Die Anerkennung des Verletzbaren

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Aus der Reihe: Erfurter Theologische Studien #110
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Hegel schließt sich dem Verständnis Fichtes vom Selbstbewusstsein als volitionaler Einstellung an und denkt Selbstbewusstsein in einem Subjekt-Objekt-Modell, d. h. sich selbst als ein wollendes Subjekt zu begreifen, das seine Absichten in Handlungen realisiert, setzt die Annahme einer vom Wollen unabhängigen Realität voraus. Innerhalb dieses Subjekt-Objekt-Modells wird die Annahme eines selbstständigen Objekts zum integralen Bestandteil des Selbstbewusstseins, da ein Subjekt im Akt der direkten Selbstbezugnahme sich selbst als reines Ich zum Gegenstand hat.68 Anders ausgedrückt: Als Bewusstsein ist das Selbstbewusstsein zunächst Begierde und verfolgt in der Begierde „die Selbsterhaltung seiner Ichheit in der Vernichtung der Gegenständlichkeit, die ihm des Negative, Unwesentliche ist“69. Damit ist das Selbstbewusstsein zuerst nichts anderes, als das seiner selbst bewusste Leben, „also eine höhere Form des Lebens, nämlich das menschliche Leben, das das seiner selbst nicht bewusste Leben der Natur zur Voraussetzung hat“70.

Damit existieren im hegelschen Ansatz also zwei Bewusstseine: Das eine ist zunächst das Selbstbewusstsein, welches sich im Vollzug auf das Selbst als Objekt richtet, welches also ein Verhältnis referentiellen Bezugs von mir als Vollzugsobjekt auf ein Bezugssubjekt herstellt. Im Selbstbewusstsein ist das Selbst Gegenstand des Bewusstseins. Das „andere Bewusstsein“ ist

„das von meinem Selbstbewusstsein im Vollzug zum Gegenstand meines selbstbezüglichen Urteilens oder Denkens erklärte Bewusstsein. […] Im reflektierenden Denken vollziehe ich in der Tat Akte, mit denen ich mich auf mich selbst beziehen möchte. […]“71.

Die sich nun stellende Frage ist, wie ein solcher Selbstbezug möglich ist, wenn eine Einheit von Bewusstsein und Selbstbewusstsein, von Vollzug des Denkens und Wissens gewahrt sein soll, da ich „weder einfach Vollzugsobjekt noch einfach Objekt des Wissensaktes“72 bin.

Dieser Einheit nähert sich Hegel über den Begriff der Begierde, welche die Grundform aller volitionalen Einstellungen und zugleich notwendiges Implikat von Selbstbewusstsein bildet: Die unmittelbare Selbstbeziehung des Bewusstseins lebendiger Wesen stellt sich in der Perzeption von Begierden dieses Wesens dar, die befriedigt werden können. In der Begierde und ihrer subjektiven Befriedigung findet sich „schon eine auf eine richtige Befriedigung durch Objekte der Welt ausgerichtete Subjektivität“73. Hieraus gewinnt Hegel die Erkenntnis, dass auch jede theoretische Selbstbeziehung in einem praktischen Selbstverhältnis gründet „und dieses immer auf die Befriedigung einer externen Bedingung abzielt, selbst dann, wenn ich selbst vermeintlich der denkende und urteilende ‚Herr‘ dieser Bedingung und der Kontrolle ihrer Erfüllung bin oder zu sein scheine“74. In der Haltung der Begierde vergewissert sich das Individuum seiner selbst als eines lebendigen Bewusstseins, welches mit aller Wirklichkeit die Eigenschaften des Lebens teilt, ihr aber darin überlegen ist, dass jene von ihm als Bewusstsein abhängig bleibt. Der Mensch erfährt sich also in der Begierde als Teil der Natur, als Bewusstsein, das auf die Befriedigung elementarer, organischer Bedürfnisse angewiesen ist. Gleichzeitig, solange er sich als bedürfnisbefriedigendes Wesen versteht, „im Rahmen seiner Begierde tätig ist, besitzt er ein unmittelbares Wissen von seiner Doppelnatur, die ihn zugleich innerhalb wie außerhalb der Natur stehen lässt“75. Die Triebbefriedigung ist also nicht negativ zu sehen, sondern spielt eine wichtige Rolle in der Erzeugung eines Selbstbewusstseins, welches dem vorangegangenen, ersten Bewusstsein überlegen ist und beide „Bewusstseine“ miteinander verbindet, eine wichtige Rolle. Dies deswegen, da das Bewusstsein sich durch sie nicht mehr bloß punktuell erfährt, sondern ihm in der Befriedigung seiner Begierde die unmittelbare Gewissheit seiner selbst ist, „das mit seiner mentalen Aktivität exzentrisch in die Natur versetzt ist“76.

Dennoch reicht auch die mit der Triebbefriedigung verbundene Erfahrung des Selbstbewusstseins noch nicht aus, da darin eine Selbsttäuschung enthalten ist, die darin besteht, dass das Individuum in der Befriedigung der Begierde „die Erfahrung von der Selbständigkeit seines Gegenstandes“77 macht. Das Individuum, das durch den triebgesteuerten Verzehr seiner Umwelt versucht die Gewissheit zu erlangen, dass die ihm entgegenstehende Wirklichkeit Produkt seiner eigenen Gedankentätigkeit ist, kann nämlich das Objekt, auf das sich seine Begierde bezieht, in deren Befriedigung nicht aufheben. Die Wirklichkeit kann nicht von ihm verzehrt werden, da sie unabhängig von ihm besteht. Ein Aufheben der Begierde, ihrer Negation in der Befriedigung, könnte also einerseits dadurch geschehen, dass sich die Begierde selbst aufhebt, also nicht mehr vorhanden ist, oder andererseits dadurch, dass der Zustand, durch den die Begierde befriedigt wird, eine solche Gestalt annimmt, die die Begierde zum Schweigen bringt. Diese Gestalt wird dann erreicht, wenn das Subjekt auf ein Element der Wirklichkeit stößt, welches in umgekehrter Weise versucht das nach Befriedigung suchende Subjekt zu verzehren, also die von ihm geleistete Negation an ihm selbst auszuführen.78 Obwohl hier nicht der Raum ist Hegels Gedankengang in extenso wiederzugeben kann man in der bisher geführten Argumentation den Hinweis drauf entdecken, dass das Subjekt auf ein anderes Subjekt, ein anderes Bewusstsein treffen muss, da nur dieses in der Lage ist von sich aus eine Negation auszuführen. Wenn das Selbstbewusstsein in seiner Begierde die Erfahrung der Selbstständigkeit des Lebens macht, dann macht es gleichzeitig die Erfahrung, dass es seine Befriedigung nicht in der Begierde, d. h. in der Aufhebung, Vernichtung und Zerstörung lebendiger Gegenstände der Natur finden kann, „sondern in einem lebendigen Gegenstand, der ihm in seiner Struktur entspricht, d. h. in einem anderen lebendigen Selbstbewusstsein“79. So schreibt Hegel auch:

„Das Selbstbewusstsein erreicht seine Befriedigung nur in einem anderen Selbstbewusstsein.“80

Im Anderen begegnet dem Selbstbewusstsein nun nicht mehr ein Fremdes, sondern sein eigenes Wesen. Die Befriedigung durch die Begegnung mit diesem Anderen ist deswegen darin gegeben, dass das zweite Subjekt eine Negation, eine Selbstdezentrierung nur deswegen vollzieht, weil es dem ersten Subjekt begegnet. Dem ersten Subjekt tut sich damit ein Element der Wirklichkeit auf, welches allein aufgrund seiner Präsenz den eigenen Zustand verändert. Durch diesen Akt der Selbstbeschränkung ergibt sich die Erfahrung einer wesentlichen Abhängigkeit vom anderen Subjekt und zwar einer reziproken Abhängigkeit, weil als Konsequenz aus der Selbstnegation des zweiten Subjekts, auch eine Negation des ersten erfolgt, sobald es dieses „Artgenossen“ ansichtig wird. „Beide Subjekte müssen wechselseitig in dem Augenblick, in dem sie sich begegnen, gegenüber sich selbst eine Negation vollziehen, die in der Abstandnahme vom jeweils Eigenen besteht.“81

Genau dieser Vorgang wird von Hegel als Anerkennung bezeichnet. In der intersubjektiven Begegnung ereignet sich eine Selbstbeschränkung der Individuen, in der das Ego in der Selbstbeschränkung des Alter eine Aktivität erkennen kann, in der sein Selbst eine Veränderung der Wirklichkeit hervorruft und in gewissem Sinne eine neue Wirklichkeit erzeugt. In diesem Sinne kann die von Hegel beschriebene Anerkennungsbeziehung auch als dialektische bezeichnet werden, da jede Seite die andere setzt bzw. impliziert und sie gleichzeitig negiert, d. h. sich selbst durch Verneinung konstituiert. Diese widersprüchliche Struktur müssen die Individuen durch eine zunehmende Differenzierung ihrer Beziehung überwinden, in welcher die Begriffe und Relationen in komplexere überführt werden, die sowohl die Ein- als auch die Ausschlussbeziehungen beinhalten. Hegel spricht hier auch von einer doppelsinnigen Beziehung, da jedes selbstbewusste Wesen seine Identität in einem anderen, ebenso selbstbewussten Wesen hat, dem es folglich auch Bewusstseinseigenschaften zuschreiben muss und das ihm seine eigenen bestätigt, dessen Andersheit seiner selbst das Subjekt aber gleichzeitig negieren muss. „Es muss sich durch Ausgrenzen wiedergewinnen und das andere dadurch zugleich ‚frei entlassen‘.“82 Hegel entfaltet diese Bewegung der Anerkennung in drei Phasen, die jeweils in sich doppelsinnig sind:83 Zunächst erfährt das Selbstbewusstsein in der direkten Begegnung mit einem anderen Selbstbewusstsein, dass es nicht ein Solitäres auf der Welt ist. Dieses Anderssein des Selbstbewusstseins weist den Doppelsinn auf, dass es sich 1.) selbst verliert, weil es sich selbst nur als Anderes findet und dass es 2.) das Andere nicht als selbstständiges Wesen ansieht, weil es im Anderen nur sich selbst sieht. Dieses selbstverlorene Sich-selbst-Finden im Anderen vereinnahmt diesen Anderen gleichzeitig. Da dieses selbstverlorene Sich-selbst-Finden im Anderen dem selbstständigen Selbstbewusstsein nicht gerecht wird, muss das Selbstbewusstsein sein Anderssein aufheben, wobei auch in dieser zweiten Phase des Aufhebens eine Doppelsinnigkeit besteht: Wenn das Selbstbewusstsein 1.) darauf aus ist, die Selbstständigkeit des anderen Wesens aufzuheben, dann hebt es sich 2.) selbst auf, da es ja dieses Andere ist. Damit wird deutlich, dass es für das Selbstbewusstsein nicht bei dieser Aufhebung des Anderen bleiben kann, weswegen die dritte, doppelsinnige Phase von Hegel als doppelsinnige Rückkehr des Selbstbewusstseins in sich selbst gefasst wird. In dieser Phase erhält das Selbstbewusstsein 1.) durch das Aufheben des Andersseins sich selbst zurück und lässt 2.) durch diese Rückkehr zu sich selbst das Andere wieder frei und ermöglicht ihm so ein selbstständiges Wesen zu sein. Der Begriff der Anerkennung besteht bei Hegel also „aus einer Dialektik des Sich-selbst-Findens im Anderen und der Distanzierung vom Anderen […]. Anerkennung ist für Hegel eine Synthese aus Assimilation und Distanz“84. Hegel macht darüber hinaus deutlich, dass Anerkennung symmetrisch-reziprok und reflexiv angelegt ist, da Subjekte sich nicht nur gegenseitig anerkennen, sondern sich gegenseitig als anerkennend anerkennen.85 Allerdings führt dieser Prozess der Entstehung des Selbstbewusstseins nicht unmittelbar in eine vernünftige Welt geteilter Gründe. Die Erzeugung eines solchen Raumes findet in der Theorie Hegels erst durch den Kampf statt, den die Subjekte aufgrund ihrer Einsicht in ihre wechselseitige Abhängigkeit führen müssen. Das Charakteristikum des phänomenologischen Anerkennungsbegriffs besteht darin, dass Anerkennung in einer Stufenfolge der Erfahrungen defizitärer Anerkennungsverhältnisse realisiert wird, in einem Kampf um Anerkennung.86

 

Dieser Kampf um Anerkennung ist die Folge der Detranszendentalisierung der Anerkennung. Ein Subjekt lernt Teile seiner eigenen Identität kennen und setzt diese dem Anderen wiederum in dem Maße als Unverwechselbares entgegen, in dem es sich in seinen Fähigkeiten und Eigenschaften durch ein anderes Subjekt anerkannt weiß. In dieser Logik liegt nun eine weitere Stufe bzw. Dynamik: dadurch, dass Subjekte im sittlichen Verhältnis der reziproken Anerkennung stets etwas Neues über ihre eigene Identität erfahren, müssen sie die erreichte Stufe der Sittlichkeit auf konflikthafte Weise wieder verlassen bzw. überschreiten, um zu einer weiteren, anspruchsvolleren Anerkennung ihrer Identität zu gelangen. Damit ist das Anerkennungsverhältnis, welche einem sittlichen Verhältnis zwischen Subjekten zugrunde liegt, durch einen Prozess der sich ablösenden Schritte von Versöhnung und Konflikt gekennzeichnet.87 Damit ist dieses sittliche Verhältnis zwischen zwei Subjekten aber auch mit einem moralischen Potential aufgeladen, „das sich nicht mehr einfach aus einer zugrundegelegten Natur der Menschen, sondern aus einer besonderen Art der Beziehung zwischen ihnen ergibt: was der menschlichen Lebensform von Anbeginn an im Sinne einer existierenden Differenz als eine normative Spannung zugrundeliegen soll, sind die moralischen Ansprüche, in denen Subjekte wechselseitig voneinander die Anerkennung ihrer Identität einfordern“88.

Sobald aber die sozialen Lebensformen des Menschen als verletzbare Beziehungen einer reziproken Anerkennung gedacht werden, kann auch der Kampf um Anerkennung nicht mehr im hobbesschen Sinne als Kampf aller gegen alle, als bloßer Selbsterhaltungskampf gedacht werden. In der hegelschen Uminterpretation ist der Kampf um Anerkennung selbst ein sittliches Geschehen, da er strukturell auf das Ziel der intersubjektiven Anerkennung hin ausgerichtet ist.89 In diesem Bildungsprozess des menschlichen Geistes zeichnet sich die Organisationsform der sittlichen Gemeinschaft bzw. eines Gemeinwesens ab, für das Hegel den Begriff der „wechselseitigen Anschauung“ verwendet: Das Individuum schaut sich in jedem als sich selbst an. Damit erreicht Hegel ein Modell der Anerkennung, das über eine bloß kognitive Form hinausgeht, reziproke Beziehungen zwischen Subjekten umfasst und bis ins Affektive hineinreicht. Der Kampf um Anerkennung, der soziale Konflikt zwischen Subjekten bildet somit moralische Antriebsbasis und Potential eines Bildungsprozesses, der schrittweise zu einer immer weitergehenden Anerkennung führt. Anerkennung ist eine Bewegung, die eine Reihe von Stufen der individuellen Bewusstseinsbildung und der menschlichen Kulturgeschichte umfasst. Außerdem beschreibt Hegel Anerkennung als einen teleologischen Prozess, „der bei ungestörtem Verlauf ein Individuum zum Bewusstsein seiner vernünftigen Subjektivität und seiner Stellung in einer vernünftig verfassten Rechts-, Staats- und Kulturgemeinschaft bringen kann“90. Der Kampf um Anerkennung führt letztendlich „zu einer Anerkennung der sich gleichermaßen als schuldig bekennenden Subjekte, die die Anerkennungstheorie der Phänomenologie zum Abschluss bringt. Sie besteht in der Einsicht in die Ungerechtigkeit der moralischen Subjekte gegeneinander und vollzieht sich als wechselseitiger Verzicht auf die Absolutsetzung des eigenen moralischen Standpunkts. In der ‚Verzeihung‘91 verzichten die moralischen Subjekte darauf, die anderen in ihrer Einzelheit nur an dem eigenen für allgemeingültig ausgegebenen moralischen Maßstab zu messen und anerkennen sich in ihrer unverwechselbaren moralischen Individualität, […]“92. Damit wird die Anerkennungsstruktur erreicht, die Hegel schlussendlich als absoluten Geist bezeichnet, in welcher das Bewusstsein sich als Ende und Anfang seiner eigenen Bewegung begreift. Der absolute Geist sind die Selbstbewusstseine selbst, „aber nicht als bloße Ansammlung oder Menge von Einzelpersonen, als bloßes distributives Kollektiv, sondern als eine Gemeinschaft, in welcher die Formen der Vernunft […] zu einer einheitlichen Menschheit verbunden sind. […] Er [der absolute Geist | BK] existiert sozusagen als vergegenwärtigte Vollzugsform des Menschseins“93.

2.2.2 Systematische Aktualisierung: Kampf um Anerkennung als historischer Prozess

Honneth übernimmt diese positive Auffassung des Kampfes um Anerkennung, grenzt sich allerdings klar von den vernunftidealistischen Voraussetzungen Hegels ab, die sich unter den Bedingungen nachmetaphysischen Denkens nicht mehr aufrechterhalten lassen und legt sich somit auf das von Habermas entworfene nachmetaphysische Paradigma der Philosophie fest.94 Deswegen muss er in seiner sozialphilosophischen Aktualisierung des intersubjektivitätstheoretischen Gedankens Hegels dessen Interpretation des Kampfes um Anerkennung wieder aufgreifen und versucht ihn durch eine empirisch fundierte Phänomenologie von Anerkennungssphären von metaphysischen Bezugnahmen zu befreien.95

Dafür greift Honneth auf den Sozialpsychologen George Herbert Mead zurück, welcher der hegelschen Idee des Kampfes um Anerkennung die notwendige sozialpsychologische Grundlage verschafft.96 Das gesellschaftliche Fortschrittsschema, welches sich im Anwachsen von individueller Autonomie zeigt, muss nicht mehr im hegelschen Sinne als idealistisch-geistiger Vorgang verstanden, sondern kann als Ergebnis eines historischen Prozesses interpretiert werden, der seine Motivation aus individuell geführten Anerkennungskämpfen gewinnt, zu welchen die Subjekte genötigt werden. Mead stimmt mit Hegel darin überein, dass eine Gesellschaft sich nur dann reproduzieren kann, wenn ihre Individuen durch ein ausreichendes Maß reziproker Anerkennung ein stabiles Selbstverhältnis ausbilden können. Deswegen kommt dem Kampf um Anerkennung eine strukturbildende Kraft zu, da er die gesellschaftliche Praxis bildet, in welcher Individuen sich für eine Erweiterung der rechtlichen Anerkennungsverhältnisse einsetzen und somit das moralische Wachstum einer Gesellschaft befördern.97 Honneth schließt sich Hegel und Mead, deren Theorien kritisch rekonstruierend und aktualisierend, in ihrer Unterscheidung dreier verschiedener Ebenen der wechselseitigen Anerkennung an, wodurch er eine Typologie gesellschaftlicher Anerkennungsverhältnisse entwerfen kann, die sich unterschiedlichen Sphären der gesellschaftlichen Reproduktion zuordnen lassen und außerdem durch empirische Befunde gestützt werden sollen.98 Kritik übt Honneth dahingehend, dass beide Autoren dem negativen Äquivalent der Anerkennung, nämlich den verschiedenen Formen der Missachtung von Menschen, nur unzureichend systematisches Gewicht zuerkennen. Gerade die Missachtungserfahrungen sind aber für die Dynamik von Kämpfen um Anerkennung und die Entwicklung von Anerkennungsbeziehungen von zentraler Bedeutung.99

2.2.3 Intersubjektive Anerkennungsbeziehungen

Die Grundstruktur der intersubjektiven Anerkennungsbeziehungen, welche die Voraussetzung für eine gelungene Selbstidentität bildet, ist durch drei verschiedene Interaktionssphären gekennzeichnet. Die historische Ausdifferenzierung dieser Anerkennungssphären ist nicht nur die Voraussetzung und Kennzeichen der bürgerlichkapitalistische Gesellschaftsform, sondern die wechselseitige Anerkennung in diesen Sphären ist außerdem jeweils dazu bestimmt, einer bestimmten Art individueller Selbstbeziehung zur Entfaltung zu verhelfen, wobei unterschiedliche personale Qualitäten hervorgehoben werden. Die ausdifferenzierten Anerkennungssphären werden dabei als in den entsprechenden Sozialbeziehungen unhintergehbare Integrationsmechanismen verstanden, die ein Wissen davon vermitteln, was Menschen zu einer erträglichen Teilhabe am gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Leben benötigen und was ihnen deswegen nicht verwehrt werden darf.100

Jede Anerkennungssphäre erfüllt dabei die doppelte Funktion der Erbringung von systemerhaltenden Leistungen sowie der normativ geregelten Befriedigung von Anerkennungserwartungen. Darüber hinaus sind insbesondere an den institutionellen Anerkennungsordnungen drei Komponenten wichtig: Sie müssen erstens auf Normen beruhen, die eine nachvollziehbare Verknüpfung von individueller Rollenbefolgung und sozialer Anerkennung herstellen; zweitens müssen diese Verknüpfungen in einem generalisierten Anerkennungsmedium dauerhaft sein; drittens sollte das entsprechende Medium in einem deutlichen, erkennbaren und generalisierten Symbol zum Ausdruck kommen.101

2.2.3.1 Primärbeziehungen: Emotionale Zuwendung und Selbstvertrauen102

Die erste Stufe der wechselseitigen Anerkennung ist die Sphäre der affektiven Anerkennungsverhältnisse in Lebensbereichen, die durch emotionale Zuwendung, Liebes- und Freundschaftsbeziehungen geprägt sind und sich in primären Nahbeziehungen ausbilden. Diese Anerkennungsverhältnisse äußern sich in Akten, „die wie die bedingungslose Fürsorge oder das verständnisvolle Verzeihen zu erkennen geben, dass sie allein um des individuellen Wohlergehens eines konkreten Anderen willen geschehen“103. Mit anderen Worten handelt es sich um Akte, die eine nichtinstrumentelle, bedingungslose Sorge um das Wohlergehen eines anderen Individuums zum Ausdruck bringen.

Auf dieser Ebene werden menschliche Individuen in ihrer konkreten Bedürfnisnatur anerkannt und so in ihrem praktischen Selbstverhältnis gestärkt. In dieser ersten, grundlegenden Sphäre der Anerkennung, die die notwendige Voraussetzung für jede weitere Identitätsentwicklung darstellt, wird das Individuum in seiner besonderen Triebnatur bestätigt, wodurch ihm bei der Entwicklung zu einem unverzichtbaren Maß an Selbstvertrauen geholfen wird.104 Das heranwachsende Ich bildet sich im Rahmen dieser Primärbeziehung in vorsprachlichen Interaktionserfahrungen zwischen emotionalen Bindungen und Ablösungsängsten heraus. In einer ersten Phase der „undifferenzierten Intersubjektivität“105 ist das Kind quasi symbiotisch an seine primäre Bezugsperson gebunden und ist in einer Weise von dieser abhängig, dass es die Beziehung von Selbst und Umwelt als Einheit erlebt. Umgekehrt ist aber auch die Bezugsperson symbiotisch mit dem Kind verbunden, da sie von der Nicht-Kommunizierbarkeit der Bedürfnisse seitens des Kindes dazu gebracht wird, sich vollständig mit diesen Bedürfnissen zu identifizieren.

Im weiteren Verlauf der Entwicklung des Kindes erfolgt dann die Herausbildung der Fähigkeit, die Distanz der Bezugsperson zu ertragen und somit die unmittelbare Erfüllung der eigenen Bedürfnisse aufschieben zu können. Letztendlich bildet sich ein Vertrauen darauf heraus, dass die Zuwendung der Bezugsperson auch dann erfolgt, wenn sie unmittelbar zunächst versagt bleibt. Im weiteren Verlauf der Persönlichkeitsentwicklung werden außerdem Liebesbeziehungen und Freundschaften eingegangen, die in ihrem Gelingen aber von der frühkindlichen Entwicklung des Selbstvertrauens abhängig sind und darüber hinaus von einer Sehnsucht nach der ursprünglichen Symbiose zwischen Kind und primärer Bezugsperson motiviert werden. Die moralische Relevanz dieser Anerkennungssphäre besteht in der Erfahrung des Individuums in seiner jeweiligen leiblichen Integrität anerkannt zu werden.106 Schwieriger wird es allerdings moralische Pflichten zu benennen, die aus diesem primären Anerkennungsverhältnis erwachsen, da positive Pflichten der Liebe, Zuneigung und Fürsorge nur von den Individuen eingefordert werden können, die mit der betreffenden Person bereits in einer intimen Beziehung stehen.107 Außerdem zeichnet sich gerade der Bereich der emotionalen Zuwendung durch ein Moment der Unverfügbarkeit aus, weswegen er nicht als Zustand, sondern als entgrenzende Dynamik, die zwischen Einheit und Trennung changiert, zu sehen ist.108

 

Der kindliche Ablösungsprozess von der primären Bezugsperson stellt außerdem einen initialen Kampf um Anerkennung dar, welcher letztendlich aber als ein konstruktives Verhalten zu verstehen ist, durch das das Kind selbstständig wird und auch Andere in ihrer personalen Eigenständigkeit akzeptieren kann. Wegen des eingeschränkten Interaktionsbereiches wohnt dieser Sphäre allerdings ein moralischer Partikularismus inne, der durch keinen Verallgemeinerungsversuch auflösbar ist, da sich die affektiven Gefühle nicht einfach auf andere Interaktionspartner übertragen lassen.109

Im Hinblick auf die historische Ausdifferenzierung der Anerkennungssphäre Liebe macht Honneth zwei parallele Prozesse aus, die sich mit sozialhistorischen Erkenntnissen decken: die Kindheit wird institutionalisiert und die Eltern-Kind-Beziehung bzw. die Paarbeziehung emotionalisiert.110 Interessant ist auch, dass sich Familien- und Paarbeziehungen durch eine „prekäre Balance zwischen Selbständigkeit und Bindung“111 auszeichnen. Einerseits besteht eine enge, reziproke Verwie-senheit auf den konkreten, partikularen Anderen. Andererseits bedeutet dies nicht, dass die Individuen in einer solchen Beziehung wie in einer symbiotischen Einheit aufgehen und darin ihre Individualität verlieren, im Gegenteil: Familien- und Paarbeziehungen sind durch eine reziproke Anerkennung der jeweiligen Individualität des Anderen gekennzeichnet. Autonomie wird hier gewährleistet oder in der Eltern-Kind-Beziehung überhaupt erst ermöglicht.112

Die Pointe einer Liebesbeziehung als Anerkennungssphäre besteht also darin, dass Individuen Anerkennung gerade für ihre Individualität erhalten. Im Aushalten und Meistern der Spannung zwischen symbiotischer Selbstpreisgabe und individueller Selbstbehauptung hat das Subjekt die Möglichkeit, die erste Form des Selbstverhältnisses zu entwickeln, das Selbstvertrauen, welches durch affektive Zuwendung ausgebildet und gestärkt wird. In dieser Sphäre ausgebaut, ist es für die folgenden Sphären prägend, da hier die emotionale Sicherheit aufgebaut wird, die für die Ausbildung aller weiteren Einstellungen der Selbstachtung vorausgesetzt werden muss.

Darüber hinaus bildet diese ontogenetische Perspektive auch das motivationale Bindeglied zwischen einer rekonstruktiven Gesellschaftskritik und potentiellem Widerstand. Wenn die Motivation für gesellschaftliche Kämpfe um Anerkennung nicht primär in der Orientierung an Ideen oder Prinzipien liegt, sondern in der Missachtungs- und Verletzungserfahrung intuitiver Gerechtigkeitsvorstellungen, dann bildet die erste Anerkennungssphäre eine wichtige Folie für die Identifikation von Missachtungserfahrungen.113

2.2.3.2 Recht: Rechtliche Anerkennung und Selbstachtung114

Die zweite Stufe bildet die rechtliche Anerkennung, also die Anerkennung „eines jeden als ein autonomes, zurechnungsfähiges Handlungssubjekt“115, die den bisher begrenzten kommunikativen Rahmen der Liebes- und Freundschaftsbeziehungen und somit auch den Interaktionsbereich des Individuums erweitert. Es handelt sich auf dieser Stufe um kognitiv-formelle Anerkennungsverhältnisse, wobei das Recht die hier vorherrschende Anerkennungsform darstellt. Das Subjekt wird auf dieser Ebene nicht mehr nur in seiner Bedürfnisstruktur anerkannt, sondern als eine abstrakte Rechtsperson in seiner formellen Autonomie. Durch die in Rechtsverhältnissen erfahrene soziale Anerkennung und durch den darin unabhängig von persönlicher Wertschätzung erbrachten Respekt kann das Subjekt sein in der Primärbeziehung erworbenes Selbstvertrauen durch ein weiteres Element der Selbstbeziehung erweitern, die Selbstachtung, in welcher es sich als verantwortlich Handelnder erfährt. Das Subjekt kann sich selber achten, weil es die Achtung aller anderen verdient.116

Die Form der rechtlichen Anerkennung setzt für Honneth ein postkonventionelles Entwicklungsniveau des Moral- und Rechtsverständnisses innerhalb einer Gesellschaft voraus. Dies zeigt sich daran, dass sich die Mitglieder einer Gesellschaft unter Reziprozitätsgesichtspunkten gegenseitig als freie Personen achten und ihre individuelle Autonomie bzw. „moralische Zurechnungsfähigkeit“117 innerhalb der Gesellschaft so garantieren, „dass ihr ein rechtlich institutionalisierter Daseinsraum selbstverantwortlicher Freiheit gewährleistet ist“118. Die Reziprozität der rechtlichen Anerkennungssphäre muss dabei durch zwei Gesichtspunkte gewährleistet werden: durch Legalität und Legitimität. Die Legalität bezieht sich auf den Gesetzesgehorsam von Subjekten innerhalb einer Gesellschaft, welcher von moralischen Motiven abgekoppelt werden muss. Somit folgt das einzelne Individuum den allgemeinen, für alle gültigen Gesetzen, schränkt seine Handlungsfreiheit ein und erkennt damit die gleiche Personenqualität aller anderen an. Die Perspektive der Legitimität verpflichtet die Mitglieder einer Gesellschaft dazu, ihre gesetzlichen Regelungen darauf hin zu überprüfen, ob sie dem Kriterium allgemeiner Zustimmungsfähigkeit entsprechen. „Gesetze müssen um der gleichen Freiheit aller willen anerkennungswürdig sein.“119 Ins Negative gewendet wären also jene rechtlichen Verhältnisse zu kritisieren, die die gleiche Freiheit aller verletzen und somit rechtliche Anerkennung verweigern. Eine Aufmerksamkeit gegenüber „Deformationen der Freiheit“ bildet dann die Grundlage für den Einsatz für wirksame rechtliche Schutzinstrumentarien, wobei evident erscheint, dass es sich auch im Bereich der rechtlichen Anerkennung nicht um einen konfliktfreien Vorgang, sondern ebenfalls um einen Anerkennungskampf handelt, da unterschiedliche Wertpräferenzen aufeinanderstoßen.120

Historisch zeigt sich außerdem, dass die rechtliche Garantie individueller Freiheit nur unter Bedingung politischer Teilhabe an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung ihren Sinn erhalten kann, wozu die Sicherung substanzieller, sozialer Mindeststandards notwendig ist.121

Gerhard Luf weist darauf hin, dass insbesondere in Bezug auf die Legitimationsperspektive in der rechtlichen Anerkennungssphäre die Frage aufkommt, welchen Inhalt und Umfang die reziproke Anerkennung der Person in rechtlicher Hinsicht hat, da es „nicht allein um die Anerkennung der abstrakten Rechtssubjektivität eines jeden Menschen gehen [kann | BK], sondern um ein differenziertes System rechtlicher Garantien, das freilich dem geschichtlichen Wandel unterworfen ist“122. Genau das meint Honneth, wenn er schreibt, dass mit reziproker Anerkennung moralischer Zurechnungsfähigkeit auf rechtlicher Ebene, die alle Subjekte teilen sollen, „nicht menschliche Fähigkeiten gemeint sein [können], die in ihrem Umfang oder ihrem Inhalt ein für allemal festgelegt sind; es wird sich vielmehr zeigen, daß aus der prinzipiellen Unbestimmtheit dessen, was den Status einer zurechnungsfähigen Person ausmacht, eine strukturelle Offenheit des modernen Rechts für schrittweise Erweiterungen und Präzisierungen resultiert“123. So kann es (auf rechtlicher Ebene) keine Abstufungen in der Anerkennung des Menschen als Person geben, wohingegen die soziale Wertschätzung bestimmter Eigenschaften und Fähigkeiten eines Menschen durchaus einen Maßstab erfordert, der ihre graduelle Bewertung erlaubt. Honneth wendet ein, dass „die Festlegung der Fähigkeiten, die den Menschen konstitutiv als Person auszeichnen […] von Hintergrundannahmen darüber, welche subjektiven Voraussetzungen zur Teilnahme an einer rationalen Willensbildung befähigen“124 abhängig ist. Die insbesondere rechtliche Berücksichtigung dieser Eigenschaften sieht Honneth als anspruchsvolles Verfahren und als dynamischen Prozess kumulativer Erweiterung individueller Rechtsansprüche, „in dem der Umfang der allgemeinen Eigenschaften einer moralisch zurechnungsfähigen Person sich schrittweise vergrößert hat, weil unter dem Druck des Kampfes um Anerkennung stets neue Voraussetzungen zur Teilnahme an der rationalen Willensbildung hinzugedacht werden mußten“125. Dieser dynamische Prozess der Erweiterung zeichnet sich also in Bezug auf den erfassten Personenkreis durch eine Tendenz zur Generalisierung und in Bezug auf die Differenziertheit der Schutzgarantien durch eine Tendenz zur Materialisierung aus.126