Die Zecke

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Die Zecke
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Zum Buch:

„Die Zecke” ist ein satirischer Roman über das Leben des kleinen Finanzbeamten Hartmut Schminke, der in seinem Büro hinter der Besuchertoilette hockt und auf seine „Opfer” wartet. Selbst kleinere Störungen können Hartmuts Tagesform dabei erheblich beeinflussen. Sein Leben gerät vollends aus den Fugen, als seine Frau beschließt, sich aus diesem langweiligen Dasein zu befreien: Raus aus dem häuslichen Betonbunker, eine schicke Eigentumswohnung muss her! Dieser ganz normale Spießerwunsch ist für Hartmut der bislang verwegenste Schritt seines Lebens.

Strategisch plant er einen unfehlbaren 10-Jahresplan mit einer bombensicheren Finanzierung. Doch die nicht einkalkulierte Geburt von Zwillingen lässt die Schminkes rasch in die Schuldenfalle ab gleiten und als auch noch Hartmuts Beförderung scheitert, droht die Bank mit der Versteigerung der Eigentumswohnung.

Der Rettungsanker für ihr desolates Konto ist ein Imbiss, den Hartmut unter dem Namen seiner Frau eröffnet und der Dank skrupelloser Buchführung Bombengewinne abwirft.

Ein Kollege wittert jedoch Ungereimtheiten und ordnet eine Betriebsprüfung an, in der von beiden Seiten nach dem Motto verfahren wird: Bei Betriebsprüfungen und in der Liebe sind alle Mittel erlaubt…

Zum Autor:

Bernd Wieland, Jahrgang 1966, ist seit 1996 als Betriebsprüfer tätig. Er ist zudem Verfasser von humoristischen Kurzgeschichten und Sketchen. Nebenberuflich verdingt er sich als Kabarettist mit eigenem Programm und Darsteller beim Fernsehen.

1. Morgens nach dem Einchecken

Piep! Das Zeiterfassungsgerät des Finanzamts hatte unwiderruflich die Uhrzeit erfasst. 6:01 Uhr – das war richtig gut! Das schafften nicht alle Kollegen. Das mussten die anderen mir, Hartmut Schminke, erst einmal nachmachen. Keine Uhr tickte mehr wie eine Zeitbombe gegen mich. Die Uhr, die jetzt lief, lief auf meiner Seite, denn sie lief auf meinen wohlverdienten Feierabend zu.

Die Tasse Kaffee, die ich zu Hause noch auf die Schnelle viel zu heiß getrunken hatte, gehörte zu dem anderen Leben, zu einer anderen Daseinsform. Sie war nichts anderes, als ein missratener Starthilfeversuch. Jetzt trank ich den Bürokaffee, den ich Schluck für Schluck wirklich genoss.

Wer das Verhalten eines Beamten begreifen will, zum Beispiel, weil er mit ihm verheiratet ist oder eine Betriebsprüfung im Hause hat, muss sich immer über eines im Klaren sein: Nicht nur Gottes Mühlen mahlen langsam. Viele Dinge kann man mit dem Verstand nicht erfassen, man muss sie so annehmen wie sie sind. Erst dann findet man wieder Ruhe für seine Seele.

Dieser geregelte Ablauf hatte allerdings auch einen Nachteil: Ich hatte mich in 16 Beamtenjahren so sehr daran gewöhnt, dass kleinere Störungen meine Tagesform erheblich beeinflussten. Neulich zum Beispiel wurde die BILD-Zeitung eine halbe Stunde später als gewohnt in mein Büro gereicht. Ich war so irritiert, dass ich gar nicht wusste, was ich so früh überhaupt machen sollte. In meiner Verwirrung hatte ich bis 7:00 Uhr bereits drei Steuererklärungen bearbeitet! Normalerweise holte Frau Stöhr die Zeitung um 5:55 Uhr vom Kiosk. Sie brachte die Zeitung dann zu Herrn Goller. Er las sie 23 Minuten. Auf dem Papier konnte ich immer sehen, wo er gerade seine Kaffeetasse abgestellt oder sein Leberwurstfettfinger die Seiten gestreift hatte. Anschließend wurde die Zeitung in mein Büro an meinen Kollegen Horst weitergereicht.

Anfangs, als ich neu in Horsts Büro war, hatte ich die Zeitung nicht gelesen. Irgendwann begann ich jedoch, sie morgens, halb aus Neugier und halb aus Langeweile, heimlich nach dem Wetterbericht und den Titten zu durchforsten, um sie dann wieder wie unberührt zurückzulegen. Erst seitdem mich Horst beim Lesen ertappt hatte, gehörte ich mit zu dem Kreislauf.

Die Frau auf der Titelseite konnte man heute abhaken – Fiberglasgestänge waren nicht mein Ding. Aber auf Seite 4 war ein Beitrag, der sofort meine Aufmerksamkeit erregte: In einem Wohnsilo etwa fünf Blöcke entfernt von unserem Hochhaus, war eine verweste Leiche aufgefunden worden. Die Nachbarn hatten monatelang nichts bemerkt. Selbst als es schon durch alle Ritzen stank, wurde niemand stutzig. Alle dachten, es läge an der Grünen Tonne. Und die Maden, die unter der Tür durch ins Treppenhaus liefen, kämen auch aus der Grünen Tonne. Irgendwann war einem Mieter die Sache aber doch suspekt vorgekommen und er verständigte das Ordnungsamt. Als sie die Leiche fanden, war das natürlich besonders für die gelangweilten Arbeitslosen und Asylbewerber in Warteschleife ein richtiges Happening. Zu aller Überraschung handelte es sich bei dem Toten nicht um Tüten-Gandhi, der tagsüber immer vor dem Aldi-Laden abhing und seit einiger Zeit nicht mehr gesehen wurde. Nein, es war ein Betriebsprüfer oder vielmehr das, was von ihm übrig geblieben war! Da der Prüfer im Betrieb aus Platzmangel nicht hatte prüfen können, hatte der Betriebsinhaber ihm eine von seinen leer stehenden Mietwohnungen für die Betriebsprüfung zur Verfügung gestellt. Der Prüfer war einfach über einem Karton voll Belegen eingeschlafen – was an und für sich noch nicht ungewöhnlich ist, würde mir sicherlich auch ab und zu passieren. Wirklich tragisch war nur, dass er nicht wieder aufgewacht ist. Dabei war er erst 44 Jahre alt! Der Betriebsinhaber hatte nichts bemerkt. Er war nur froh gewesen, dass keine unangenehmen Rückfragen kamen. Mit seiner Frau lebte der Prüfer in Scheidung und sein Chef hatte ihm gerade eine schlechte Beurteilung übergebraten und wollte ihn ein bisschen in Ruhelassen, damit er sich wieder berappeln konnte. Mit der Ruhe hatte er zumindest recht behalten. Ich markierte den Artikel mit Textmarker, damit ihn Horst gleich fand.

Um 8:05 Uhr kam Horst. Horst kam immer um 8:05 Uhr. Wenn er um 8:05 Uhr nicht im Amt war, konnte ich ihn krank melden – hatten wir so geregelt, sparte Telefonkosten.

Horst holte seine Tupperdose mit dem Pausenbrot aus seiner Aktentasche und las dann bis zur Öffnung der Kantine Zeitung. Horst war eigentlich ein richtiger Philosoph. Er las eine Weile, bis er sich an einem Thema festgebissen hatte. Dann blickte er gedankenvoll auf und es folgte der Morgenkommentar. Heute: Nicht der verweste Betriebsprüfer sondern die Araber! Das wäre so ein blutrünstiges, hinterhältiges Volk! Vorne immer schön lächeln und von morgens bis abends sich die Knie wund beten, aber wenn du dich umdrehst, hast du schon ein Messer im Rücken. Und dann hörte ich noch so einiges über ihre bestialischen Foltermethoden, über ihre Frauen und ihre Tricks im Bett und auf dem Sozialamt.

Während Horst seinen Morgenkommentar sprach, bearbeitete ich nebenbei eine Steuererklärung. Es handelte sich um die Steuererklärung eines gewissen Dr. Wagner. Namen sind für mich Schall und Rauch. Wenn der Wagner mich heute Nachmittag anrufen würde um zu fragen, ob ich seine Steuererklärung schon bearbeitet hätte, könnte ich ihm darauf keine Antwort geben. Und wenn man mich schlagen würde, den Namen hätte ich nie gehört. Selbst wenn bei mir die Steuererklärung eines Nachbarn auf dem Schreibtisch gelegen hätte, wäre es mir nicht einmal aufgefallen.

Anfangs hatte es mich schon gereizt nachzuschauen, was die Nachbarn so verdienen und wie viele uneheliche Kinder sie haben (konnte man hin und wieder wirkungsvoll als Joker ausspielen). Über jede Gehaltserhöhung war ich im Bilde. Aber das interessierte mich nicht mehr im Geringsten – sie verdienten meistens sowieso mehr als ich und dann war ich erst recht unzufrieden. Wenn nur Britta nicht so neugierig wäre! Sie gab mir immer einen Zettel mit Hausaufgaben mit, bei wem ich nachgucken sollte.

Ich gab die Anschrift von Dr. Wagner in den PC ein. Plötzlich stutzte ich: Bramwaldstraße 1b – hatten Britta und ich das Haus nicht vor gut einem Jahr im Rohbau gesehen? Richtig! Das war doch das schicke Einfamilienhaus ganz in unserer Nähe!

Eigentlich wollte ich mit der Steuererklärung noch vor der Öffnung der Kantine fertig sein, aber jetzt begann die Sache doch spannend zu werden. Warum erscheint denn bei den Werbungskosten aus Vermietung und Verpachtung eine neue Heizungsanlage? Und was ist das hier? Eine Rechnung über sieben neue Fenster! Irgendetwas stimmte da doch nicht.

Ich rief diesen Wagner an. Es meldete sich niemand. Aber das bekam ich schon heraus: Ich würde mir heute Abend den Hund von Frankes aus unserem Block ausleihen und eine Runde durch die Bramwaldstraße laufen. Frankes besaßen einen Pitbull, mit Stammbaum! Ich konnte das Vieh nicht ausstehen. Ich fürchtete ihn genauso, wie andere Leute die Steuerfahndung fürchten. Ich traute mich erst in seine Nähe, wenn er drei Pansen verspeist hatte und sein Bauch über den Bürgersteig schleifte wie eine Kehrmaschine. Aber wie jedes Übel in der Welt hatte Harry eben auch seine guten Seiten. Wenn ich mit ihm irgendwo langging, hatte ich garantiert die Straße für mich und Kinder und Gebrechliche wurden schnell ins Haus geholt. Wie ein ordinärer Straßenköter pinkelte er an jeden Rasenkantenstein und es bereitete ihm ein unbändiges Vergnügen, seine Schnauze in jeden stinkigen Haufen hineinzustecken – darin war er uns Finanzbeamten sehr ähnlich – und in der Bramwaldstraße 1b würde er ganz plötzlich im Garten verschwunden sein…

2. Nur raus aus der Gosse

Aus dem Ausflug mit Harry, dem Pitbull von Frankes, wurde leider nichts. Ich hatte den Pansen vergessen und ohne Pansen wagte ich mich nicht in seine Nähe. Am Ende verwechselte Harry mich noch damit! Die Sache war mir zu unsicher gewesen. Und gab es in meinem Leben etwas Wichtigeres als Sicherheit und vor allen Dingen Ruhe? Spannend durfte es schon ab und zu werden. Dann aber bitte schön wohl dosiert am Freitagabend um 20:15 Uhr zur Krimizeit auf dem zweiten Programm. Wenn mir überhaupt etwas heilig war, dann der Freitagskrimi im Zweiten. Aus Britta und mir wäre nichts geworden, wenn sie mir nicht freitags die Sendezeit zwischen 20:15 Uhr und 21:15 Uhr abgetreten hätte. Im Gegenzug musste ich ihr für das verbleibende Wochenende die Fernbedienung überlassen.

 

Manchmal kamen mir allerdings doch Zweifel, ob ich mich bei dem Deal nicht verspekuliert hatte. Wenn Britta am Wochenende nicht im Fitnessstudio jobbte, saß sie vor dem Fernseher, glotzte den letzten amerikanischen Quatsch und zappte alle zwei Minuten die 40 Programme gnadenlos rauf und wieder runter. Dann fragte ich mich, ob der Preis nicht zu hoch gewesen war. Vielleicht sollten wir uns doch lieber wieder trennen – oder wenigstens getrennt fernsehen. Aber was blieben dann noch für Gemeinsamkeiten?

Obwohl der Krimi diesmal wirklich spannend war und ich den Fernseher laut eingestellt hatte, ließ sich das Geschrei und Gewimmer über uns in der Wohnung nicht übertönen. Wir wohnten in einer gigantischen Wohnanlage mit 20 Stockwerken, Einkaufspassage, zwielichtigen Appartements und Lüftungsschächten, in denen die Kakerlaken zehnspurig ihre Runden drehten. Und es ging das Gerücht um, dass an Ramadan die türkischen Großfamilien ihre Lämmer in der Badewanne schlachteten.

Jetzt schrie eine Frauenstimme über uns gellend auf. Das war eigentlich nichts Besonderes, gehörte vielmehr zur gewohnten Geräuschkulisse in diesem Haus, genau wie die Klospülung unddas Geschnarche unseres Nachbarn. Es war nur die Polin, die sich Herr Schmolkowski letzten Sommer aus dem Internet runtergeladen hatte. Hoffentlich brachte er sie um. Dann kämen sie und holten ihn endlich ab und es wäre wieder Ruhe im Karton. Britta, die neben mir saß, griff wütend zum Telefonhörer und schrie: „Jetzt rufe ich wirklich die Polizei an!” – Das sagte sie immer. Und wie immer riss ich ihr den Hörer aus der Hand und entgegnete ruhig: „Du weißt doch, wie das abläuft: Er wird behaupten, es hätte ihr Spaß gemacht und dass sie das immer so machen. Und weil sie über 18 Jahre alt ist und eine Aufenthaltsgenehmigung hat, wär’s das gewesen.” Britta störte mal wieder – und natürlich zu meiner Sendezeit! Sie konnte sich so schlecht aufs Fernsehen konzentrieren. Wenn sie konzentrierter fern sähe, könnte es bei uns abends oft viel netter zugehen.

Mit Schmolkowski konnte ich leben. Schlimmer waren die fünf Jungs von der fetten Fiedler, die ich bisher nur im Bademantel zu Gesicht bekommen hatte. Es gab kaum einen Tag, an dem nicht die Feuerwehr mit Blaulicht anrückte, weil einer von der Fiedlerbrut auf die originelle Idee gekommen war, auf das Knöpfchen für den Feuermelder zu drücken. Aber auch mit den Jungs von der Fiedler musste ich nachsichtig sein. Sie hatten ihr letztes Quäntlein Hirn beim Kiffen in Rauch aufgehen lassen. Als wirklich lästig empfand ich es jedoch, dass ständig jemand aus dem 20. Stock sprang. Ich hätte dafür Verständnis gehabt, wenn es Mieter gewesen wären, die vor den Kakerlaken Reißaus genommen hätten. Aber zu allem Ärger waren es meistens Passanten, die schlichtweg zu bequem gewesen waren, die fünf Minuten bis zur nächsten Autobahnbrücke zu laufen. Das hatte mir ein Kandidat selbst einmal erzählt, nachdem ich ihn in letzter Sekunde davon abgehalten hatte, sich in die Tiefe zu stürzen. Neulich habe ich ganz unverhofft im Finanzamt mit ihm telefoniert. Zufällig hatte ich seine Steuererklärung bearbeitet. Er war zum zweiten Mal geschieden und sein Renault Twingo kam nicht mehr durch den TÜV. Selbst seine Freunde hatten zu ihm gesagt, er hätte vielleicht doch besser springen sollen.

Britta war heute besonders unruhig. „Ich ziehe hier aus, Hartmut, das verspreche ich dir!”, keifte sie. Frauen gaben ja ständig solch leere Versprechungen ab. Ich nahm ihre Androhung heute durchaus ernst, denn bei Britta hatte ich schon so manch unangenehme Überraschung erlebt.

Letzten Sonntag zum Beispiel, da hatten wir uns fürchterlich wegen einer Kleinigkeit gestritten. Als der Streit seinen Höhepunkt erreicht hatte, verkündete sie zornesrot, sie werde den leckeren Schweinebraten, den sie gerade für uns zubereitet hatte, in den Müllschlucker werfen. So aufgebracht hatte ich Britta selten erlebt. Ich wusste, in diesem Zustand war sie zu allem fähig. Und weil ich viel kleiner und schwächer war als Britta, schloss ich mich erst einmal auf dem Klo ein. Meistens beruhigte sich Britta ziemlich schnell wieder. So war es auch dieses Mal. Als ich sie nach einer Weile am Telefon mit ihrer Freundin Gundula herumgackern hörte, wagte ich mich wieder hervor und wir verbrachten den restlichen Vormittag, als wäre nie etwas Düsteres zwischen uns gewesen. Zum Mittagessen hatte ich dann einen lieblichen Rotwein geköpft und saß mit Lätzchen um den Hals und in seliger Vorfreude am Tisch. Dann kam Britta herein und servierte jedem von uns einen Teller mit Melonenscheiben!

Zunächst begriff ich überhaupt nicht, was vor sich ging. In der Aufregung stellte ich nur fest, dass ihre Portion größer war als meine. Aber bis ich begriffen hatte, dass das alles sein sollte, verging eine ganze Weile. „Wo ist der Braten?”, fragte ich bangend und steif.

„Na, im Müllschlucker”, entgegnete Britta mit einer Abgebrühtheit, die mich innerlich gefrieren ließ. Ich war fertig. Den nächsten Tag ließ ich mich krank schreiben. Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit schlich ich mich heimlich zum Griechen und bestellte die üppige Mykonos-Platte. Dazu drei Gläser Samos und vier Ouzos. Tags darauf musste Britta mich krank melden, weil ich dazu selber nicht mehr in der Lage war.

Britta verfügte also über die penetrante Eigenschaft, ihr Wort zu halten. Deshalb wurde ich auch äußerst unruhig, als sie noch einmal betonte: „Hartmut, das eine will ich dir sagen: Noch in diesem Jahr ziehen wir hier aus!”

Schnell sagte ich zu ihrer Beruhigung: „Ich werde heute mal bei der Wohnungsgenossenschaft nachfragen, ob was Passendes für uns frei wird.” Mit einem Ruck setzte sich Britta kerzengerade hin. Auch im Sitzen war sie noch mindestens einen Kopf größer als ich. Ihre Augen glühten. Hatte ich etwas Falsches gesagt? Man konnte noch so einfühlsam sein, immer sagte man das Falsche.

„Ich will keine Wohnung von Genossen, sondern Eigentum!”, zischte Britta böse.

„Eigentum!”, wiederholte ich entgeistert. Jetzt drehte sie wirklich durch. Schade, eigentlich war Britta immer ganz patent gewesen. Aber nun war nichts mehr mit ihr anzufangen. Ich sollte sie so schnell wie möglich ins Internet einstellen und mit Schmolkowski virtuell Kontakt aufnehmen. Der würde sicher bald Nachschub brauchen.

In Wirklichkeit würde Britta allerdings eher mich verschachern als umgekehrt. Deshalb schluckte ich meine Gegenargumente zähneknirschend herunter. Britta betonte noch einmal ihre Forderung: „Ich will ein Haus oder mindestens eine Eigentumswohnung – und Menschen als Nachbarn, keine Genossen!”

Ein paar Tage später traten wir unseren Urlaub an. Wie jedes Jahr, seit wir verheiratet waren, fuhren wir mit dem Fahrrad und ausgerüstet mit einem Igluzelt irgendwohin. Britta liebte diese Art von „Urlaub” und ich wagte nicht, ihr zu widersprechen. Diesmal trieb es Britta in die Eifel. Britta radelte trotz schweren Gepäcks immer vorneweg. Ich blieb weit abgeschlagen zurück. Es nützte auch wenig, dass ich zwischendurch heimlich an meinem „Red Bull” nippte. Brittas Laune wuchs zusehends und das war ja auch die Hauptsache. Die letzten Tage freute ich mich nur noch auf mein kleines, kuscheliges Büro im Finanzamt. Und als wir zu Hause an­gekommen waren, war die Idee mit der Eigentumswohnung schon wieder vergessen.

Erst Ingo weckte wieder die Erinnerung daran. Ingo, der genau wie ich jeden Samstagmorgen sein Auto in der Selbstwaschanlage wusch, der musste es nämlich wissen. Ingo verkaufte so dieses und jenes, vor allen Dingen Konservendosen. Nicht die kleinen Dosen, die bei Aldi neben dem Klopapier aufgestapelt sind. Nein, Ingo machte die ganz großen Geschäfte. Das erzählte er mir so nebenbei, während er seinen dunkelblauen Mercedes hingebungsvoll mit einer edlen Milch massierte. Das Mittelchen war teurer als die Lotion, die ich Britta zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte. Im Gegensatz zu mir wusch Ingo sein Auto nicht deshalb bei der Selbstwaschanlage, weil er die paar Euro für die Automatikwaschanlage sparen wollte. Nein, er wusch selbst, weil er so drei volle Stunden Gelegenheit hatte, seinen Liebling zu streicheln.

Welche Art Geschäfte er genau machte, hat er mir nie genau erzählt. Aber ich glaube, er wusste Bescheid. Er flog zweimal im Jahr in die Karibik. Nicht nur Last-Minute-Flüge! „Schweineteuer, diese Inselaffen!”, stöhnte er jedes Mal, wenn er braungebrannt zurückkehrte. Darüber hinaus hatte Ingo alles, was man hat, wenn man es hat. Natürlich auch eine Eigentumswohnung. Was heißt eine Eigentumswohnung! Er hatte drei: eine zum Wohnen und wegen der steuerlichen Abschreibung, die zweite für die Momente, in denen er einfach mal raus und abhängen musste und die dritte für den Familien-Winterurlaub zwischen den Jahren in St. Moritz. „Des Wichtigschde im Leben is: schaffe und genieße!”, sagte er immer und outete sich damit als bekennender Schwabe. Wenn ich ihn dann staunend und mit bewundernden Blicken ansah, war das Balsam für seine von der Steuer geschröpfte Seele.

Während ich Ingo von der aktuellen Mieterhöhung vorjammerte und mich bitter darüber beklagte, dass die Genossenschaft nicht bereit war, den zerbrochenen Klodeckel zu bezahlen, klopfte er mir väterlich auf die Schulter und sagte: „Mensch, Hartmut, rechne doch mal!” Und dann rechneten wir.

Ich weiß ja, so etwas macht man nicht, aber ich zeigte Ingo trotzdem meine Lohnsteuerkarte. Er war sichtlich betroffen. Bilder einer indischen Hungersnot hätten ihn wahrscheinlich nicht stärker gerührt. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn und er stammelte, nachdem er sich wieder ein wenig gefangen hatte: „Was! Das ist alles? Meine Güte, das kannst du doch keinem erzählen, dass man davon leben kann!” Als Finanzbeamter im mittleren Dienst orientierte sich mein Gehalt nun mal am Existenzminimum. Das war eine Tatsache, die Ingo neu zu sein schien. Sicher, ab und zu war mir schon der Gedanke gekommen, mich zum Beispiel als Buchhalter bei einem Steuerberater zu bewerben. Aber mein Chef, der Herr Axthammer, sagte in den Mitarbeiter-Vorgesetzten-Gesprächen mit einem fürsorglichen Augenzwinkern immer zu mir, dass ich da draußen nicht mehr zurecht käme. „Da draußen”, das war die freie Wirtschaft. Wenn Herr Axthammer von „da draußen” sprach, dann spürte ich einen eisigen Luftzug und es war so, als würde mir eine unsichtbare Hand die Kehle langsam zudrücken. So hatte ich mich bemüht, immer schön unauffällig zu bleiben und war bereits seit 16 Jahren zusammen mit meinem Kollegen Horst gefesselt an mein kleines Büro im Finanzamt neben der Besuchertoilette.

In einem Anfall von Mitleid lud mich Ingo spontan zu „seinem” schicken Italiener ein. Das Lokal war so exklusiv, dass auf der Speisekarte weder Pizza noch Makkaroni zu finden waren. So etwas Ordinäres wurde hier nur ausnahmsweise Kindern unter 14 Jahren an uneinsehbaren Tischen serviert.

Die Teller wurden gerade abgeräumt. Ingo saß regungslos da und starrte auf seinen Cognac. Seine Gehirnwindungen glühten wie ein Toaster in der Röststufe 6. Gedankenverloren murmelte er: „Da muss sich doch irgendetwas bei dir machen lassen!”

„Britta arbeitet übrigens neben ihrem Studium im Fitness-Studio. Das bringt im Monat bestimmt 400 Euro netto”, ergänzte ich um Entspannung der Lage bemüht. Seine Miene hellte sich ein wenig auf. „Na, also”, grunzte er schon etwas zufriedener. Dannverdunkelten sich seine Gesichtszüge wieder beunruhigend und meine aufkeimende Hoffnung war wieder zunichte.

Mit einer Wendung des Schicksals zum Guten hatte ich gar nicht mehr gerechnet, da begannen plötzlich seine Augen zu leuchten. Ingo erhob triumphierend sein Glas und sagte euphorisch: „Junge, wir kaufen! Wir müssen einfach kaufen!”

„Was kaufen?”, fragte ich begriffsstutzig zurück.

„Na, eine Eigentumswohnung!”, raunte Ingo mir ungeduldig zu.

„Mit den paar Kröten, die ihr verdient, kann man vielleicht existieren, aber nicht leben. Deine Miete wird dir über kurz oder lang den Garaus machen. Deshalb müssen wir jetzt kaufen. Bei den niedrigen Zinsen müssen wir jetzt einfach kaufen! Und glaub mir, solche Hasen wie deine Britta sind es nicht gewohnt, ewig in der Gosse zu leben. Wenn du sie halten willst, musst du einmal in deinem Leben wirklich aktiv werden.”

 

Da hatte ich endlich begriffen.