Die Anerkennung des Verletzbaren

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #110
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3.1.3 Ausblick auf das Neue Testament

Für das Urchristentum ist seine Beheimatung im Judentum vollkommen selbstverständlich, was sich u. a. daran zeigt, dass die Welt hier wie dort als Schöpfung des einen Gottes verstanden wird. Als Novum wird im jungen Christentum die ganze Geschichte von der Schöpfung bis zur Erhöhung Christi als Kontinuität des Wirkens Gottes aufgefasst.185 Dabei beginnt die Entfaltung der Lehre von der Gottebenbildlichkeit in der Auseinandersetzung mit der Gnosis.186 Das eikon Theologumenon nehmen im Neuen Testament allerdings nur die Paulinen und Deuteropaulinen auf, wobei sie neue Wege gehen, indem sie Christus als das Bild Gottes (εἰκὼν τοῦ θεοῦ, eikon tou theou) bestimmen (2 Kor 4,4; Kol 1,15). In der Konsequenz lösen sie außerdem die nun direkt auf das Bild Christus bezogene Abbildhaftigkeit von der Erstschöpfung aller Menschen und behalten sie stattdessen – das Abbildsein zum Abbildwerden dynamisierend und eschatologisierend – den Christen vor (Röm 8,29; 2 Kor 3,18; 1 Kor 15,49). Darüber hinaus kann auch der Mensch Abbild Gottes genannt werden (Jak 3,9 hier allerdings nicht eikon sondern homoiosis).

Verbunden mit der Christusbezogenheit kommen im Neuen Testament, genauer in den (Deutero)Paulinen Spekulationen darüber auf, ob der Mensch durch den Sündenfall generell der Gottebenbildlichkeit verlustig gegangen ist. Davon wissen weder das Alte Testament noch die rabbinische Tradition. Wohl wird von einem Verlust an „Herrlichkeit“ (דובכ, kabod / δόξα, doxa) durch den Fall Adams ausgegangen. Daneben existieren außerdem Überlegungen darüber, ob die Ebenbildlichkeit des Menschen durch den Sündenfall gemindert ist. Das Bewahren und Verlieren der Ebenbildlichkeit ist also eine Frage persönlicher sittlicher Lebensführung und der Erfüllung des Gesetzes.187

3.2 Schritte der Dissoziation bei den Kirchenvätern

Für die christliche Anthropologie ist der Mensch in seinem Personsein und die Sicht des Menschen im sozialen Kontext von entscheidender Bedeutung. Anthropologie und Ekklesiologie stehen also in einer Wechselbeziehung zueinander. Das verdeutlichte auch die frühchristliche Theologie, indem sie die Gottebenbildlichkeit des Menschen niemals nur als eine bloße Widerspiegelung verstand, sondern den Menschen immer auch als von Gott angesprochenes, freies Individuum betrachtete. Dies spiegelt sich vor allem auch in der Herausbildung einer trinitarischen Theologie wieder, wonach die göttliche Natur nicht in sich abgeschlossen existiert, sondern sich als Vater, Sohn und Geist manifestiert. Hinzu kommt die Zweinaturenlehre der frühen Christologie. Christus ist wahrer Mensch und wahrer Gott, d. h. in seiner einen Person wird die Grenze dessen überschritten, was natürlicherweise in der Kategorie Person gefasst ist. Aus diesen Elementen entsteht ein Bild vom Menschen, wonach dieser eine Einheit aus zwei Teilen, Leib und Seele, darstellt, dem Gott als Sinn und Ziel die Gottebenbildlichkeit gesetzt hat.188

Die Wurzeln dieses anthropologischen Ansatzes liegen zunächst in der biblischen Tradition der Schöpfungserzählung. Gen 1,26f. als alttestamentliche Grundlage der neutestamentlichen und frühchristlichen Aussagen über die Gottebenbildlichkeit und somit grundsätzliche Gleichheit aller Menschen wurde in der frühchristlichen Verkündigung wie kaum eine andere Bibelstelle herangezogen.189 Ebenso spielte Gen 2,17 eine Rolle, wonach Gott den Menschen aus Staub formte und ihm seinen Geist in die menschliche Nase blies, um ihn zu einem lebendigen Wesen zu machen. Darüber hinaus musste die apostolische Tradition bewahrt werden, wonach die Menschheit in Adam gefallen war und in Christus, dem neuen Adam wiederhergestellt wurde. Nicht zu unterschätzen ist der Einfluss der hellenistischen Kultur auf die Ausprägung eines christlichen Verständnisses von der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Die – wie man nach heutigen Forschungsstand formulieren darf – Übersetzungsfehler der LXX und der Vulgata trugen dazu bei, dass eine jeweils eigene Interpretation der eigentlich synonym verwandten Begriff zaelaem und demut für nötig gehalten wurde, da geklärt werden musste, welchen Begriffsinhalt das Wort Bild und welchen das Wort Ähnlichkeit hat. Dadurch kam es zu einer Deutung des Menschen, als einem in der Spannung zwischen ontologischem Bild-Charakter (eikon) und moralischpersönlichem Ähnlich-Sein (homoiosis) lebenden Wesen.190

Bevor nun näher auf den Vorgang der Dissoziation der Begriffe Gottebenbildlichkeit und Gottähnlichkeit eingegangen werden kann, muss noch ein kurzer Blick auf das frühchristliche und frühkirchliche Verständnis der Alten Testaments und dessen Auslegungsgeschichte in den ersten Jahrhunderten der Kirche geworfen werden. Zunächst ist festzuhalten, dass mit dem Geschichtsverständnis des frühen Christentums die Typologie als Auslegungsmethode des Alten Testaments eng verbunden ist. Bereits Paulus hatte in Gal 4,34 dem Begriff der Allegorese die neue Bedeutung der Typologie gegeben. Voraussetzung hierfür ist ein Verständnis der Herrschaft Gottes über alles, was man in der Geschichte vorfindet, über Personen, Institutionen und Gegenstände. Sowohl Typen als auch Antitypen sind diesem Verständnis zufolge von Gott selbst in die Geschichte eingeordnet. Anfänge der Genesisauslegung und somit auch der Rede von der Gottebenbildlichkeit des Menschen finden sich bereits im Alten Testament selbst. Auslegungen, die dann durchaus auch für das neutestamentliche Verständnis prägend werden. Im Neuen Testament gilt die Autorität des Alten unbestritten weiter. Dennoch sollte über die Typologie bewiesen werden, dass Christus im göttlichen Plan schon immer vorgesehen war. Darüber hinaus erwies sie sich als nützlich für die frühchristliche Apologetik und Polemik. Dieser Gebrauch des Alten Testaments und besonders der Genesis war von größter Bedeutung für die Ausbreitung des Christentums und blieb der maßgebende Gebrauch über mehr als zwei Jahrhunderte.191

3.2.1 Philo von Alexandrien

Schon der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo verfasste einen allegorischen Kommentar zur Genesis, in welchem er durch die Methode der Allegorese eine Versöhnung zwischen dem Alten Testament und der Philosophie versuchte.192 In Bezug auf die Schöpfung des Menschen unterschied er klar zwischen dem nach dem Bild Gottes geschaffenen und dem aus Erde geformten Menschen. Er folgerte, dass die eikon in Gen 1 der hypostasierte göttliche Logos sei und auf die menschliche Seele führenden Nous, die Vernunft verweise. Dieser These folgten bis heute eine große Anzahl von christlichen Auslegern.193 In der Patristik eignet der Aussage von der Ebenbildlichkeit höchste theologische Bedeutung. Hauptsächlich auf die Geistnatur des Menschen zielend, seit Irenäus unter unsachgemäßer Unterscheidung der Lexeme imago und similitudo, geriet die alttestamentliche Wendung in die christlichtheologische Spekulation anthropologischer wie soteriologischer Fragerichtungen: Diskussion um natürliche und übernatürliche Ebenbildlichkeit sowie um Schwächung bzw. Verlust der Gottebenbildlichkeit infolge der Erbsünde.194

3.2.2 Irenaus von Lyon

Irenäus zitiert als erster sowohl das Neue als auch das Alte Testament ausdrücklich als Schrift, wobei insbesondere das Buch Genesis bei ihm eine wichtige Rolle spielt und die Genesiszitate bei ihm, nach denen aus Jesaja und den Psalmen, an dritter Stelle stehen. Diese Gewichtung lässt sich vor dem Hintergrund verstehen, dass Irenäus in seiner Auseinandersetzung mit der Gnosis die christliche Schöpfungslehre gegen die gnostisch kosmologischen Spekulationen in Anschlag bringen möchte. Er betont darüber hinaus antignostisch den Gedanken der Einheit, der sich auf drei Ebenen entfaltet: die Einheit Gottes, des Schöpfers und Vaters Jesu Christi; die Einheit Christi, des Gottmenschen; die Einheit des göttlichen Heilsplanes.195

Insbesondere die Einheit Gottes als Schöpfer und Erlöser ist bei Irenäus mit der Einheit von Schöpfung und Erlösung verbunden. Diesen Gedanken entfaltet er beispielsweise in seinen Überlegungen zur Einheit Adams mit der gesamten Menschheit und zur Menschwerdung Christi als verwirklichter imago et similitudo dei.196 Theologisch äußerst bedeutsam ist seine Erklärung des „kat‘ eikona kai homoiosin“. Irenäus möchte diese beiden Begriffe, obwohl er sie unterscheidet, in keinem Fall trennen. Seiner Auffassung zufolge ist der Mensch ohne beide zusammen gar kein Mensch, weswegen er von einem „esse secundum imaginem et similitudinem Dei“ oder mit Paulus von eikon für beide Begriffe spricht.197

Um diese Einheit darzustellen entwarf Irenäus von Lyon auf Grundlage der differenzierenden Übersetzung des hebräischen Textes von Gen 1,26f. als erster kirchlicher Theologe eine systematische Bildtheologie. Unter eikon verstand er die natürliche und unter homoiosis die übernatürliche Gottebenbildlichkeit des Menschen, womit er nicht die Trennung zwischen Natur und Übernatur bezweckte, aber deren Grundstein legte.198 Nach dem Sündenfall blieb dem Menschen nur der Status der imago, d. h. des Vernunft- und Willensbesitzes. Erst durch die heilsgeschichtliche Rekapitulation erhält er seine verlorene similitudo zurück. Die Bildlehre Irenäus‘ begründete also die kategoriale Unterscheidung von Bild und Ähnlichkeit, wobei man seine Theologie als Reaktion auf die Gnostiker begreifen muss, welche nie bereit waren, die Berichte im Buch Genesis einfach zu bejahen.199

So hatte Philo sie bspw. im Licht seiner Kenntnis von Platons Timaios gelesen, weswegen er den Schöpfungsbericht als allegorische Deutung auf den präexistenten Christus hin interpretierte. Darüber hinaus konnten die Gnostiker, ausgehend von einem strikten Dualismus, die Vorstellung eines Gottes, der die Welt wirklich erschaffen hat, Verantwortung für sie trägt und sie für gut erachtet nicht akzeptieren. Vielmehr besteht das gemeinsame Grundmuster speziell gnostischer Schöpfungsmythen, wie sie sich bspw. in der Nag Hammadi-Sammlung finden darin, Gott von der Welt zu distanzieren.200 Allerdings stellte die eikon auch für die Gnosis einen Schlüsselbegriff dar: das göttliche Urprinzip alles Seienden stellt sich selber im himmlischen Urmenschen dar. Dieser ist aber nicht der geschaffene, irdische Mensch, sondern eine mythische Gestalt, in der die Gottheit bildhaft in Erscheinung tritt. Gott selber ist in ihm anwesend, aber eben in der Weise der Abbildung. Die Gnostiker verstanden Gen 1,26f. so, dass hier über die Entstehung dieses Urmenschen berichtet wird. Der irdische Mensch ist Abbild dieses Anthropos, des Urmenschen. Ebenbildlichkeit lässt sich deswegen in der Gnosis auf den Nenner bringen, dem Urmenschen gleichgestaltet zu werden. Natürlich kann im gnostischen Verständnis nur der Geist, niemals aber der Leib Gleichgestaltung erfahren. Durch diese Gleichgestaltung kommt der Mensch zur Erkenntnis, zur Gnosis und somit auch zur Erlösung. Problematisch stellte sich für Irenäus von Lyon die Tatsache dar, dass die Gnosis Gen 1,26ff. offenbar vollkommen ungeschichtlich auffasste, da es sich in der gnostischen Interpretation eben um einen Mythos handelt. Nicht der irdische, geschichtliche Mensch ist Bild Gottes, sondern der mythische Urmensch, der Anthropos. Erlösung findet der Mensch nicht in der geschichtlichen Verwirklichung seiner Gottebenbildlichkeit, sondern in der Gleichgestaltung mit dem mythischen Urmenschen.201

 

Während die Gnosis Gen 1,26 also spiritualistisch und ungeschichtlich auffasst, will die Bildtheologie des Irenäus die geschichtliche Struktur der Offenbarung nachzeichnen. In die Spanne von Anfang bis Ende der Schöpfung ist das Werden des Menschen als Bild Gottes eingepasst.202 „Anfang und Ende stehen somit in einer gewissen Entsprechung Kongruenz. Was am Anfang war, das wird nämlich am Ende wiederhergestellt. Der im Paradies erschaffene erste Mensch wird am Ende neu geschaffen; was die Sünde zerstörte wird durch den Menschgewordenen zurückerstattet. […] Christus hat das Heil der Menschen endgültig ‚sichergestellt‘. […] Für die Anthropologie resultiert daraus: Der ‚neue‘ Mensch ist die Wiederherstellung des ‚alten‘ – zugleich aber ist er mehr: nämlich der durch die Menschwerdung ‚gesicherte‘ neue Mensch.“203

Dies bedeutet allerdings gleichzeitig, dass der Mensch keinen wirklichen Beitrag zum Fortgang der Heilsgeschichte leisten kann. Alle Geschichte, alle geschichtliche Entwicklung steht im Rahmen des göttlichen Heilsplanes. Freiheit des Menschen bedeutet Gehorsam gegenüber Gott. Aus dieser Zielstrebigkeit der irenäischen Geschichtstheologie ergibt sich dann auch ihre Christozentrik. Christus ist der Brennpunkt der Geschichte, die ganze Schöpfung, ihre Gesamtheit konzentriert sich auf ihn, strebt auf ihn hin. Vom einzelnen gottebenbildlichen Geschöpf kann hier nicht mehr die Rede sein, da sie von der Rede über das gottebenbildliche Menschengeschlecht verdeckt wird.

Somit trennen imago und similitudo für Irenäus in diesem Rahmen nicht Natur und Übernatur, sondern stellen zwei zeitlich voneinander getrennte Momente im Werden der Gottebenbildlichkeit des Menschen dar: Irenäus spricht von der „ersten Schöpfung“, um diese von der „Gemeinschaft mit Gott“ abheben zu können, um den Urstand, in welchem der Mensch imago und similitudo besaß vom Endstand unterscheiden zu können, in dem die durch den Sündenfall verlorene similitudo zurückerstattet wurde.204 Irenäus will also den Fall völlig in den Heilsplan einbeziehen und versteht auch die Störung des Heils- bzw. Weltplans als von Gott einberechnet. Die ganze Heilsgeschichte stellt sich damit als Weg vom Bild zur Ähnlichkeit dar, als Weg vom durch den Sündenfall in seiner Verwirklichung gehinderten Schöpfungsziel zur Vollendung in Christus.205

3.2.3 Tertullian

Auch Tertullian geht es immer um die Einheit der beiden Testamente. Darüber hinaus sieht er seinen Auftrag darin, die Gutheit der Schöpfung gegen Marcion zu verteidigen und zu beweisen. Tertullian sieht insbesondere in der Schöpfung des Menschen einen Akt besonderer Güte Gottes, da die „bonitas“ hier tätig ist, „non imperali verbo, sed familiari manu“206. Der Mensch wird von Gott ganz persönlich und unmittelbar erschaffen.

Dieser Beweis a primordio, d. h. davon ausgehend, dass die Berichte vom Anfang ein besonderes Gewicht haben, dient Tertullian also einerseits dazu, die Gutheit des Schöpfers und der Schöpfung aufzuzeigen. Andererseits geht es ihm aber auch darum die jüdisch-christliche Lehre von der Einheit des Menschen gegen die Gnosis zu verteidigen. Die Genesis – so Tertullians Auffassung – bestätigt sowohl, dass die Seele von Gott geschaffen ist und deswegen vernünftig sein muss, weil Gott vernünftig ist, als auch, dass das Fleisch göttlicher Herkunft ist, weswegen eine leibliche Auferstehung des Menschen erforderlich ist.207

Darüber hinaus sieht Tertullian Christus als die Imago Dei an, da Gott an Christus denkt, als er den Menschen schafft, da er weiß, dass Christus eines Tages Mensch werden wird. Ein Hinweis hierauf ist in der Formulierung „ad imaginem dei“ gegeben, da Gott sonst „ad suam imaginem“ gesagt hätte.208

Der Entwurf Tertullians zur Ebenbildlichkeit kann in gewissem Sinne als existenziell-konkrete Ergänzung der irenäischen Bildtheologie bezeichnet werden. Er fügt dem Verständnis vom Menschen als ausgezeichnetem Geschöpf Gottes und der Geschichte als Schritt vom Urstand zum Endstand die Perspektive des einzelnen Menschen, die Perspektive der existenziellen Situation des gottebenbildlichen Menschen hinzu. Tertullian versteht Geschichte und darin sich realisierende Gottebenbildlichkeit auch als Heils- und Unheilszeit des Einzelnen. Dabei argumentiert Tertullian in zwei Aussagenreihen. In der ersten greift er die irenäische Unterscheidung von Bild und Ähnlichkeit auf, womit auch er die zwei Momente des Anfangs und des Endes auseinanderhalten möchte. In der zweiten öffnet er sich in starkem Maße der stoischen Anthropologie und sieht mit dieser die Willensfreiheit als das den Menschen auszeichnende Spezifikum an. Die Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt für Tertullian im „Kraftfeld des freien Willens“. Dabei setzt er die Begriffe Bild und Ähnlichkeit zusammen und spricht von der „Ganzheit des Bildes und der Ähnlichkeit“ als Fundament menschlichen Handelns. Freiheit ist die Seinsform des Menschen als Bild und Ähnlichkeit Gottes. Somit ist Tertullian der erste Theologe, der die Gottebenbildlichkeit als Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen fasst.209

3.3 Folge für das Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen: imago und similitudo. Spekulative Weiterentwicklung der Gottebenbildlichkeitsaussage

Die Art und Weise, wie die frühchristlichen Autoren den Begriff der Gottebenbildlichkeit auffassten war stark von den jüdischen und griechischen Quellen beeinflusst, auf die sie sich stützten. Die hebräische Sichtweise des Menschen hebt den Menschen als jemanden hervor, der von Gott zu Taten des Gehorsams aus Liebe aufgefordert ist. Die griechische Anthropologie hingegen, insbesondere die platonische Tradition, konzentrierte sich auf die menschliche Seele als Trägerin eines Bildes (eikon) der Gottheit. Hieraus resultierte eine Trennung zwischen Körper und Seele, wobei die Seele als wahre Person und deren Unsterblichkeit als das eigentliche menschliche Schicksal angesehen wurde, eine Auffassung, die der traditionellen jüdischen Anthropologie vollkommen fremd ist.210 Besonders deutlich zeigt sich die Aporie der neuplatonischen Auslegung der Gottebenbildlichkeit bei Augustinus, einer Interpretation, von der sich die christliche Theologie nie mehr ganz befreien konnte.

Augustinus greift in seiner Bildtheologie keines der vorliegenden Konzepte auf. Auch konstruiert er sie nicht auf einer Exegese von Gen 1,26f., sondern auf dem Gedanken, dass in den drei Grundkräften des menschlichen Geistes - Gedächtnis, Verstand und Wille - eine Nachbildung der Trinität zu sehen ist. Damit hält er die Unterscheidung von imago und similitudo nicht aufrecht, sondern trennt sie nur noch in einem formallogischen Sinn: Similitudo bezeichnet eine wie auch immer geartete Ähnlichkeit zu einem abgebildeten Urbild, wohingegen die imago weiter reicht, umfassender ist, da sie eine Ursprungsbeziehung zwischen Abbild und Urbild einschließt, was bei der similitudo nicht der Fall sein muss. Dennoch kennt auch Augustinus die Unterscheidung zwischen einer schöpfungsmäßigen Gottebenbildlichkeit und einer gnadenhaften. Diese gnadenhafte oder übernatürliche Ebenbildlichkeit bezeichnet er häufig – wenn auch nicht konsequent – als similitudo.211

Die Rückerstattung der imago, also der aus der Schöpfung herrührenden Gottebenbildlichkeit, ist für Augustinus ein Werk des Heiligen Geistes und besteht darin, dass der Mensch fähig ist Gott zu fassen, d. h. durch Gott ansprechbar zu sein. Wer von Gott ansprechbar ist, der lebt als Imago Dei, als Bild nach dem Bilde, da das eigentliche Bild Gottes nur der Sohn sein kann. Der Mensch besitzt Gottebenbildlichkeit insofern der Sohn das Urbild der Menschen ist. Augustinus zufolge ist der trinitarische Gott aber nicht nur im menschlichen Geist, sondern in der gesamten Schöpfung abgebildet, wenngleich auch nicht in einem vergleichbaren Maß: der Mensch ist Imago Dei, die Schöpfung Vestigium Dei.212 „Hier darf auch nicht übergangen werden, dass der heilige Verfasser nach den Worten: ‚Nach unserem Bild‘ sogleich hinzufügt: ‚Und er soll Gewalt haben über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels‘ und über die übrigen vernunftlosen Tiere. Darunter sollen wir offenbar verstehen, dass der Mensch darin nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, womit er sich vor den vernunftlosen Lebewesen auszeichnet. Das ist aber die Vernunft als solche, möge sie nun Verstand, Fassungsvermögen oder mit einem noch passenderen Worte genannt werden. [Dies weist deutlich darauf hin. BK] worin der Mensch nach dem Bilde Gottes erschaffen ist: dass es sich nicht um körperliche Züge handelt, sondern um eine gewisse intelligible Form des erhellten Verstandes.“213

3.4 Folge für das Verständnis der Gottebenbildlichkeit in der systematischen Theologie

Die Konzentration der Ebenbildlichkeitsvorstellung auf Jesus Christus hat erhebliche anthropologische Konsequenzen, da sie eine kritische Unterscheidung zwischen der Lebenswirklichkeit der Menschen und der Geschichte des einen Menschen Gottes enthält. Christus tritt an die Stelle dessen, der zum Bild Gottes geschaffen wurde, d. h. an die Stelle des Menschen. Christus wird also zum Grundbild für das Menschsein an sich eingesetzt, womit aber auch eine grundlegende Unterscheidung impliziert ist214: nicht der Mensch, sondern Christus wird als das Bild Gottes bezeichnet.215

Darüber hinaus ergab sich eine Spiritualisierung des alttestamentlichen Herrschaftsauftrages. Der in der frühen Kirche entwickelten christlichen Anthropologie ging es darum die Herrschaft des Menschen über die Erde als spirituelles Tun zu fassen, ja, eine Vereinnahmung durch die materielle Seite dieses Tuns wurde sogar als sündhaft interpretiert. Vor allem in der alexandrinischen Tradition zeigte sich eine Tendenz zur Vergeistigung des Konzepts von der Herrschaft des Menschen: Herrschaft wurde als von der Bändigung der Leidenschaften abhängig gesehen, was wiederum nur durch eine spirituelle Vertiefung geschehen konnte. Insbesondere Origenes setzte eine spiritualisierende Interpretation von Gen 1,26f. durch. Er übertrug den biblischen Herrschaftsauftrag explizit auf die Herrschaft über die menschlichen Leidenschaften, da die Leidenschaften eine Gemeinsamkeit zwischen Mensch und Tier darstellen und nur durch die Herrschaft darüber das Abbild-Sein Verwirklichung findet.216 Nach Origenes galt diese Deutung von Gen 1,26f. in der Theologie als eine Möglichkeit: es hat mehr Gewicht, was die Menschen sind, als das, was sie tun. Dieses Sein des Menschen konnte aber – insbesondere nach der Auffassung im östlichen Christentum – nur durch die Kontemplation der Dinge erschlossen werden. Nur in der Kontemplation, welche als Vorrecht des Menschen als Statthalter Gottes auf Erden betrachtet wurde, sah man die Möglichkeit gegeben mit den logoi der Schöpfungsordnung in Verbindung zu treten und so als vernunftbegabte Wesen die Schöpfungsordnung in Gottes Plan zusammen zu halten. Hieraus ergibt sich auch, dass der Mensch in der Anthropologie der frühen Kirche in seiner adamitischen Einheit betrachtet wurde. Adam war nach biblischer Überzeugung nicht nur der erste Mensch, sondern repräsentierte auch die Gesamtmenschheit. So kam es zu einer weiteren Unterscheidung zwischen ontologischer und persönlich-soteriologischer Ebene des Menschseins.217

 

Wichtig bei allen aufgeführten patristischen Varianten der Unterscheidung von Abbild und Ähnlichkeit ist allerdings die Beachtung der Tatsache, dass die Abbildhaftigkeit in diesem Verständnis eine Dynamik enthält. Die Abbildhaftigkeit ist nicht nur ein Zustand, sondern steht vor allem für eine Möglichkeit. Diese „kommt nur zur Blüte, wenn Menschen […] fähig werden, ihre bei der Schöpfung geschenkten Fähigkeiten zur vollen Reife zu entwickeln. Die Unterscheidung dient also in erster Linie dazu, diesen dynamischen Aspekt des Abbild-Begriffes zu unterstreichen. Die Menschen sind nach dem Bild Gottes geschaffen, damit sie wie Gott werden. Diese Ähnlichkeit ist ihr Reifen als Menschen und ihre Erfüllung einer Mittler-Aufgabe als Mikrokosmos für das geschaffene Universum.“218.

1 A. N. Whitehead, Wissenschaft und moderne Welt, Frankfurt a. M. 1984, 75.

2 Vgl. M. Welker, Schöpfung und Wirklichkeit (NBST; 13), Neukirchen-Vluyn 1995, 33.

3 J. Butler, Gefährdetes Leben, in: dies.‚ Gefährdetes Leben. Politische Essays, Frankfurt a. M. 2005, 154-178, hier 109f.

4 Dabei ist zu beachten, dass Gesellschaften in mehreren Dimensionen plural sein können. Zunächst können sie „Pluralität“ aufweisen, womit gesellschaftliche Unterschiede unterschiedlichen Ausmaßes ohne Wertung festgestellt werden. Die Selbstbeschreibung einer Gesellschaft als plural erfolgt über den Terminus des „Pluralismus“, worüber eine soziale Einheit ihre innere Pluralität selbst feststellt und in positiver oder negativer Hinsicht als relevant betrachtet. Darüber hinaus kann Pluralismus aber auch bedeuten, dass eine Pluralität von Überzeugungen als Lebensform Akzeptanz findet, d. h. also, dass eine Gesellschaft ihre Selbsteinschätzung als plural nicht als grundsätzliche Infragestellung ihres Zusammenhalts betrachtet, sondern positiv wahrnimmt. Gesellschaftliche Anerkennung des Pluralismus kann somit eine demokratisch-politische Werthaltung bzw. einen Metawert darstellen, der nicht mit Indifferenz oder Relativismus gleichzusetzen ist, sondern Anstrengungen erfordert, um die „gesellschaftliche Faktenlage der Pluralität auszuhalten und politisch sinnvoll zu gestalten“. Vgl. Chr. Mandry, Pluralismus als „Wert“ – Chancen und Hindernisse aus theologisch-ethischer Sicht, in: Hilpert, K. (Hg.), Theologische Ethik im Pluralismus (SThE; 133), Freiburg CH 2012, 229-237, hier 229.231.236.

5 M. Heimbach-Steins, Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Lernprozesse, Konfliktfelder, Zukunftschancen, Mainz 2001, 150f.

6 P. E. Gordon, Kritische Theorie zwischen dem Heiligen und dem Profanen, in: WestEnd 13 (2016) 3-33, hier 21f.

7 Vgl. zu dieser Thematik bspw. die Rede von Jürgen Habermas anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001. Darin äußert er seine Überzeugung, dass gerade in Anbetracht der Ereignisse des 11. Septembers 2001 auch eine säkularisierte Gesellschaft nicht auf Artikulation und Übersetzung der Inhalte religiöser Sprache verzichten könne und macht dies besonders am Beispiel der Gottebenbildlichkeit fest: „Die Kehrseite der Religionsfreiheit ist tatsächlich eine Pazifizierung des weltanschaulichen Pluralismus, die ungleiche Folgelasten hatte. Bisher mutet ja der liberale Staat nur den Gläubigen unter seinen Bürgern zu, ihre Identität gleichsam in öffentliche und private Anteile aufzuspalten. Sie sind es, die ihre religiösen Überzeugungen in eine säkulare Sprache übersetzen müssen, bevor ihre Argumente Aussicht haben, die Zustimmung von Mehrheiten zu finden. So machen heute Katholiken und Protestanten, […], den (vielleicht vorschnellen) Versuch, die Gottesebenbildlichkeit des Menschengeschöpfs in die säkulare Sprache zu übersetzen. Die Suche nach Gründen, die auf allgemeine Akzeptabilität abzielen, würde nur dann nicht zu einem unfairen Ausschluss der Religion aus der Öffentlichkeit führen und die säkulare Gesellschaft ihrerseits nur dann nicht von wichtigen Ressourcen der Sinnstiftung abschneiden, wenn sich auch die säkulare Seite ein Gespür für die Artikulationskraft religiöser Sprachen bewahrte. Die Grenze zwischen säkularen und religiösen Gründen ist ohnehin fließend. Deshalb sollte die Festlegung dieser umstrittenen Grenze als eine kooperative Aufgabe verstanden werden, die von beiden Seiten fordert, auch die Perspektive der jeweils anderen einzunehmen. Vgl. J. Habermas, Glauben und Wissen, Frankfurt a. M. 82016, 21f.

8 Chr. Mandry‚ Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union (Denkart Europa. Schriften zur europäischen Politik, Wirtschaft und Kultur; 9), Baden-Baden 2009, 212.

9 M. Heimbach-Steins, Menschenrechte, 151.

10 Ebd., 174.

11 Ebd., 177.

12 Vgl. K.-W. Merks, Grundlinien einer interkulturellen Ethik. Moral zwischen Pluralismus und Universalität (SThE; 132), Freiburg CH 2012, 17.

13 Ebd., 25.

14 Ebd., 52.

15 Vgl. ebd., 66f.

16 Vgl. ebd.

17 Vgl. ebd., 75ff. und ders., Gott und die Moral. Theologische Ethik heute (Schriften des Instituts für Christliche Sozialwissenschaften der WWU Münster; 35), Münster 1998, 352ff.

18 Vgl. ders., Grundlinien einer interkulturellen Ethik, 75.

19 Vgl. ders.‚ Gott und die Moral, 357.

20 Vgl. ebd., 405.

21 Vgl. ders., Grundlinien einer interkulturellen Ethik, 76.

22 Ebd., 77.

23 Vgl. W. Lesch, Übersetzungen. Grenzgänge zwischen philosophischer und theologischer Ethik (SThE; 113), Freiburg CH 2013, insbesondere 66 und Kapitel 5.

24 Vgl. R. A. Siebenrock, Theologischer Kommentar zur Erklärung über die religiöse Freiheit „Dignitatis humanae“, in: Hünermann, P. / Hilberath, B. J. (Hg.), Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil 4, Freiburg i. B. 2005, 125-218.

25 Vgl. K.-W. Merks, Grundlinien einer interkulturellen Ethik, 123.

26 Ebd., 157.

27 Ebd., 196f.

28 Vgl. zum Folgenden ebd., 223ff.

29 Vgl. Chr. Becker, Was bleibt? Recht und Postmoderne. Ein rechtstheoretischer Essay, Baden-Baden 2014, 27-34.

30 L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 66 zitiert nach Chr. Becker, Recht und Postmoderne, Fn. 103.

31 Vgl. H. Wennerberg, Der Begriff der Familienähnlichkeit in Wittgensteins Spätphilosophie, in: E. von Savigny (Hg.), Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen (Klassiker auslegen; 13), Berlin 22011, 33-61.

32 Vgl. Chr. Becker, Recht und Postmoderne, 31.

33 Vgl. R. Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt a. M. 102012.

34 Vgl. Chr. Becker, Recht und Postmoderne, 34-37.

35 Ebd., 35.

36 Vgl. ebd., 35.37.56.58.

37 Ebd., 62f.

38 Vgl. hierzu J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 21989.

39 Chr. Becker, Recht und Postmoderne, 82f.

40 Dies macht Hans Joas sehr eindrücklich deutlich. Vgl. hierzu H. Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Berlin 2011.

41 Vgl. Chr. Becker, Recht und Postmoderne, 108f.113.

42 Ebd., 115ff.

43 Vgl. Z. Bauman, Flüchtige Moderne, Frankfurt a. M. 62015, 248f.

44 Ebd., 250.

45 Vgl. W. Lesch, Übersetzungen, 31.35.

46 Vgl. ebd., 46.59.

47 Zur Bedeutung des „schwachen Denkens“ bei Vattimo in Bezug auf die Theologie vgl. U. Engel, Philosophie (im Licht) der Inkarnation. Zu Gianni Vattimos Religionsdiskurs im Zeitalter der Interpretation, in: Vattimo, G. / Schröder, R. / ders. (Hg.), Christentum im Zeitalter der Interpretation, Wien 2004, 4178, hier 46f. Engel betont, dass mit dem schwachen Denken und dem Verzicht des Rekurses auf Wahrheit als objektiver und endgültiger Evidenz nicht automatisch ein Relativismus gegeben ist, sondern vielmehr ein Verständnis von Wahrheit als Kette von Verweisungen, als geschichtliche Überlieferung. Dieses Verständnis von Wahrheit ist im christlichen Modell der kenosis grundgelegt (48ff.).