken, aber weniger benötigt werden. Im fortgeschrittenen Erwachsenenalter hingegen, wenn etwa die körperlichen und viele geistige Funktionseinbußen gravierender ausgeprägt sind, werden die Interventionen oftmals weniger effizient. Von der Art der kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen hängt es ab, wie sich einzelne Funktionsbereiche entwickeln werden. Dass also Entwicklungsverläufe in verschiedene Richtungen gehen können (Wachstum, Stabilität, Rückgang), wurde als Multidirektionalität bezeichnet.

 

Multidimensionalität

Multidimensionalität am Beispiel von Resilienz bedeutet, dass Resilienz auf verschiedenen Ebenen zum Ausdruck kommt. So kann etwa der Umgang mit einer schweren Erkrankung am Genesungsgrad (Minimierung der Beeinträchtigung durch eine Krankheit, Begrenzung der Folgeschäden) oder an der emotionalen Anpassung bzw. Akzeptanz der Krankheit angesetzt werden (das Leben nach einem Schlaganfall oder mit unheilbarem Krebs). Beide Formen der Bewältigung (vgl. auch Kap. 1.2 und Kap. 3), die Steigerung von Ressourcen, um ein Problem zu beseitigen und die flexible Anpassung an die Umstände, können zu unterschiedlichen Effekten führen. Sie eröffnen so einen Interpretationsspielraum bei der Bewertung, inwieweit ein Wunsch erfüllt wurde oder krisenbedingte Abstriche gemacht werden mussten, wenn die eigenen Bewältigungskompetenzen nicht ausreichend waren. Konzepte wie Stabilität und Veränderung (z.B. in den Bereichen des körperlichen und kognitiven Wachstums resp. Abbaus) werden bei der Interpretation der Entwicklungsverläufe über die Zeit insofern wichtig, weil unterschiedliche Entwicklungsbereiche unterschiedliche Entwicklungsverläufe hervorbringen: In einigen Bereichen entwickeln Erwachsene Expertisen (z.B. Einsichten in grundlegende Fragen des Lebens, Staudinger & Glück, 2011), auch wenn bereits kognitiv-motorische Defizite spürbar werden.

Untersuchungen zu Expertise und bereichsspezifischen Kompetenzen (Krampe & Baltes, 2003) haben gezeigt, dass es eine Vielzahl von speziellen Kompetenzen (z.B. Hobbies wie Schach spielen, Musik machen, Expertise im Maschineschreiben) gibt, die im Erwachsenenalter auf hohem Niveau ausgeführt werden können. Auch wenn die Verarbeitungsgeschwindigkeit nachlässt (Salthouse, 1996), können spezifische Kompetenzen bei entsprechender Übung auch im höheren Erwachsenenalter mobilisiert und vergleichsweise gut aufrechterhalten werden. Das heißt, dass die Zuwendung zu erfahrungsabhängigen (lernbaren, trainierbaren) Kompetenzen im Alter die körperlichen Abbauprozesse nicht (unbedingt) aufhalten bzw. ersetzen kann, aber doch im Einzelfall ein Ansporn besteht, etwas einzuüben, zu kultivieren und zu verbessern. Wenn es freilich um schnelles Lernen, um Höchstleistungen der motorischen Geschwindigkeit, der Organfunktionen und des Gedächtnisses geht, dann erreichen wenige der älteren Menschen das Niveau der jüngeren. Hier begnügt man sich in Studien schon eher damit, dass ein altersbezogener Abbau gebremst werden kann, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe, die nicht spezifisch trainiert wurde. Eine differenzierte Betrachtung der persönlichen Kompetenzen und der eigenen Defizite ermöglicht es, bestimmte Bereiche gezielt zu fördern bzw. ihren Abbau zu verhindern.

In Abbildung 2.1 sind die Konzepte der Multidimensionalität und Multidirektionalität graphisch veranschaulicht, wobei jeder der vier unterschiedlichen Verläufe einen eigenen Inhaltsbereich darstellt (vgl. Baltes & Sowarka, 1983). Die durchgezogenen Linien könnten inhaltlich für stark alterskorrelierte Bereiche wie die körperliche Reifung oder die Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit stehen, die in der Adoleszenz bzw. im frühen Erwachsenenalter den höchsten Leistungs- oder Entwicklungsstand erreichen und anschließend nach einer Plateauphase mit zunehmendem Alter deutlich abnehmen (z.B. der biologische Abbau, die Geschwindigkeit und die körperliche Kraft). Die nicht durchgezogenen Linien demonstrieren mögliche Verläufe von individuellen Kompetenzen und Fähigkeiten, die stärker von der Vorerfahrung abhängen und durch Üben beeinflusst werden können. (Vgl. die provozierende, weil ohne Einschränkung überlieferte Aussage Bachs: Er studierte die Werke unterschiedlicher Komponisten, lernte aus ihnen durch Hören, Lesen, Abschreiben und Bearbeiten, und behauptete von sich, dass er fleißig sein musste; Bach meinte, wer ebenso fleißig sei, würde es ebenso weit bringen; Forkel, 1802).


Abbildung 2.1: Unterschiedliche Verlaufsformen von spezifischen Entwicklungsprozessen (nach Baltes & Sowarka, 1983).

In dem Konzept der Interaktion wird zum Ausdruck gebracht, dass sich die Verläufe einzelner Bereiche nicht unabhängig voneinander entwickeln, sondern dass sich menschliche Entwicklung in Form von gebündelten Effekten und sich daraus ergebenden Wechselwirkungen vollzieht. Solange die in der Öffentlichkeit und auch in engeren Wissenschaftskreisen kontrovers diskutierten Fragen, z.B. was die entscheidenden Kräfte von Entwicklungs- und Anpassungsprozessen sind (Anlage- oder Umweltfaktoren, die man häufig gegenüberstellt) nicht eindeutig beantwortet werden können, wird man auf einen allgemeinen und offenen Begriff wie den der Interaktion als Wirkungskonzept schwer verzichten können.

SOK-Modell

Im Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK; Baltes & Baltes, 1990; Freund, 2008; Riediger et al., 2006; vgl. auch Boerner & Jopp, 2007 im Überblick) wird angenommen, dass Entwicklungseinbußen durch Strategien und kluges Ressourcenmanagement in bestimmten Bereichen kompensiert werden können. Es handelt sich um ein Entwicklungsmodell, das zeigt, wie eine positive Entwicklung gelingen kann, auch wenn die Bürden des Alterns deutlicher zu spüren sind. Insbesondere drei Prozesse werden hervorgehoben, die zum Erreichen der selbstgesteckten Ziele beitragen und bedrohliche Einbußen abwehren bzw. die negativen Auswirkungen auf andere Bereiche gering halten:

1 Selektion bei der Auswahl der eigenen Ziele

2 Optimierung der eigenen Kompetenzen (durch Übung)

3 Kompensation von Einbußen durch Strategien


Das SOK-Modell wurde häufig anhand des eindrucksvollen Beispiels veranschaulicht, wie es dem Pianisten Arthur Rubinstein auch im hohen Alter möglich war, öffentlich zu konzertieren. Aus seinen Interviews ging hervor: Rubinstein schränkte sein Repertoire ein (Selektion), probte das Wenige häufiger (Optimierung) und verwendete gezielt das Ritardando (eine Verlangsamung des Spiels), um einen Kontrasteffekt bei den Hörern zu erzeugen. Die folgende Passage wirkte dadurch ausreichend schnell.

Das bedeutet für das Altern, dass zwar Abstriche gemacht werden müssen, Strategien der Optimierung und Kompensation, die sich sehr ähnlich sind, aber die Aufrechterhaltung auf einer hohen Entwicklungsstufe ermöglichen können, zumindest für eine gewisse Zeit. Ein verstärktes körperliches Training kann nötig werden, die Dinge so gut und schnell zu erledigen, wie man es noch vor ein paar Jahren konnte. Die Nutzung von Sehhilfen oder eine erfolgreich durchgeführte Augenoperation können die abhanden gekommene Sehschärfe kompensieren.

In zahlreichen Studien wurden Hinweise erbracht, dass die Prozesse der Selektion, Optimierung und Kompensation an der Bewältigung von entwicklungsbedingten Einbußen beteiligt sind und zu einer Stabilisierung des Wohlbefindens beitragen (z.B. Freund, 2008; Krampe & Baltes, 2003). Allerdings zeigte sich auch, dass die Prozesse im höheren Erwachsenenalter teilweise schwächer ausgeprägt sind als im mittleren Erwachsenenalter (Freund & Baltes, 2002), was auch als Hinweis dafür angeführt werden kann, dass es im Alter möglicherweise schwerer wird, die Prozesse aufrechtzuerhalten. Was die Trainierbarkeit oder Herbeiführbarkeit der Prozesse betrifft, also ob es sich um „Strategien“ handelt, die der persönlichen Kontrolle unterliegen, verdient an dieser Stelle einer genaueren Hinterfragung.

Wie kann man die Prozesse der Selektion, Optimierung und Kompensation strategisch einsetzen, um die eigenen Ziele zu verwirklichen und der Entwicklung einen positiven Verlauf zu geben?

Es scheint wenig kontrovers, dass regelmäßiger Sport die körperliche Ausdauer und ein tägliches Instrumentalspiel die musikalischen Fertigkeiten erhöht. Dass man sich dabei kontraproduktiv anstellen und sich Verletzungen zuziehen kann, ist hier nicht gemeint. Entscheidend ist vielmehr, dass man an den eigenen Zielen festhält und diese sogar immer höher stecken kann, z.B. durch Ausdauer, Disziplin und Bescheidung in anderen Lebensbereichen. Man kann von einer Strategie sprechen, wenn man die eigenen Ressourcen und Kompetenzen klug einsetzt, um die Ziele der Sportlichkeit bzw. Musikalität aufrechtzuerhalten bzw. zu steigern.

Wie sieht es mit der Setzung der eigenen Ziele aus? Im SOK-Modell wird bei der Selektion unterschieden, ob sie verlustbasiert oder elektiv umgesetzt wird. Im ersten Fall ist es so, dass man ein Ziel aufgeben muss, weil es außer Reichweite geraten ist. Eine Lähmung kann für Sportler und Pianisten eine Karriere frühzeitig beenden und emotionale Bewältigungsreaktionen hervorrufen. Mit elektiver Selektion ist gemeint, dass klare Prioritäten gesetzt werden, auch wenn keine vorausgehende Bedrohung dies erzwungen hat. Sie bezieht sich auf die Auswahl von Zielen und ermöglicht die Konzentration der Ressourcen. Inwieweit kann man hier strategisch vorgehen? Der Versuch, sich Klarheit über die jeweiligen Ziele zu schaffen und das Setzen von Prioritäten setzen allerdings voraus, dass man bereits mehrere Ziele hat, aus denen man wählen kann und dass diese mit persönlichem Wert verbunden sind. Das selbständige, intentionale Umstrukturieren von Zielen funktioniert vor dem Hintergrund einer positiven Valenz, die ein sog. Widerfahrnismoment mit einschließt (etwas, das von außen an einen herankommt und auf bisherigen Erfahrungen beruht). Die nicht-intentionalen Prozesse bei der Zielbindung werden in Kapitel 4 noch ausführlicher besprochen, weil sie für die Entwicklung von Resilienz von entscheidender Bedeutung sind.

Plastizität

Was trägt die Lebensspannenpsychologie nun zum Verständnis von Resilienz bei? Staudinger et al., (1995) sind der spannenden und schwierigen Frage nachgegangen, was Resilienz im Erwachsenenalter ausmacht. Ein wichtiges aber bislang leider noch nicht befriedigend enträtseltes Konzept für Resilienz ist das der Plastizität, die Fähigkeit der Formbarkeit eines Organismus, sein Potential, neue Strukturen einzunehmen.

Plastizität bezieht sich auf die Eigenschaft von Organismen, formbar zu sein und in der neuen Form für eine gewisse Zeit verharren zu können. Es handelt sich um eine Grundvoraussetzung eines lebendigen, entwickelbaren Organismus, adaptiv auf Umwelteinflüsse reagieren zu können und Zustände des Ungleichgewichts auszugleichen. Plastizität bedeutet die Anpassungsfähigkeit oder Veränderbarkeit eines Organismus, eine flexible Dehnbarkeit der adaptiven Mechanismen auf unterschiedlichen Ebenen. Dies bezieht sich auf neuronale und kognitive Prozesse (Lernen und Informationsverarbeitung), die so weit intakt und eben plastisch sein müssen, dass sich ein Organismus auch weiterhin entwickeln kann. Kurz: Der Organismus muss noch am Leben sein und eine gewisse Stabilität einnehmen können, damit er sich entwickeln kann. Resilienz wird als Form von Plastizität aufgefasst. Dabei ist auch eine gewisse Dauerhaftigkeit der Veränderung oder Modifizierbarkeit von Verhaltensmustern impliziert; punktuelle Reaktionstendenzen werden nicht als Entwicklung bezeichnet.

Testing-the-Limits-Studien

 

Die Variationsbreite, in der sich der Umgang mit den Herausforderungen und die Anpassung an das Notwendige gestalten, nimmt mitunter ein beachtliches Ausmaß an; manchmal kommt es sogar zu einer Steigerung der eigenen Leistung. Plastizität unterliegt allerdings individuellen, biologischen und soziokulturellen Einflüssen (vgl. Lövdén et al., 2010) und die Dehnbarkeit der menschlichen Fähigkeiten hat ihre Grenzen.


In Studien zu Testing-the-Limits wurde demonstriert, dass nach mehreren Trainingsstunden irgendwann eine obere Schranke nicht mehr überschritten wird. Die Frage war, inwieweit altersbezogene kognitive Plastizitätsgrenzen durch Trainings erreicht werden können, indem man gezielte Strategien in mehreren Trainingseinheiten anzuwenden lernt. Wenn Merkstrategien systematisch eingeübt werden und anschließend ein Gedächtnistest durchgeführt wird, so zeigen es die Befunde von Kliegl et al., (1989), stagnieren die Erinnerungsleistungen ab einem gewissen Punkt und es macht keinen bemerkenswerten Unterschied mehr, ob man 20 oder 30 Trainingseinheiten durchlaufen hat.

Plastizität ist ein Schlüsselkonzept für das Verständnis von Resilienz: Eine hinreichendes Ausmaß an Veränderbarkeit muss vorausgesetzt werden, damit eine positive Entwicklung erst möglich werden kann. Plastizität kann im günstigen Fall Wachstum oder Steigerung einer Fähigkeit bedeuten, aber auch die Fähigkeit, mit Verlusten neu umzugehen; sie zeigt, dass die Bewältigungsressourcen noch intakt sind. Es hat sich eingebürgert, die Bewältigungsprozesse neutral zu betrachten, weil die gleichen Prozesse in einer Situation vorteilhafte, in einer anderen aber negative Konsequenzen nach sich ziehen können. Will man aber beurteilen, inwieweit Bewältigung gelungen ist, braucht man geeignete Kriterien und Gütemaßstäbe.

Entwicklungseinflüsse

In Zeiten erhöhter Belastung (Episoden des Ungleichgewichts, Stress; vgl. Kap. 1.2) wirken normativ-lebenszyklische, normativ-historische oder nicht-normative Einflüsse auf die menschliche Entwicklung ein und kanalisieren die individuelle Anpassungsfähigkeit (Baltes, et al., 2006).

Normativ-lebenszyklische Veränderungen weisen einen Zusammenhang mit dem Lebensalter auf. Dies zeigt sich beispielsweise in der Veränderung der wahrgenommenen Gewinn-Verlust-Bilanz, die im höheren Alter ungünstiger ausfällt.

Während in der Kindheit und im Jugendalter die Entwicklung der körperlichen und kognitiven Funktionen vielfach als Wachstum erscheint, rücken im Zuge des Älterwerdens der Erhalt des Status quo und die Minimierung der Verluste, d.h. eine Schadensbegrenzung, vermehrt in den Vordergrund (Baltes et al., 2006; Heckhausen et al., 1989).

Zu den normativ-historischen Einflüssen zählen der gesellschaftliche Wandel und die Modernisierung, Wirtschaftskrisen und auch Krieg oder Naturkatastrophen. Diese Einflüsse betreffen viele Menschen, die im Wirkungsfeld einer geschichtlichen Periode leben.

Die Auswirkungen kriegsbedingter Einschränkungen und der „eingeprägte“ Verzicht auf gewisse Lebensstandards mögen späteren Generationen vielleicht unverständlich erscheinen, aber doch die Werte und Ansprüche einer älteren Generation entscheidend geprägt haben. Erfahrungen, die einem die Geschichte aufgedrängt hat, werden individuell erlebt und bewältigt, aber von vielen Menschen geteilt und nicht selten kontrovers interpretiert.

Nicht-normative Einflüsse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eher zufällig eintreten und einen idiographischen Charakter haben (vgl. Kritische Lebensereignisse, individuelle Lebenskrisen). Sie erzeugen Stadien des Ungleichgewichts und gehen häufig mit psychischen und körperlichen Erkrankungen einher (vgl. Filipp, 2007; Filipp & Aymanns, 2010). Nicht-normative Ereignisse setzen einer direkten, problemorientierten Bewältigung insofern Grenzen, als sie schwer vorhersehbar sind und sich einer direkten Prävention häufig entziehen. Sie können einzelnen Personen z.B. bei der Verwicklung in einen Verkehrsunfall widerfahren. Sofern sie ganze Menschengruppen betreffen (z.B. die Auswirkungen von Epidemien oder Reaktorkatastrophen), ist der Übergang zu dem normativ-historischen Einflusssystem fließend.

Wir können uns zunächst auf die bisher erwähnten Annahmen und Thesen des Lebensspannenansatzes beschränken, die einen deutlichen Bezug zur Entwicklung von Resilienz aufweisen. Viele spannende Konzepte und weitere Annahmen konnten nicht angesprochen werden, obwohl sie auch zu einer fruchtbaren Diskussion und Erforschung des Resilienzkonzepts beitragen könnten.


Wer sich für die Forschungsanliegen und Themen der Lebensspannenpsychologie noch mehr interessiert, sei auf diesen Link zu einer kurzen Einführung in den theoretischen Hintergrund des Lebensspannenansatzes mit anschaulichen Beispielen für Multidimensionalität, Multidirektionalität und weitere Annahmen verwiesen: http://www.youtube.com/watch?v=h7wM55HjKEk

Im Folgenden soll nun genauer beleuchtet werden, ob es im mittleren und höheren Erwachsenenalter typische Krisen und Aufgaben zu bewältigen gibt, auf die man sich frühzeitig einstellen und so möglicherweise vorbereiten kann.

2.2 Herausforderungen und Krisen im Erwachsenenalter

Gibt es die Midlife Crisis?

Unter der „Midlife Crisis“ können sich laut einer größeren Umfrage sehr viele Menschen etwas vorstellen (Wethington, 2000). Es handelt sich um eine weit verbreitete Vorstellung von altersbezogenen Veränderungen und Umbrüchen in der Lebensmitte, die als Krise erlebt werden. Was hat man in der Lebensmitte zu erwarten bzw. zu befürchten? Gibt es typische Entwicklungsaufgaben?

Nach Levinsons (1986) stufentheoretischem Modell sind es die Übergänge von einer in die nächste Lebensperiode, welche mit vielen Umbrüchen und Turbulenzen verbunden sind. Der Übergang vom jungen ins mittlere Erwachsenenalter liegt nach diesem Modell im Altersbereich von 40 bis 45 Jahren. Es wurde hinterfragt, inwieweit dieser Altersabschnitt mit normativen Veränderungen einhergeht, die so gravierend sind, dass man von einer Krise sprechen sollte, die sich zudem noch qualitativ von anderen Krisen unterscheidet.


Freund und Ritter (2009) haben das Konzept der Midlife Crisis einer Kritik unterzogen und bringen überzeugende Einwände auf konzeptueller und empirischer Ebene vor, was den normativ-krisenhaften Charakter überdenkenswert erscheinen lässt. Zunächst einmal gibt es Unschärfen, was das genaue Zeitfenster des mittleren Lebensabschnittes betrifft, in dem die sog. Krise anzusiedeln ist. Oft wird in der Literatur der Abschnitt zwischen dem 40. und 60. Lebensjahr angegeben. Die Meinungen gehen hier allerdings weit auseinander. Freund und Ritter haben in der Schweiz eine querschnittliche Studie durchgeführt und eine Stichprobe von 474 altersheterogenen Erwachsenen danach gefragt, wann das mittlere Erwachsenenalter ihrer Ansicht nach beginnt und wann es endet. Im Durchschnitt wurde der Beginn bei 35 Jahren und das Ende bei 53 Jahren definiertangesetzt, wobei es auf beiden Seiten deutliche Abweichungen gab (7.5 Jahre betrug die durchschnittliche Abweichung von der Untergrenze, 9.5 Jahre von der Obergrenze). Die eingeschätzten Grenzen waren dabei nicht vom Alter der Befragten abhängig. Eine größere Studie von Wethington (2000) ergab, dass mehr als 90% der Befragten eine Definition oder Assoziation dazu parat hatten, was man unter dem Begriff der „Midlife Crisis“ versteht. 26% aller Befragten (724 Personen im Alter von 28-78 Jahren bildeten die Gesamtstichprobe) gaben an, eine Midlife Crisis erlebt zu haben, bei den 50-Jährigen und Älteren betrug der Anteil 35%. Die Definitionen fielen insgesamt eher unterschiedlich aus und verteilten sich auf mehrere Kategorien. Ein vergleichsweise hoher Anteil verband mit der Midlife Crisis ein gesteigertes Bewusstsein für das Älterwerden und die verrinnende Zeit (ca. 20%), eine Zeit des Lebensrückblicks und der Veränderung von Evaluationsprozessen (ca. 13%) oder der Lebenshaltung bzw. -einstellung (14%), gefolgt von selteneren Nennungen. Das Alter, im dem die besagte Krise erlebt wurde, variierte interindividuell sehr stark – das jüngste wurde auf 17 Jahre datiert, das älteste auf 75 Jahre, und die große Streubreite ist auch nicht verwunderlich angesichts der unterschiedlichen Vorstellungen, die die befragten Amerikaner mit dem Konzept verbanden.

Insgesamt gibt es wenig Evidenz dafür, dass es im mittleren Erwachsenenalter eine besondere Qualität gravierender Krisen gibt, welche die anderer Altersgruppen an psychischen Anpassungsproblemen übertrifft. Gibt man die Forderung der Normativität auf, dass es eine Krisenverdichtung für die meisten Erwachsenen der mittleren Altersgruppe gibt, verliert das Konzept seinen generellen Anspruch. Freund und Ritter (2009) ziehen das Resümee, dass das Konzept der Midlife Crisis in einer schwächeren Lesart durchaus sehr nützlich für das Verständnis von Bewältigungsprozessen im Erwachsenenalter ist. Man kann das mittlere Erwachsenenalter als ein Zeitfenster betrachten, in welchem altersbezogene Aufgaben und Veränderungen hervortreten (z.B. Verantwortung für die eigenen Kinder und die alternden Eltern, Nachlassen des körperlichen Durchhaltevermögens, Kinder verlassen das Elternhaus). Diese Veränderungen lösen auch Bilanzierungs- und Lebensrückblicksprozesse aus und man sollte diese Herausforderungen nicht übersehen, weil sie wichtig für das Verständnis von Entwicklung im Erwachsenenalter sind. Der Verzicht auf den Krisenbegriff nimmt dem mittleren Lebensabschnitt die damit verbundene generelle Dramatik.

Bereits etablierte Konzepte wie die altersgebundenen Entwicklungsaufgaben (Havighurst, 1948) haben zwar auch konzeptuelle Schwierigkeiten, bezeichnen das Phänomen aber vielleicht angemessener. Auch der Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung hat der Lebensmitte eine gewisse Bedeutung beigemessen, die sich durch physische Abbauprozesse bemerkbar macht und gekennzeichnet ist von einer geistigen Neuorientierung und Wertverschiebung. Das in der Alltagssprache als Torschlusspanik bezeichnete Gefühl ist ebenfalls ein Kennzeichen der Übergangszeit in der Lebensmitte: Versäumnisse, von denen man glaubt, sie nicht nachholen zu können (Pongratz, 1983, S. 364). Wenn sich Entwicklungsziele nicht so verwirklicht haben, wie man es sich gewünscht hat, können Zustände der Bilanzkrise oder Schuldgefühle dominieren und von psychischen Störungen begleitet sein.

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