Das letzte Sandkorn

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Das letzte Sandkorn
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Bernhard Giersche

Das letzte Sandkorn

Das letzte Sandkorn

© 2013 Begedia Verlag

© 2013 Bernhard Giersche

Umschlagbild: Shutterstock

Layout und Satz: Begedia Verlag

Lektorat: Begedia Verlag

ISBN: 978-3-943795-74-5 (epub)

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Für Gisela und meinen Bruder Harald, die beide einfach nicht aufhören wollten, an mich zu glauben.

Bernhard Giersche, Jahrgang 1967 ist Vater von vier Kindern und hat ein bewegtes berufliches wie privates Leben hinter sich. Daraus schöpft er sein breites Spektrum an Wissen über menschliche Charaktere und menschliche Untiefen. Er arbeitet und lebt in Lippstadt/NRW.

Inhalt

Anfang

Ansage

Welt I

Adam I

Evelyn I

Laurenz I

Brigitta I

Fred I

Adam II

Welt II

Evelyn II

Brigitta II

Laurenz II

Adam III

Treffen

Adam IV

Ankunft

Showdown

Flucht

Zielpunkte

Zwischenspiele II

Willkommen

Rache

Warten

Finale

EPILOG

Anfang

Er hatte sich an das Ufer der Themse gerettet. Hinter ihm splitterte und krachte es, als sich die Feuer weiter im Parlamentsgebäude ausbreiteten. Der Verkehr auf der Westminster-Bridge über ihm war völlig zum Erliegen gekommen und Menschen hasteten hin und her, in völliger Auflösung begriffen. Schüsse fielen und er konnte sehen, wie jemand getroffen zu Boden sank. Ein Touristenschiff glitt quer zum Flussbett an ihm vorbei und er nahm die schwarze Rauchwolke wahr, die aus dessen Inneren quoll.

Die Hölle war vor dreißig Minuten losgebrochen. Der brennende Big Ben schlug, aber nach dem dritten »Gong« verstummte die Turmuhr auf einmal.

Das Riesenrad, das berühmte »London Eye«, war in die Themse gekippt, nachdem jemand die Konstruktion mit einem Abrissbagger angegriffen hatte. Über ihm war ohrenbetäubender Lärm zu hören und eine dichte Rauchwolke zog vom Buckingham Palast in seine Richtung. Das herannahende Flugzeug war das Letzte, was er hörte. Der Airbus A 320 schlug mit voller Wucht in das Parlamentsgebäude ein und der Feuerball tötete ihn, bevor der Trümmerregen seine brennende Leiche bedeckte.

Ein Sergeant der Armee hatte zwei Holzkisten mit C4-Sprengstoff, die er aus dem Munitionsbunker der Armee in der Kensington Street geholt hatte, in seinen Land Rover gepackt und war direkt zur St. Pauls-Kathedrale gefahren. Kurz danach war das Chaos ausgebrochen, aber es gelang ihm, die Kisten in das monumentale Gebäude zu schaffen und dort den Inhalt zu verteilen und zu verdrahten, bevor die ersten hundert Märtyrer in die große Halle strömten. Die Detonation zerriss jeden Menschen im Umkreis von zweihundert Yards und ließ die Kuppel der Kathedrale zehn Meter aufsteigen, bevor das Gebäude in einem Feuerball verging und tonnenschwere Trümmer auf die Stadt herabregneten.

Die Königin und ihre Familie waren da bereits zwanzig Minuten tot. Förmlich zerrissen von den Märtyrern.

London ist als Regierungssitz und Heimat der königlichen Familie grundsätzlich eine militärische Bastion. Nirgendwo im Empire gab es mehr Militär, Polizei und andere Sicherheitsorgane als hier.

Und so gab es mehr Waffen und Munition als Londoner Bürger, und da jeder einen Auftrag hatte und niemand mehr zuständig war, bewaffneten sich die Menschen, die die ersten zwei Stunden überlebt hatten, und tilgten jeden vom Boden der Erde, der ihrer Mission im Wege stand oder der Teil der Mission war.

Und jeder in der großen Stadt besaß Zündhölzer oder Feuerzeuge. Und so brannte nach zwei Stunden die Stadt in voller Ausdehnung, und Feuerstürme saugten alles Leben auf und äscherten Hunderttausende ein.

Und was in London geschah, passierte in allen Städten. Nicht nur auf den britischen Inseln, sondern in allen Städten der Welt.

Und selbst im All wurde gestorben, als der russische Kosmonaut, der im Team der internationalen Raumstation ISS diensthabender Offizier war, sämtliche Steuerdüsen aktivierte, um die Station auf einen neuen Kurs zu bringen. Er lebte jedoch nicht lange genug, um den Erfolg seiner Bemühungen zu sehen, denn der Rest der Besatzung hatte ebenfalls Pläne mit der Raumstation und so driftete die ISS auf ihrer unheilvollen Umlaufbahn um die Erde, bis sie nach weniger als zwei Stunden als spektakuläre Sternschnuppe am Himmel über Wyoming verging. Dort tötete allerdings jeder Jeden in jenen Minuten, und so blieb kein Raum für romantische Gedanken.

Oh ihr Menschen, fürchtet Euren Herrn, denn das Beben der Stunde ist wahrlich etwas Gewaltiges. An dem Tage, an dem ihr es seht, wird jede Stillende ihren Säugling vergessen und jede Schwangere ihre Bürde abwerfen.

Und du wirst die Menschen trunken sehen, obwohl sie nicht trunken sind. Aber die Strafe Allahs ist gewaltig.

Koran

Ansage

Hallo, ich bin es, Gott (Allah, Jahwe, Mami Wata, Manitou).

Keine Sorge, ich spreche jetzt so wie du sprichst, damit du mich verstehen kannst. Das ist wie im wahren Leben, meine Lieben. Auf den Inhalt kommt es an, nicht auf die Sprache. Du solltest wissen, dass genau jetzt in dieser Sekunde in jedem menschlichen Hirn auf diesem Planeten dasselbe passiert. In Australien, in Afrika auf den Bahamas und im tiefsten Dschungel des Kongo. Es gibt keinen Menschen auf diesem Planeten, in dessen Hirn jetzt etwas anderes dominiert als meine Worte. Nehmt es hin, nimm du es hin und akzeptiere es.

Die Sätze trafen mich wie ein Hammerschlag direkt auf den Hinterkopf. Ich dachte, mein Hirn würde zerspringen und ich war geschockt und wie gelähmt.

Diese Stimme war absolut präsent, laut wie eine donnernde Rede in einer Kathedrale und glasklar und irgendwie ohne Stimme ... ich konnte nicht sagen, ob sie männlich oder weiblich war ... welche Stimme haben die Gedanken die wir denken?

Ich stand in der Küche und war gerade dabei, mir einen Tee zu kochen, als diese Worte in meinem Hirn explodierten. Sofort, als die Stimme verstummte, war ich davon überzeugt, dass ich völlig den Verstand verloren hatte.

Ich hatte schon oft von Leuten gehört, die Stimmen hören, welche ihnen irgendwelche Teufeleien einflüstern, und die dann wegen geistiger Unzurechnungsfähigkeit nach einem dann angerichteten Blutbad freigesprochen und in die Nervenheilanstalt gebracht wurden. Aber das, was ich erlebte in dieser schrecklichen Minute ... Sekunde ... Millisekunde, war mit dem, was ich über »Stimmen hören« zu wissen glaubte, nicht vereinbar. DIESE Stimme war für mich ein Zeichen meines völligen geistigen Zusammenbruchs.

Dabei gab es für mich keinerlei Symptome vorher, ich war ein ganz normaler Mittvierziger aus dem Mittelstand, geschieden und solo, beruflich erfolgreich und auf keinen Fall geisteskrank, und doch ... hallten die Worte noch nach, als es wieder losging.

Wie ich erkenne, kannst du nicht glauben, dass dies hier wirklich geschieht. Das erstaunt mich nicht, denn es gibt nichts, was nicht sein darf in Deinem Denken. Dabei birgt diese Sekunde für dich eine große Offenbarung, denn nun ist bewiesen, dass es jedem Menschen auf dieser Welt, ganz gleich wo, wann und wie er lebt, genauso geht.

Ihr könnt einfach nicht akzeptieren, dass etwas geschieht, was mit eurer sogenannten Vernunft und Logik nichts zu tun hat. Selbst meine größten Geschenke und Gaben habt ihr erst dann akzeptiert, als ihr sie mit Euren Geräten messen und sie beweisen konntet. Erst hat mich das amüsiert, aber jetzt nicht mehr.

Ihr erfahrt jetzt ... du erfährst jetzt, warum ich zu dir spreche.

Das menschliche Hirn ist doch ein wirklich sonderbares Organ. Nach diesem zweiten Angriff auf meinen Verstand hatte ich es einfach begriffen.

 

Na klar, da spricht Gott zu mir, und er hat das jetzt nicht, wie sonst zu früheren Gelegenheiten bei irgendwelchen Hirten oder jungfräulichen Bauerstöchtern als Exklusivauftritt gebracht, sondern er hat, schwuppdiwupp, alle Menschen auf Empfang geschaltet.

Er wollte das ganz große Publikum, und ich schätze, kraft seines Amtes, hat er es auch bekommen.

Was wohl in Putins oder Obamas Kopf gerade passierte? Oder im Verstand eines Atheisten? Wie gingen der Papst und die Ayatollahs damit um und wie der Eingeborene im Dschungel von Borneo? Und was war mit den ganzen Piloten und Autofahrern, Ärzten und Polizisten, den ganzen Soldaten, die überall auf der Welt gerade aufeinander schossen?

So einem Banker und Aktienjongleur muss doch der Zeitpunkt für so eine göttliche Durchsage unter Umständen eher unpassend erscheinen, während er gerade in Tokio, Frankfurt oder New York seine Milliarden umschichtete.

Und wie bringt Gott es fertig, dass all jene ihm zuhören, die gerade schlafen oder im Koma liegen, vielleicht gerade eine Narkose haben, weil sie gerade auf dem Operationstisch lagen, Schläuche in den Armen und eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht?

Die Frage kann man sich selbst beantworten. Er ist Gott ... oder eben Allah, Manitou und Jahwe. Wenn der das nicht kann, wer dann? Warum leckt sich der Hund an den Eiern? Weil er es kann.

Klare Sache.

Was mich bei diesen Gedankengängen am meisten wurmte, war die Tatsache, dass ich machtlos war, gezwungen war, zuzuhören. Man kann sich seine Ohren zuhalten oder die Stereoanlage voll aufdrehen, gegen Stimmen im Kopf ist allerdings kein Kraut gewachsen. Gott setzte seine Durchsage fort:

Stell dir das kleinste Tier auf der Welt vor und stell dir vor, es würde auf die Idee kommen, innerhalb einer Sekunde einen Elefanten aufzufressen. Stell dir eine Ameise vor, die meint, sie könne alleine eine Brücke zum Mond bauen. Denk an eine Amöbe, die die Ozeane der Welt leertrinken möchte. So seid ihr Menschen. So bist du. Ihr habt die Welt, die ich euch zur Verfügung gestellt habe ...(ich schwöre, dass hat er wirklich so gesagt) ... völlig aus den Fugen gebracht. Ihr habt meine Geschenke zerstört, meine wahren Tempel entweiht, ihr habt es gewagt, meine Gedanken und Hoffnungen, meine Wünsche und meinen Willen zu interpretieren und für euren Vorteil umzuformulieren. Ihr tretet alles, was mich als Wesenheit ausmacht, mit euren Füßen und ihr werdet nicht müde, Neues zu ersinnen, um noch mehr Unheil zu stiften.

Ich schäme mich dafür, jenen Handlungsstrang begonnen zu haben, der euch entstehen ließ. Ihr betet mich an? Ihr seid bigott und falsch. Ihr maßt euch an zu wissen, was ich will? Ihr seid Amöben, Ameisen und das kleinste Tier der Welt. Ich habe mich nun lange genug über euch gegrämt. Ich mache dem jetzt ein Ende. Du hast zehn Tage Zeit, die Welt zu retten, bevor ich sie zertrete mit allem Gewürm darauf. Zehn Tage und Nächte gebe ich dir, dir alleine, um die Welt zu retten. Nutze sie oder vergehe zusammen mit allen anderen Deiner Art.

Das war mal eine Ansage. Als ich die Augen wieder öffnete, fand ich mich am Boden meiner Küche wieder. In der Hand hielt ich, völlig albern, drei Teebeutel Rooibos-Vanille, und die Beutel schienen mich anzugrinsen, als wollten sie sagen, dass mehr Verstand in ihnen steckte als in meinem Schädel. Nicht nur, dass ich völlig benommen vor der Spülmaschine kauerte, irgendetwas wirklich ELEMENTARES war anders als noch vor einer Minute.

Kennen Sie das? Sie wachen des Nachts auf – schweißgebadet – und der Traum, den Sie gerade hatten, ist so unheimlich präsent, dass er noch realer wirkte, als die Realität selbst. Es dauert einige Minuten, bis Sie begriffen haben, dass Sie nicht soeben mit brennendem Arsch aus dem 376. Stock eines futuristischen Wolkenkratzers gestürzt sind, ein flamingo-rosa-farbenes Kleidchen an, während Darth Vader Ihnen hinterherbrüllte, Sie seien ja gar nicht sein Vater und er würde das alles seiner Mama erzählen ...

So ungefähr ging es mir, als ich da auf dem Küchenboden saß.

Zwar hallten die Worte noch nach, aber wie bei einem Traum schien sich das Erlebte wie feiner Nebel zu verflüchtigen und machte der Vernunft Platz.

Ich rappelte mich auf und es gelang mir, die Teebeutel in die Kanne zu hängen und den Wasserkocher anzustellen. Was zum Geier war das eben? Wäre ich jetzt irgendein drogenabhängiger Freak, dann wäre das Geschehene erklärbar. Und wenn ich mir regelmäßig schöne Gefühle mittels Jack Daniels oder anderer Kumpels verschaffen würde, dann könnte es durchaus auch passieren, dass mein Hirn plötzlich selbstständig so einen Dünnpfiff produzieren würde. Das alles traf allerdings nicht auf mich zu. Klar, bei manchen Gelegenheiten schlug ich auch schon mal über die Stränge, aber ganz gewiss nicht so krass, dass mein Hirn davon erweichen würde.

Also ein Gehirntumor. Kein Zweifel. Irgendwo in meinem Kopf wuchs so ein blumenkohlartiges Gebilde heran, verseuchte meine Gedanken und drückte wichtige Regionen zusammen, und ich würde demnächst als sabbernder Pflegefall von göttlicher Verdammnis faseln, während mich ein Weißkittel in die Zwangsjacke wickelt.

Immer noch besser, als würde Gott wirklich in Erscheinung treten und das Ende der Welt verkünden. Das steht erst mal fest.

Ich goss kochendes Wasser über die Teebeutel und ging ins Bad. Der Blick in den Spiegel wies keine Besonderheiten auf. Blaue Augen, gepflegter Vollbart und nackenlange, braune, gewellte Haare.

Keine auffälligen Flecken im Gesicht, bis auf die Lachfalten und leichten Krähenfüße um die Augen herum auch keine neuen Verfalls-erscheinungen. Durch das Badezimmerfenster hörte ich die Autos vorbeirauschen. Bremsen, Anfahren, zwischendurch ein Scooter, impertinent schrill – dass man die Dinger nicht verbietet – in der Ferne ein Martinshorn und ganz weit weg das laute Hupen eines Frachters im Hafen. Leute unterhielten sich lautstark da draußen. Zwar konnte ich nichts verstehen aber die Stimmen einer Frau (keifend) und mehrerer Männer (auch keifend) drangen an mein Ohr. Eine gute Portion kaltes Wasser ins Gesicht und es ging mir besser. Was für ein Wahnsinn. Ich rang mir ein Lächeln ab. Ich war ganz bestimmt nur in einen Sekundenschlaf gefallen. Passiert jedem mal.

Einfach da gestanden und die Gedanken driften lassen. Sekundenschlaf vor der Teekanne und siehe da: Gott spricht.

Lachend und kopfschüttelnd ging ich zurück, goss mir eine Tasse des ja so überaus intelligenten Tees ein und begab mich ins Wohnzimmer, Ausschau nach der Fernbedienung für den Fernseher haltend.

Autos rauschen vorbei? Scooterlärm? Martinshorn? Leute, die laut sprechen?

Man muss wissen, ich wohne in einem Vorort von Kiel. Das Kaff zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass es den Charakter eines Sanatoriums hat. Hier ist nichts los. Im Sommer riecht es nach Gülle und Raps, und im Winter kommt nicht einmal der Streudienst vorbei, weil es hier so langweilig ist.

Ein Arbeitskollege in der Versicherung, bei der ich angestellt bin, hatte mir die Wohnung vermittelt. Sie war günstig, nicht zu weit weg von der Stadt und wie für mich gebaut. Die Straße, in der sie lag, war verkehrsberuhigt und die Leute im Dorf von klischeehafter nordischer Kühle. Das war mir recht, denn ich hatte im Job täglich mit aufgeregten Menschen zu tun, die irgendwelche großen oder kleinen, wahren oder erdachten Katastrophen erlebt hatten und mir wortgewaltig Schecks aus der Tasche locken wollten. Hier fand ich die Ruhe, die ich benötigte, um abschalten zu können. Und meistens gelang mir das auch, wenn nicht gerade Gott ein Statement abzugeben gedachte.

Autos ... Stimmengewirr ... Martinshorn ... verdammter Scooter.

Meine Kopfhaut begann zu kribbeln und die Haare auf meinen Armen richteten sich auf.

Irgendetwas ging da draußen vor.

Das Bild, das sich mir beim Blick aus dem Fenster bot, war besorgniserregend. Die meisten Haustüren der Einfamilienhäuser waren geöffnet, und scheinbar alle Bewohner meiner Straße standen auf dem Gehweg. Eine Gruppe von Menschen stand direkt gegenüber, und ein Mann, den ich nur vom Sehen kannte, redete laut auf eine Frau ein. Er schlug dabei wie ein Huhn mit den Händen gegen seine Hüften, und die Frau hielt ihre Hände vor ihr Gesicht, dabei schien sie ständig mit dem Kopf zu nicken. Autos fuhren vorbei. Viel zu schnell in Anbetracht der Geschwindigkeitsbegrenzung in meiner Straße.

Das laute Zuschlagen von Autotüren und Starten von Motoren vermischte sich mit den anderen Geräuschen zu einem akustischen Cocktail, der so ganz und gar nicht in diese Gegend passen wollte. Die sonst so distanzierten, geradezu abweisenden Menschen aus dem Dorf waren aufgeregt und irgendwie außer sich, ich weiß nicht, wie ich das besser beschreiben könnte. Flattern. Sie flatterten herum wie aufgeschreckte Hühner.

Überall auf der Straße standen meine Nachbarn und deren Nachbarn vor ihren Autos und alle schienen auf der Flucht zu sein. Türen klappern, Motor an und weg. Alle in dieselbe Richtung. Ich schaute so weit wie möglich nach links aus dem Fenster, da sich alle in die andere Richtung aufmachten.

Ich erwartete, dort mindestens ein gewaltiges UFO zu sehen, wie in Independance Day, zumindest aber eine Tsunamiwelle. Aber außer der untergehenden Junisonne sah ich nichts.

Gar nichts. Alles gut. Wo wollten die alle hin? Und warum?

»Du hast nur dein nacktes Leben, jetzt merkst du, das ist nicht viel. Und am Ende bringst du wieder Gott ins Spiel.

Wie in Sodom und Gomorrah, wie in Babel und bei Noah. Am Ende bringst du Gott ins Spiel.«

Acapulco Gold

Welt I

Die Stimme der endgültigen und letzten Instanz, die Stimme, die Gott, Jahwe, Buddha, Allah und Manitou und unzähligen anderen menschengemachten Gottheiten entsprach, war kaum verstummt, als in jeder Gesellschaft auf dem Planeten, in jeder Gemeinschaft und in jedem Land auf jedem Kontinent dasselbe geschah. So, wie die Menschen stets handelten, immer gehandelt hatten und, würde es eine Zukunft geben, auch in dieser so handeln würden, so handelten sie jetzt auch.

Sie veränderten, indem sie vernichteten.

Jede Form von Autorität ging in jener Sekunde verloren, jede Hierarchie und jede Kontrolle war ausgelöscht.

Und niemand sah sich mehr als Teil des Ganzen, als Zahnrad im gewaltigen Weltengetriebe, sondern als alleiniger Retter der Menschheit, versehen mit göttlicher Prokura.

Nun gab es keine Regeln und keine Obrigkeiten mehr, denn sie alle, ob Herrscher oder Beherrschte, waren gleich geworden. Und die Position im Schwarm, die sie bislang innehatten, wurde bedeutungslos.

Zehn Tage, um die Welt zu retten.

Ein Befehl Gottes. Nichts konnte die Retter aufhalten, denn in göttlicher Mission zu handeln, von Gott selbst den Auftrag bekommen zu haben, diese Bürde zu tragen, konnte durch nichts relativiert oder interpretiert werden.

Erst recht nicht durch Menschen oder deren Handeln.

Und so verließen alle ihre Plätze, die sie in den Gesellschaften eingenommen hatten. Der Mechaniker, der Ingenieur und der Arzt. Der Medizinmann und der Geistliche. Der Politiker und der Obdachlose, um die Welt zu retten.

Und was taten die Menschen, um Gottes Chance zu nutzen? Eben das, was Menschen immer taten. Die Verantwortlichen für Gottes Zorn mussten vernichtet werden. Die, die nach Gottes Worten Schuld hatten. Das waren zuerst die Geistlichen aller Religionen. Und auch, wenn diese, wie alle anderen Menschen auch, von Gott berufen worden waren, das Ende der Menschheit abzuwenden, wurden sie doch Minuten nach Gottes Offenbarung hinweggefegt, von Hunderten, von Tausenden, die der Überzeugung waren, erst das Falsche vernichten zu müssen, bevor sie das Richtige erschaffen konnten.

Allein zwölf Passagierflugzeuge schlugen auf dem Gebiet des Vatikans in Rom ein, gelenkt durch Piloten, die durch diese Tat die Welt zu retten gedachten. Als das erste Flugzeug in den Petersdom raste, lebte der Papst schon über zwölf Minuten nicht mehr, da sich alle Anwesenden im Vatikanstaat gegen ihn gewandt hatten. Dem heiligen Vater folgten die Kardinäle, die Bischöfe, die gesamte Hierarchie wurde von unten nach oben ausgelöscht durch Schwerter, Schusswaffen oder die bloße Hand.

Die, die überlebten, weil sie keine Position innehatten, starben Minuten später bei den Flugzeugabstürzen.

Und so erging es den Menschen in allen Religionen überall auf dem Erdball, in Mekka genauso wie in Varanasi, der Hauptstadt der Hindus oder Bodnath, der Wiege des Buddhismus.

 

Und nicht nur die geistliche Obrigkeit wurde Ziel der Weltenretter. Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft folgten den Millionen von Würdenträgern der Religionen der Menschheit. Verantwortlich für Gottes Zorn waren sie. Das war der Impuls der sieben Milliarden Berufenen.

Der Präsident der Vereinigten Staaten hatte nach der göttlichen Eingebung keine Minute mehr zu leben, Mitarbeiter von FBI und CIA, die das Weiße Haus auch in der tiefsten Nacht bewachten und den Präsidenten und seine Familie schützten, erkannten in ihm einen der großen Teufel, deren Handeln Gott bewogen hatte, die Menschheit auszulöschen.

Und so starben alle Staatschefs und Präsidenten, alle Minister und politischen Verantwortlichen durch die Hand ihrer jeweiligen Völker. Gott hatte es ihnen gesagt.

Alles was bisher war, war falsch und nicht nach Gottes Regeln. Und was falsch war, musste vernichtet werden.

Der für Menschen einzig logische Schluss.

Bis in die kleinsten Hierarchien setzte sich das Töten fort.

Jeder Mann und jede Frau in einer Position mit Macht und Befugnissen wurde von den einstigen Untergebenen noch in dem Moment angegriffen, in dem sie selbst ihre Vorgesetzten als Quelle des Unheils zu töten gedachten.

Nur ihre Vernichtung konnte die Menschheit noch retten. Dies war der Impuls in nahezu jedem denkenden Wesen in jenen Minuten der Apokalypse. Und kein Geschichtsschreiber würde je darüber berichten, denn auch diese gehörten zu den üblen Wurzeln des Bösen, die herauszureißen jedes Weltenretters Ziel war.

Und all jene in den Kraftwerken, den Atommeilern und Staudämmen, die Abertausende von Arbeitern, die durch ihr Tun die Menschheit mit Energie versorgten, verließen ihre Arbeitsplätze. Sie hatten alle Gottes Auftrag, der keinerlei Verzögerung erlaubte. Und die Kraftwerke und alle Geräte, die an deren Nabelschnur hingen, schalteten sich ab.

Und als nach weniger als einer Stunde kaum noch einer dieser Verantwortlichen lebte, begann das Brennen.

Die Paläste und Kirchen, die Gebetshäuser und Banken, die Ministerien und Ämter. Sie waren alle Tempel des Bösen, Zeichen des falschen Weges, den die Menschheit eingeschlagen hatte. Die Konsumhallen, in denen die falsche Welt verkauft wurde, Supermärkte und Shopping-Meilen. Zeichen des Verderbens.

Und jedermann besaß Feuerzeug und Streichhölzer und wo kein Strom mehr ist, wo keine Kommunikation mehr ist, wo Pumpen nicht liefen und keine Sprinkleranlage funktioniert, da brennt es gut und lange.

Keine Feuerwehr und keine Polizei. Kein Tropfen Wasser aus den Leitungen.

Brennen müssen die Orte, die Gottes Zorn geweckt haben, brennen müssen sie, nur so kann Gott milde gestimmt werden. Er hat es gesagt. Jedem ganz deutlich und unmissverständlich.

Was war, ist schlecht.

Was schlecht ist, muss vernichtet werden, muss inexistent werden, muss ungeschehen gemacht werden. Nur so kann die Welt gerettet werden.

Und so erhoben sich große Feuer in den Städten und Dörfern, und die Flammen fanden keinen Widerstand. Sie fanden Nahrung und immer noch mehr Nahrung, als Tankstellen und Öltanks, Pipelines und Raffinerien ihre hoch entzündlichen Flüssigkeiten dem Inferno hinzufügten.

Und es waren Feuerstürme in den Städten. Stadtviertel brannten in geschlossener Flamme und der Sog riss in Orkanstärke noch mehr Brennstoff in die Höllenglut innerhalb der Städte der Welt. Nach weniger als zwei Stunden brannte jede Stadt auf dem Erdball, sie brannten noch am zehnten Tag.

Und auf jeden Menschen, der als Mitverursacher des göttlichen Zorns erkannt und getötet wurde, kamen Hunderte und Aberhunderte, die das entfachte Inferno nicht überlebten.

Sie verbrannten in ihren Häusern, starben bei Flugzeugabstürzen oder bei den unendlich vielen Unfällen, die sich im Anschluss an die Offenbarung ereigneten. Kollateralschäden im Namen der Nemesis.