Die Anerkennung des Verletzbaren

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #110
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Einen motivationalen Faktor für den Kampf um Anerkennung im rechtlichen Bereich bildet historisch betrachtet die Institutionalisierung der bürgerlichen Freiheitsrechte, die einen andauernden Innovationsprozess eröffnet hat: zu den Freiheitsrechten traten auf Druck benachteiligter Gruppen Teilhaberechte am Prozess der öffentlichen Willens- und Meinungsbildung hinzu und außerdem Rechte, die ein Mindestmaß an Bildung und ökonomischer Sicherheit zusprechen.127 Insgesamt birgt die rechtliche Anerkennung also das moralische Potential, „das über soziale Kämpfe in Richtung einer Steigerung sowohl von Allgemeinheit als auch von Kontextsensibilität entfaltet zu werden vermag“128.

U. a. Luf äußert sein Unbehagen, wenn Honneth in Bezug auf den emanzipatorischen Prozess in der rechtlichen Anerkennungssphäre von „Eigenschaften“ spricht, welche den Menschen als Person auszeichnen. Er hält fest, dass nicht der Besitz von Eigenschaften konstitutiv für das menschliche Personsein ist, sondern, dass es sich vielmehr umgekehrt verhält: „Die kategoriale Anerkennung jedes Menschen als Person liegt vielmehr diesen Attributen voraus, die somit von dem Begriff der Person her in ihrer normativen Relevanz allererst qualifiziert werden müssen. Den Ausgangspunkt rechtlicher Anerkennung bildet somit die Anforderung, jeden Menschen als freies, zur Selbstbestimmung aufgefordertes Subjekt zu respektieren.“129 Mit der schon angeführten Unterscheidung Honneths zwischen „rechtlicher Anerkennung“ und „sozialer Wertschätzung“ lässt sich aber zeigen, dass Honneth dies ähnlich sieht. Er fragt konkret nach der Schlussfolgerung, welche sich aus dieser Unterscheidung ziehen lässt und kommt zu dem Ergebnis, dass der Mensch in beiden Fällen bestimmter Eigenschaften wegen geachtet wird. „[…] im ersten Fall handelt es sich um diejenige allgemeine Eigenschaft, die ihn überhaupt erst zur Person macht, im zweiten Fall hingegen um die besonderen Eigenschaften, die ihn im Unterschied zu anderen Personen charakterisieren. Daher ist für die rechtliche Anerkennung die Frage zentral, wie jene konstitutive Eigenschaft von Personen als solchen bestimmt werden kann, […].“130 Honneth beschreibt diese „Fähigkeit“, in der sich Subjekte wechselseitig achten können, wenn sie sich als Rechtspersonen anerkennen und die es zu schützen und zu ermöglichen gilt, da sie den Menschen überhaupt erst als Person charakterisieren, als „Annahme der moralischen Zurechnungsfähigkeit“ aller Mitglieder einer Rechtsordnung. „Wenn eine Rechtsordnung nur in dem Maße als gerechtfertigt gelten und mithin auf individuelle Folgebereitschaft rechnen kann, in dem sie sich im Prinzip auf die freie Zustimmung aller in sie einbezogenen Individuen zu berufen vermag, dann muß diesen Rechtssubjekten zumindest die Fähigkeit unterstellt werden können, in individueller Autonomie über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden; ohne eine derartige Zuschreibung wäre überhaupt nicht vorstellbar, wie die Subjekte sich jemals wechselseitig auf eine rechtliche Ordnung sollen geeinigt haben können.“131 Kurz kann man dies mit Charles Taylor – der erkennbar auf Kant zurückgreift - ausdrücken, der Menschsein und Personsein als notwendige, von empirischen Eigenschaften unabhängige Einheit denkt. Taylor spricht von einem universellen menschlichen Potential, einer Fähigkeit, die allen Menschen gemeinsam ist. „Dieses Potential und nicht das, was der Einzelne aus ihm macht oder gemacht hat, sichert jedermann Achtung. Und wir dehnen unseren Schutz auch auf solche Menschen aus, die infolge irgendwelcher Umstände nicht in der Lage sind, ihr Potential in der üblichen Weise zu verwirklichen – auf Behinderte zum Beispiel oder auf Menschen, die im Koma liegen.“132 Somit sind also – gerade in Bezug auf eine Fortschrittsgeschichte der Anerkennungskämpfe – auch Personen in die rechtliche Anerkennung einzubeziehen, die ihre Rechte nicht eigenständig einfordern können. Auch diese Vorstellung findet sich bei Honneth, wenn er schreibt, dass egal ob wir einen anderen Menschen als liebenswert, als achtenswert oder als solidarisierungswürdig betrachten „stets nur ein anderer Aspekt dessen zur Geltung [kommt | BK], was es heißt, daß Menschen ihr Leben in rationaler Selbstbestimmung vollziehen müssen. Bezieht sich diese ‚Vorstellung von einem Wert‘ das eine Mal stärker auf die Weise der biographischen Lebensbewältigung (Liebe), das andere Mal stärker auf die Art des praktischen Engagements (Solidarität), so gilt sie im Fall der Achtung der Tatsache selber, daß Menschen zur reflexiven Orientierung an Gründen keine Alternativen haben; insofern auch ist jene letzte Einstellung nicht weiter graduierbar, während die beiden anderen Formen der Anerkennung viele Stufen der Steigerung erlauben“133. Honneth unterscheidet also zunächst zwischen zwei Begriffen der Anerkennung.134 AnerkennungA, bzw. die „elementarere“135 oder „vorgängige“136 Anerkennung, ist eine umfassende Haltung der Anerkennung, die Honneth auch mit der Anerkennungssphäre der Liebe zusammenfallen lässt.137 Aus dieser Haltung heraus lassen sich dann die weiteren Haltungen der AnerkennungB, der gleichen moralischen, rechtlichen und politischen Anerkennung also, ableiten, wobei Honneth davon ausgeht, dass der existentielle Modus der AnerkennungA „allen anderen, gehaltvolleren Formen der Anerkennung zugrunde liegt, „in denen es um die Bejahung von bestimmten Eigenschaften oder Fähigkeiten anderer Personen geht“138. Der Perspektive der AnerkennungA kommt somit absoluter Vorrang zu. „[…] weil wir alle menschliche Wesen als Personen anerkennen müssen […] dürfen wir uns aus moralischen Gründen nicht für soziale Beziehungen entscheiden, deren Vollzug eine Verletzung jener Ansprüche verlangen würde“139, Beziehungen also, die uns grundsätzlich daran hinderten anderen Anerkennung entgegen zu bringen.

2.2.3.3 Wertegemeinschaft: Solidarität und Selbstschätzung140

Neben der Liebe und dem Rechtsverhältnis identifiziert Honneth mit Hegel und Mead eine dritte Form der wechselseitigen Anerkennung, welche er als soziale Anerkennung oder Wertschätzung bezeichnet, derer menschliche Subjekte bedürfen, um „sich auf ihre konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zu beziehen“141. Über das normative Prinzip der Rechtsgleichheit kommt es zur Herausbildung dieser dritten Sphäre. Hier werden Individuen nicht als Rechtspersonen anerkannt, sondern als Subjekte, die mit ihren individuellen Praktiken und Lebensformen einen besonderen, zur Reproduktion der Gesellschaft unumgänglichen Beitrag leisten. Eine solche gesellschaftliche Entwicklung setzt den Zusammenbruch religiöser und metaphysischer Weltbilder voraus: mit ihnen erodiert das kulturelle Selbstverständnis und von diesem Moment an tritt das Individuum in das umkämpfte Feld sozialer Wertschätzung ein.

Voraussetzung für eine solche Form der Anerkennung und Wertschätzung ist zunächst, dass die Existenz eines intersubjektiv geteilten Wertehorizonts hinzugedacht wird, da sich Alter und Ego nur unter der Bedingung wertschätzen können, „dass sie die Orientierung an solchen Werten und Zielen teilen, die ihnen reziprok die Bedeutung oder den Beitrag ihrer persönlichen Eigenschaften für das Leben des jeweils anderen signalisieren“142. Der Unterschied zur rechtlichen Anerkennung, welche ein Medium darstellt, das die „allgemeinen Eigenschaften menschlicher Subjekte in differenzierender Weise zum Ausdruck bringt“, besteht darin, dass die soziale Anerkennung und Wertschätzung „Eigenschaftsdifferenzen zwischen menschlichen Subjekten auf allgemeine, nämlich intersubjektiv verbindliche Weise zum Ausdruck bringen können muss“143. Hierfür fungieren ethische Werte, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft ausmacht, als Orientierungsrahmen, an dem sich der soziale Wert von Persönlichkeitseigenschaften bemisst. Gradmesser ist der Beitrag an der Verwirklichung gesellschaftlicher Zielvorgaben, welche vom kulturellen Selbstverständnis einer Gesellschaft vorgegeben werden. „[…] Fähigkeiten und Leistungen werden intersubjektiv danach beurteilt, in welchem Maße sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können; […].“144

Dadurch aber, dass soziale Wertschätzung und Anerkennung somit von den gesellschaftlich vorherrschenden ethischen Zielvorstellungen abhängig sind, sind Wertschätzung und Anerkennung geschichtlich variable Größen – worin sie der rechtlichen Anerkennung gleichen. „Ihre gesellschaftliche Reichweite und das Maß der Symmetrie hängen dann vom Grad der Pluralisierung des sozial definierten Werthorizonts ebenso ab wie vom Charakter der darin ausgezeichneten Persönlichkeitsideale. Je mehr die ethischen Zielvorstellungen für verschiedene Werte geöffnet sind und ihre hierarchische Anordnung einer horizontalen Konkurrenz gewichen ist, umso stärker wird die soziale Wertschätzung einen individualisierenden Zug annehmen und symmetrische Beziehungen schaffen können.“145

Honneth erläutert diese Annahmen am Beispiel des Wandels von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft, am Wandel von Ehrbegriffen zu Kategorien des sozialen Ansehens oder Prestiges hin.146 So sei die Zielvorstellung der ständischen Gesellschaften substanziell gefasst und die Wertvorstellungen hierarchisch gegliedert gewesen, weswegen es auch eine Rangskala von mehr oder weniger wertvollen Verhaltensformen gegeben habe, deren Einhaltung zur Erlangung sozialer Ehre geführt habe. Er geht davon aus, dass die soziale Ehre auch jedem Gesellschaftsmitglied, das zu einem bestimmten gesellschaftlichen Kreis gehören will, eine spezifische Form der Lebensführung vorgibt. Die Charakteristika, anhand derer sich die gesellschaftliche Bewertung einer Person orientiert, sind daher nicht die eines individuierten Subjekts, sondern die einer „kulturell typisierten Statusgruppe“147. Dadurch ergibt sich einerseits eine nach außen hin asymmetrische und nach innen hin hoch symmetrische Gliederung der Anerkennungsformen innerhalb einer Gesellschaft und andererseits die Tendenz von sozialen Gruppen ihre Standesmerkmale gegenüber Nichtangehörigen abzuschließen, um das eigene Sozialprestige dauerhaft zu monopolisieren.148 Diese ständischen Gesellschaftsgliederungen verdanken ihre Überzeugungskraft religiösen oder metaphysischen Überlieferungen und waren daher „als eine metasoziale Bezugsgröße im kulturellen Selbstverständnis verankert“149. Sobald diese Überlieferungen allerdings hinterfragt wurden, änderte sich auch das Verständnis von der gesellschaftlichen Wertordnung dahingehend, dass die ständische Gesellschaftsgliederung ihrer transzendenten Evidenzbasis verlustig ging und somit nicht länger als objektiv und unveränderlich angesehen werden konnte. Die Auseinandersetzung des aufkommenden Bürgertums mit der feudalen Gesellschaft stellt also nicht den Versuch der Implementierung einer neuen Wertordnung in die Gesellschaft, sondern die Auseinandersetzung um den Status solcher Wertprinzipien überhaupt dar: Das soziale Ansehen einer Person wird nun nicht mehr anhand der ihrer sozialen Gruppe zugeschriebenen Eigenschaften bemessen, vielmehr „tritt das Subjekt als eine lebensgeschichtlich individuierte Größe in das umkämpfte Feld der sozialen Wertschätzung ein. Ein nicht unbeträchtlicher Teil dessen, was bislang dem einzelnen über ständisch gestaffelte Ehrprinzipien an sozialer Wertschätzung zugesichert war, wandert im Zuge der geschilderten Umbrüche in das neuformierte Rechtsverhältnis ein, wo es im Begriff der ‚menschlichen Würde‘ zu universaler Geltung gelangt“150.

 

Soziale Anerkennung bzw. das Ziel ethischer Lebensführung wird nun nicht mehr von vornherein als kollektive Eigenschaft festgelegt, sondern orientiert sich an individuell entwickelten Fähigkeiten des Einzelnen, d. h., dass in dieser dritten Anerkennungssphäre das Leistungsprinzip eine entscheidende Rolle spielt. Über die im kulturellen Wertesystem erbrachte Leistung wird dem Subjekt ein unterschiedliches Maß sozialer Wertschätzung zuteil, womit unzählige Möglichkeiten für Anerkennungskämpfe eingelassen sind.151

Dies bedeutet aber auch, dass die soziale Wertschätzung und Anerkennung in modernen Gesellschaften einem permanenten Kampf unterliegen, „in dem die verschiedenen Gruppen mit den Mitteln symbolischer Gewalt versuchen, unter Bezug auf die allgemeinen Zielsetzungen den Wert der mit ihrer Lebensweise verknüpften Fähigkeiten anzuheben.“152 Der Wert dieser Fähigkeiten findet seinen Niederschlag dabei gesellschaftlich vor allem durch Geldeinkommen, weswegen von einer engen Verknüpfung mit ökonomischen Auseinandersetzungen konstitutiv erscheint.

Trotz der in diesem Anerkennungsverhältnis angelegten Konflikte erscheint für Honneth ein symmetrisches Anerkennungsverhältnis möglich und zwar über den Weg der Solidarität. Symmetrische Wertschätzung oder Anerkennung bedeutet in diesem Kontext affektive Anteilnahme an dem individuell Besonderen der anderen Person zu wecken. Symmetrisch ist das Anerkennungsverhältnis nicht in dem Sinne, dass sich Individuen wechselseitig in gleichem Maße wertschätzen müsse, was „schon aus der prinzipiellen Deutungsoffenheit aller gesellschaftlichen Werthorizonte hervor[geht | BK]: es ist schlechterdings keine kollektive Zielsetzung vorstellbar, die in sich quantitativ so zu fixieren wäre, dass sie einen exakten Vergleich zwischen dem Wert der einzelnen Beiträge gestatten würde; symmetrisch muss vielmehr heißen, dass jedes Subjekt ohne kollektive Abstufungen die Chance erhält, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Gesellschaft zu erfahren“153.

Es handelt sich bei dieser dritten Anerkennungsform der solidarischen Zustimmung also weniger um den Respekt vor einer singulären Leistung oder einer besonderen Individualisierung, sondern um ethische Werte und Ziele im Rahmen eines gemeinsamen Werthorizontes. „Der fundamentale Unterschied besteht in der Offenheit der Wertschätzung für die Pluralität der Persönlichkeitsideale, wie sie in komplexen Gesellschaften auftreten. […] Die Intersubjektivität der Anerkennung wird von dieser sozialen Wertschätzung dahingehend überschritten, dass sie nicht allein an die Wechselseitigkeit zwischen Individuen gebunden ist, sondern vor allem an dem vom Kollektiv vorgegebenen Bezugssystem orientiert ist.“154

2.2.4 Anerkennung als Haltung

In neueren Publikationen hat Honneth seine Theorie in Teilen modifiziert bzw. neu justiert.155 Diese Modifikation betrifft u. a. die Frage, ob Anerkennen eine Erkenntnisleistung oder eine davon zu unterscheidende Haltung darstellt.156 Während in Honneths „Kampf um Anerkennung“ eine „empirische Situationsdeutung“157 darüber informiert, ob ein Gegenüber anzuerkennen ist, so wird im weiteren Verlauf der Theorieentwicklung das Erkennen als dem Anerkennen nachgeordnet gedeutet. Da „der Akt der Anerkennung […] die expressive Bekundung einer individuellen Dezentrierung, die wir angesichts des Wertes einer Person vollziehen“158, darstellt, „scheint die bloß kognitive Identifikation eines Menschen ihren geradezu natürlichen Vorrang vor der Anerkennung zu verlieren; […]. Der Vorrangigkeit der Anerkennung entspricht in unserer sozialen Lebensform der herausgehobene Stellenwert jener Gesten und Gebärden, mit denen wir uns untereinander im allgemeinen die motivationale Bereitschaft bekunden, unser Handeln an der moralischen Autorität des Anderen zu orientieren“159.

Bedorf spricht hier von einer „existentialen Wende“ Honneths, durch die „der Modus der Anerkennung zu einer Haltung gegenüber der Welt, Anderen und mir selbst generalisiert“160 wird, wodurch sich in gewissem Sinne eine weitere, die anderen Sphären der Anerkennung umfassende Ebene der Anerkennung auftut. Dadurch wird der denkerische Fortschritt erzielt, dass die soziale Interaktion zwischen Individuen nun nicht mehr aus der Beobachterperspektive betrachtet werden muss, sondern eine Binnenperspektive eingenommen werden kann, die nicht von außen die wechselseitige Bestätigung bzw. Anerkennung zwischen zwei Positionen konstatiert, sondern die vorgängige Erfahrung des Anerkennens aufweisen kann.161

Das Problem, dass Honneth sich mit dieser Fortentwicklung einhandelt, besteht in der Frage nach der Motivation zur anerkennenden Haltung, die nun erneut begründungsbedürftig wird. Bisher war es die Herstellung eines ungebrochenen Selbstverhältnisses, das Anerkennung motivierte und die drei Anerkennungssphären miteinander verband. Nun wird Anerkennung zu einer primären Haltung des Selbst, die das Individuum anscheinend aus eigenen Antrieben einnimmt. Es existiert kein Anspruch der Dinge noch der eines personalen Anderen mehr, der das Subjekt veranlassen würde Anerkennung zu verleihen bzw. sich anerkennend zu positionieren. Aus der Aufgabe der Reziprozität im Anerkennungsverhältnis resultiert eine Motivationslücke.162

Honneth sieht diese Schwierigkeit und sucht nach einem möglichen Lösungsansatz im Begriff der Verdinglichung bzw. Selbstverdinglichung.163 Unter Verdinglichung versteht er jenen Vorgang, „durch den in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewußtsein verlorengeht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt“164. Selbstverdinglichung ist dementsprechend der Prozess, der ein Individuum die vorgängige Anerkennung seiner selbst vergessen lässt. Im Gegensatz dazu steht eine Einstellung, nach der das Subjekt die eigenen Empfindungen und Wünsche für artikulierenswert hält, die Vorgängigkeit der Anerkennung, eine vorgängige Selbstbejahung also auch in Bezug auf das eigene Selbst anerkennt.165

Die Motivation zu einer anerkennenden Haltung rührt also auch hier aus dem Bedürfnis nach einem ungebrochenen Selbstverhältnis her, welches das Individuum nur dann entwickeln kann, wenn es zu einer Affirmation der Widerfahrnisse, die ihm zustoßen, gelangt und diese im Sinne einer vorgängigen Selbstbejahung in das eigene Selbst integriert, wobei dieser primäre Selbstbezug allerdings „als eine Bestätigung zu interpretieren [ist | BK], die noch der Unterscheidung von pathologischen und gelungenen Formen des Selbst vorausliegt“166. Damit ergibt sich für das weiterentwickelte Anerkennungsverständnis, dass Anerkennung als „identisch mit einer bestätigenden und befürwortenden Haltung zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst“167 interpretiert wird. Hier ist schon Honneths moralischer Optimismus erkennbar, der sich in der Frage nach einem gesellschaftlichen Fortschritt durch den Kampf um Anerkennung noch verdeutlichen wird. Anerkennung könnte nämlich in diesem Sinne, wenn man bspw. mit Stanley Cavell argumentierte, der das „Gewebe sozialer Interaktion“ anerkennungstheoretisch auch im Hinblick auf negative Phänomene befragt, auch in unspezifischen Antwortgeschehen und folglich auch in negativen Reaktion gefunden werden.168 Gerade dieser Interpretationsrichtung folgt Honneth aber nicht, wenn er annimmt, dass „in Fällen einer gefühlsmäßig negativ erlebten Anerkennung immer ein Gespür dafür mitschwingt, dem Anderen in seiner Personalität nicht angemessen gerecht zu werden“169. Honneth spricht in Bezug auf diese kontrastierende Erfahrung auch von jenem Moment anerkennender Haltung, das herkömmlich als Gewissen bezeichnet wird.170 Er fügt also der anerkennenden Haltung immer noch ein Element der affektiven Bezogenheit, der positiven Vorgestimmtheit und des positiven Befürwortens hinzu und geht somit über den Ansatz Cavells hinaus.171 Nach Honneth ist das menschliche Selbst- und Weltverhältnis genetisch als auch kategorial zunächst an eine befürwortende Einstellung gebunden, „bevor dann andere, emotional neutralisierte Einstellungen daraus entspringen können“172. Dies hat zur Konsequenz, dass die „elementare Anerkennung“, auch wenn sie unterhalb der Schwelle liegt, auf der wechselseitige Anerkennung die Bejahung spezifischer Eigenschaften des jeweiligen Gegenübers mit sich bringt, notwendigerweise eine Bejahung und Befürwortung dieses Gegenübers impliziert. Dies hängt wiederum damit zusammen, dass in der elementaren Anerkennung nicht spezifische, sondern unspezifische, aber gleichwohl qualitativ wertvolle Eigenschaften des Gegenübers bejaht und befürwortet werden.173

Honneth benötigt für seine justierte Konzeption von Anerkennung die Antizipation einer normativen Form, die Anerkennung in ihren verschiedenen Sphären annehmen könnte, wenn alle Hindernisse überwunden wären. Anerkennung muss demnach notwendigerweise nicht nur in einem genetischen, sondern auch in einem sozialontologischen Sinn Vorrang besitzen. Nur so lässt sich ein Geltungsüberhang konstatieren, der einen sich erweiternden Horizont der Anerkennung einfordert. Darauf soll im Kapitel zur Missachtungserfahrung näher eingegangen werden.

2.2.5 Fazit

Diese Anerkennungssphären – Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung – sind nach Honneth integrierende Momente eines Konzepts von postkonventioneller Sittlichkeit, welches liberale Voraussetzungen um eine Konzeption des guten Lebens ergänzt. Diese Konzeption des Guten muss allerdings zwei anspruchsvolle Voraussetzungen erfüllen. Sie muss einerseits formal sein, um eine illiberale Identifikation mit partikularen Lebensentwürfen zu vermeiden. Andererseits muss eine gewisse materiale Bestimmbarkeit möglich bleiben, damit eine Sittlichkeitskonzeption gemeinschaftsstiftend-integrative Kraft innerhalb und für eine Gesellschaft entfalten kann.174

3. DAS PROBLEM DER INHALTLICHEN BESTIMMUNG DES THEOLOGUMENONS „EBENBILD GOTTES“: DIE DISSOZIATION DER BILDBEGRIFFE ZAELAEM (צלם) UND DEMUT (דמות) IN DER TRADITION

Im nun folgenden Abschnitt der Arbeit wird ein thematischer Sprung auf das biblische Verständnis der Gottebenbildlichkeit als nicht ontologischer, sondern funktionaler Kategorie unternommen. Der Blick soll zunächst, noch vor der exegetischen Bearbeitung der entsprechenden Textstellen, auf die in der Auslegungsgeschichte erfolgte Dissoziation der biblischen Termini zaelaem und demut gerichtet werden. Diese Dissoziation wirkte sich in Richtung eines immer stärkeren ontologisch-materialen Verständnisses der Imago Dei aus.

Insbesondere die Rezeptionsvorgänge der Patristik und des Mittelalters, welche die griechische Septuaginta (LXX) und die lateinische Vulgata als Bibelübersetzungen zur Verfügung hatten, weisen weitreichende Spekulationen über die beiden in Gen 1,26f. verwandten Termini zaelaem und demut auf, die dem heutigen exegetischen Befund nicht gerecht werden, die Tradition aber dennoch entscheidend prägten. Auf die beiden hebräischen Begriffe wurden so Bedeutungen und Normierungen übertragen, die eine qualitative Differenz zwischen beiden Substantiven einführte und somit der eigentlichen hebräischen Bedeutung nicht entspricht.175 Um es pointiert zu formulieren: Theologiegeschichtliche Bedeutsamkeit erlangte die priesterschriftliche Aussage von der Gottebenbildlichkeit erst, als man sie aus ihrem Kontext löste, die funktionale Bestimmung ontologisch fasste und die Blickrichtung der Beziehung von den Menschen zu Gott interpretierte.

 

Dabei macht die historische Kritik einerseits auf den unaufgebbaren Primat der Offenbarungsgeschichte aufmerksam, erzeugt aber andererseits gleichzeitig eine Verfremdung des biblischen Textes zur eigenen Gegenwart, indem sie auf den Abstand der jeweiligen Gegenwart und der jeweiligen Rezeptionsvorgänge zu den biblischen Dokumenten hinweist. Durch diese Distanzierung wird die Differenz zwischen genuiner Textbedeutung und der späteren Auslegungsgeschichte, insbesondere bzgl. des Begriffsfeldes der Gottebenbildlichkeit deutlich und gleichzeitig die Auflösung einer nicht adäquaten Verknüpfung des Schriftverständnisses mit der späteren Wirkungsgeschichte möglich. So können ungerechtfertigte Traditionsansprüche, die sich explizit oder implizit auf die Schrift berufen von dieser Differenz zwischen Text und Auslegungsgeschichte her in Frage gestellt, auf ihre Legitimation geprüft und auch einer Revision unterzogen werden. Dabei sollte die Interpretation einer Schriftstelle, bedingt durch die Variationsbreite der Schriftzeugnisse, eine Pluralität von Verstehensweisen aufrechterhalten, um den Reichtum und die komplexe Vollgestalt der Schriftaussagen ernsthaft zum Einsatz zu bringen.176

So ergibt sich außerdem eine Parallele zwischen der notwendigen Revision der Dissoziation zwischen funktional-relationaler und ontologischer Verständnisweise der Gottebenbildlichkeit, wie sie sich in der Tradition bei der Deutung der Begriffe Ebenbild und Ähnlichkeit eingeschlichen hat, und dem Ringen im Anerkennungsdiskurs um die Versöhnung zwischen einem Ausgangspunkt in Vorstellungsweisen vom guten Leben auf der einen Seite, sowie der formalen Unabgeschlossenheit der Suche nach Anerkennung auf der anderen.

Sowohl im theologischen Diskurs als auch im modernen, pluralistischen Diskurs zeigt sich also dieser Widerstreit zwischen sozusagen inhaltlicher Füllung einer ethischen Grundlage der Suche nach Wahrung menschlicher Gottebenbildlichkeit und Würde und ihrer bleibenden Offenheit. Während der säkulare Ansatz dabei die immer neue negative Hermeneutik der Verletzlichkeit akzeptieren muss, bleibt für das theologische Verständnis die Aufgabe der immer neuen Kontextualisierung der Aussagen von der transzendenten Verwiesenheit des Menschen - in seiner Mitte die besondere Aussage vom Menschen als Gottes Ebenbild.

3.1 Die Septuaginta

Generell ist zu beachten, dass den Übersetzern der LXX mit dem von ihnen verwandten Koine-Griechisch ein um das Zehnfache größerer Wortschatz als beispielsweise dem Platons zur Verfügung stand. Somit war er auch um ein Vielfaches größer als der der hebräischen Bibel. Die Übersetzer waren also zu einer gewissen Auswahl innerhalb des Vokabulars gezwungen, was indirekt auch eine Entscheidung bzw. Interpretation darstellt.177 Die Diasporasituation der LXX-Übersetzer veranlasste sie darüber hinaus sich besonders im Bereich der Anthropologie deutlich auszudrücken. Während in geschlossenen Gesellschaften – beispielsweise des Mutterlandes – Vorschriften ausreichen, um ein einheitliches Verhalten der Bevölkerung in wichtigen Bereichen zu bewirken, so bildete das Diasporajudentum eine Pädagogik der Motivation aus, welche vor dem Hintergrund der griechischen Psychologie und Ethik eine wortmächtige Sprache angeboten erhielt.178

In der innerbiblischen Rezeption von Gen 1,26ff. wird nicht die funktionale Gottebenbildlichkeit rezipiert, sondern über die hellenistische Tradition eine am Urbild orientierte qualitative Interpretation. Dabei wird die Gottebenbildlichkeit als Gottähnlichkeit gefasst und mit Unsterblichkeit gleichgesetzt. Im Zusammenlesen der beiden Schöpfungsberichte der Genesis wird der Sündenfall als Verlust der Gottebenbildlichkeit gedeutet, mit der Folge der Sterblichkeit. Somit ist die Gottebenbildlichkeit bereits hier eine verlierbare Eigenschaft, die nur eschatologisch wiedererlangt werden kann.179

3.1.1 Der Textbefund

Die LXX übersetzt zaelaem in der Regel mit eikon (είκών, Bild), Num 33,52 und 2 Chr 23,17 mit eidolon (είδωλον, Götzenbild); an der Parallelstelle 2 Kön 11,18 allerdings mit eikon), 1 Sam 6,5 mit homoioma (ὁμοίωμα, Bild, Gestalt), Am 5,26 mit typos (τύπος, Form, Abbild). Folgende Änderungen fallen bei der griechischen Übersetzung des Gen Textes auf:

- Die beiden hebräischen Präpositionen in Gen 1,26 (ב, b= und ב, k=) werden vereinheitlicht und als normangebend aufgefasst; die beiden Präpositionalgruppen werden syndetisch (durch Konjunktionen verknüpft) gefügt und so einander formal gleichgeordnet. Die Septuaginta verwendet für die beiden Charakterisierungen des Menschen, anders als der Urtext, zweimal die gleiche Präposition kata (κατα, gemäß) und gibt die Nomen durch zwei in der platonischen Philosophie wichtige Begriffe wieder: „Wir wollen einen Menschen machen gemäß unserem Urbild (eikon) und gemäß Übereinstimmung (homoiosis, ομοίωσις).“180

- Homoiosis ist ein Nomen actionis: es bedeutet „ähnlich machen“ und bringt durch diese dynamische Nuance einen neuen Aspekt ein. Darüber hinaus verstärkt es semantisch die syntaktische Gleichwertigkeit der beiden Substantive. Hauptterminus ist eikon.181

Bereits die beiden inneralttestamentlichen griechischen Übernahmen haben unterschiedliche Ausgangspositionen. Sir 17,3 übersetzt die LXX entsprechend Gen 1,26.27: […] kai kat’ eikona autou epoiesen autous ([…] καὶ κατ’ εἰκόνα αὐτοῦ ἐποίησεν αὐτούς, […] und nach seinem Bild machte er sie). Dahingegen formuliert Weish 2,23 ohne Präposition: […] kai eikona tes idias aidiotetos epoiesen auton ([…] καὶ εἰκόνα τῆς ἰδίας ἀιδιότητος ἐποίησεν αὐτόν, […] und als Bild von sich selbst hat er ihn gemacht).

Da der Herrschaftsauftrag sich im syndetischen Hauptsatz anschließt, scheint er etwas abgehoben von der Gottebenbildlichkeitsaussage, nach einer Art Zusatz bzw. einer Weiterführung. Das bewirkt eine Perspektivänderung: von nun an wird die Aussage nicht vom Menschen zu den Tieren, sondern von den Menschen zu Gott hin interpretiert. Da die Herrschaft über die Tiere keine enge inhaltliche Verknüpfung mit der Urbild-Abbild-Relation Gott und Mensch zu haben scheint, wächst die Tendenz, die Gottebenbildlichkeitsaussage kontextfrei auszulegen. Diese Strömung entfaltet sich in der patristisch-mittelalterlichen Theologie voll, womit der Reigen kontextferner Spekulation über den konstitutionsmäßigen Inhalt der Gottebenbildlichkeit beginnt. Ihr Inhalt ist die Ewigkeit Gottes, aus ihr folgt die Bestimmung des Menschen zur Unvergänglichkeit. Wie die Gottesstatuenhaftigkeit nur besagt, dass der Mensch Gott unter einer bestimmten Rücksicht, nämlich der Herrschaft, repräsentiert, so besagt die Gottebenbildlichkeit, dass der Mensch nur in einer bestimmten Hinsicht, nämlich der Ewigkeit, Gott abbildet.182

3.1.2 Aufgabe und Würde des Menschen aus Sicht der LXX

Die griechische Bibel prägte die gesamte christlich-theologische Auslegungsgeschichte des Theologumenons der Gottebenbildlichkeit. Nach deren Les- bzw. Übersetzungsart ist der Mensch nicht als Bild, sondern nach dem Bild Gottes erschaffen. Über die Logosspekulation des Philo von Alexandrien führt diese Auffassung zur christologischen Ausdeutung im Neuen Testament. Der Bildbegriff zielt nun nicht mehr primär – wie im Hebräischen – auf den Menschen als Abbild, sondern mit veränderter Blickrichtung auf Gott als das Urbild.183 Der Inhalt der Gottebenbildlichkeit ist hiernach nicht eine funktionale, sondern eine seinshafte Abbildhaftigkeit gegenüber dem göttlichen Urbild, konkret bestimmt als Abbild der Ewigkeit (Weish 2,23). Dies beinhaltet nicht nur eine Bestimmung des Menschen (zur Unvergänglichkeit), sondern eine konstitutionelle, allem verantwortlichen Handeln vorausliegende Gottähnlichkeit.184