Interaktives Lehren an der Hochschule

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Interaktives Lehren an der Hochschule
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Bernd Sommer

INTERAKTIVES LEHREN AN DER HOCHSCHULE

Eine autobiographische Spurensuche

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

www.engelsdorfer-verlag.de

Vorwort

Wir Menschen sind jede und jeder für sich einzigartig. Wir sind nicht miteinander zu vergleichen. Wir haben unsere eigene Geschichte, einen individuellen Werdegang. Dies gilt für alle, also auch für Lehrende an Hochschulen.

Wer Lehrende aufmerksam beobachtet, wird rasch feststellen können, daß sie sich hinsichtlich der Art des Kommunizierens mit Studierenden und hinsichtlich des von ihnen gewählten Lehrstils zum Teil deutlich unterscheiden. Hier kommt wiederum das Stichwort Individualität zum Ausdruck.

Niemand von uns Lehrenden hat Lehren gelernt. Niemand von uns Lehrenden hat im Rahmen ihrer oder seiner Ausbildung gelernt, wie Lernen organisiert und angeleitet werden kann. Diese grundlegenden Kompetenzen haben wir uns im Laufe unseres beruflichen Lebens selbst aneignen müssen, über Fortbildungen, über Hospitationen, über Gespräche mit Kollegen/​innen, über das Lesen ausgewählter didaktisch relevanter Literatur.

Neben dem Tätigkeitsbereich Forschen stellt Lehren das zweite Standbein jeder/​s Lehrenden dar. Forschung mag für manche Kollegen/​innen zwar das attraktivere Betätigungsfeld sein, die Lehre ist aber ebenso ein unumstößlicher Bestandteil, nur bei den meisten Hochschullehrerinnen und Hochschullehrern eindeutig weniger beliebt.

Womit dies inhaltlich zusammenhängt, ist für mich nicht auf den ersten Blick gedanklich nachvollziehbar. Ich, der ich mich als berufen fühle, was Lehren angeht, kann diesem Bereich zweifelsohne viel abgewinnen.

Die Ergebnisse von intensiver Auseinandersetzung mit wissenschaftlich und auch berufspraktisch relevanten Themen wie auch Erkenntnisse aus eigenen Forschungsprojekten mit Studierenden zu diskutieren, stellt für mich den besonderen Reiz von Lehre dar. Wir tauschen Meinungen aus, wir wechseln Perspektiven der Betrachtung, Alt trifft auf Jung, Erfahrenheit tritt auf Unerfahrenheit, und dennoch erlebe auch ich, der ich mittlerweile 18 Jahre in der akademischen Lehre tätig bin, immer wieder Situationen, in denen ich sagen kann: So habe ich das Thema bisher nicht sehen können.

Das Bearbeiten von Themen und das sich anschließende intensive Diskutieren erweitern also auch des öfteren meinen Horizont des Wissens.

Von daher sei den Studierenden, denen ich in den vergangenen 18 Jahren im Rahmen von Lehre begegnet bin, an dieser Stelle recht herzlich gedankt. Ohne sie wäre ich nicht da, wo ich mich befinde.

Ich forsche gern und ich lehre gern. Ich wollte, seit ich denken kann, Lehrer werden. Vieles hat sich anders entwickelt als gedacht, ich bin aber am richtigen Platz angelangt.

Warum ich so lehre, wie ich lehre, wird Gegenstand des vorliegenden Bandes sein.

Ich bin ein erklärter Anhänger und überzeugter Vertreter des sogenannten interaktiven Lehrstils. Im folgenden werde ich Verbindungslinien aufzeigen von biographischen Hinweisen, Erlebnissen und Begegnungen auf der einen und der Ausprägung meiner individuell-speziellen Form von Lehren auf der anderen Seite.

Ich werde mich also auf Spurensuche begeben, auf Spurensuche in meinem Leben als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, und dabei Hinweisen nachgehen, die als richtungsweisend für das Ausprägen meines persönlichen Lehrstils angesehen werden können.

Viele Erlebnisse und Begegnungen mit Menschen haben mich in meinem Denken, Fühlen und Handeln geprägt. Es war und ist auch heute noch eine spannende Reise in die eigene Vergangenheit, um Entwicklungen, die sich bis in die Gegenwart auswirken, verstehen und erklären zu können. Die Reise kann keinesfalls als abgeschlossen angesehen werden. Vieles an Erinnerungen ist verschüttet, einiges aber ist wieder zum Vorschein gekommen.

Für konstruktive Rückmeldungen und interessierte Fragen stehe ich den Leserinnen und Lesern gern zur Verfügung.

Bernd Sommer

Singen, im Oktober 2015

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

Einleitung

Kapitel 2

Lehrer-Vorbilder

Kapitel 3

Die Zeit als Studierender

Kapitel 4

Soziale Arbeit an der Basis

Kapitel 5

Biographie und Hochschullehre - Verbindungslinien

Exkurs

Zur Krankheits- und Gesundungsgeschichte des Christoph Kuonath

Literaturverzeichnis

Angaben zu dem Verfasser

Fußnoten

Kapitel 1

Einleitung

In den Pfingstferien fahre ich mit meiner Familie seit Jahren in meine Heimat, in einen kleinen Ort an der Schleswig-Holsteinischen Ostseeküste, Hasselberg, genauer Baggelan.

Hier verbringen wir zwei Wochen in einem Reet gedeckten Haus, das mitten in Wiesen und blühenden Rapsfeldern steht.

Dies ist der stillste Ort, den ich auf der Welt kenne. Das einzige Geräusch, das ich selbst bei angestrengtem Horchen wahrnehmen kann, ist das Rauschen des Windes über den sich wogenden Rapsfeldern.

Es ist ein Ort der Stille. Er lädt ein zum Zur-Ruhekommen, zum In-sich-Kehren, zum Erinnern, zum Nachdenken.

Ich bin in der Nähe dieses Ortes, in Satrup, dem Herzen der Landschaft Angeln, aufgewachsen und habe dort die ersten 19 Jahre meines Lebens verbracht.

Wir nutzen jedes Jahr die Gelegenheit, meine dort wohnenden Eltern zu besuchen, die mittlerweile sehr alt, 88 und 86 Jahre, sind.

Die Rückkehr in diese Gegend ist also neben dem Wunsch nach Ruhe, Abgeschiedenheit und Erholung auch mit Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend verbunden.

Aber nicht nur das. In der Regel verabrede ich mich mit einem Lehrer aus meiner Schulzeit, der mittlerweile im Ruhestand ist und auf die 70 zugeht.

Diese Begegnungen sind in unterschiedlicher Hinsicht fruchtbar. Zum einen, und das bleibt bei zunehmendem Altern nicht aus, wärmen wir gemeinsame Erlebnisse auf. Zum anderen aber, und dies klang bereits in anderen Veröffentlichungen an1, habe ich bei diesem Lehrer neben persönlichkeitsbildenden Einsichten in der Oberstufe systematisches Denken, verschiedene Kompetenzen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, erwerben und weiterentwickeln können.

Das Wissen um die Notwendigkeit und die Sinnhaftigkeit dieser Grundkompetenzen setze ich heute in meiner Tätigkeit als Hochschullehrer ein, damit meine Studierenden systematisches, planvolles, zielgerichtetes, methodisches Denken ausbilden wie auch grundlegende Haltungen und Einstellungen ausprägen können.

Zudem verabrede ich mich jedes Jahr mit einem Freund und Schulkollegen, der als Berufsschullehrer tätig ist. Seine Arbeit, so dieser ebenfalls End-Fünfziger, bestehe nach seinen eigenen Aussagen zu einem großen Teil aus Sozialarbeit.

Von einem Beispiel, das er mir vor Jahren erzählte, was mich einerseits zum Schmunzeln brachte, was für mich andererseits aber zugleich Anlaß zum ernsthaften Nachdenken darstellte, sei im folgenden berichtet.

Im Unterricht an der Berufsschule, so sein Bericht, komme es immer wieder vor, daß junge Berufsschüler offen und ungeniert gähnten im Sinne von Der Löwe hat Hunger. Wenn es ihm gelänge, den Gähnenden dazu zu bewegen, die Hand vor den Mund zu halten, habe er ein wichtiges Unterrichtsziel erreicht.

Natürlich, möchte ich hier fast schon schreiben, ist dies nicht alles, was er an Inhalten vermittelt, aber dies ist ein besonderes und doch nicht außergewöhnliches Beispiel.

Ich selbst bin Abitur-Jahrgang 1979 und bin damals aus der norddeutschen Provinz in die weite Welt gezogen, um Lehrer zu werden. Aus mir ist beruflich nach vielen Wendungen und Umwegen etwas völlig anderes und doch nicht anderes geworden: Hochschullehrer.

 

Im Kreis meiner engsten Kollegen an der Hochschule haben wir bereits des öfteren selbstkritisch angemerkt, daß keiner von uns das Lehren gelernt habe, auch Klausur-Aufgaben zu stellen, zu korrigieren, Noten nachvollziehbar und gerecht zu bestimmen, mündliche Prüfungen durchzuführen, war nirgends Inhalt von Studien- und Ausbildungsgängen.

Selbst ich, der ich ein Lehramtsstudium bis kurz vor dem Staatsexamen durchlaufen habe, zudem ein Pädagogik-Diplomstudium absolviert habe, kann nicht von mir behaupten, diese als obligatorisch zu bezeichnenden, alltäglich anfallenden Tätigkeiten eines Hochschullehrers grundständig gelernt zu haben.

Wir erfüllen diese Anforderungen zweifelsohne nach bestem Wissen und Gewissen, mit vollem Einsatz, keine Frage. Aber wahrscheinlich, dies ist jedoch kein endgültiges Statement, greifen wir auf das zurück, was wir als Schüler und später Studierende selbst erlebt und in der Folge als sinnvoll für die eigene Tätigkeit des Lehrens kennengelernt haben.

Seit Jahren schon besuche ich fleißig Fortbildungen zu den Themen Betreuen und Begutachten von wissenschaftlichen Hausarbeiten und Abschlußarbeiten, Hausarbeiten didaktisch gut anleiten und effizient korrigieren und zu dem Bereich mündliche Prüfungen.

Das Hochschuldidaktische Zentrum Baden-Württemberg bietet hier auf Universitätsebene vielfältige Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten an.

Mir ist bei diesen Veranstaltungen noch nie ein zweiter Professor oder eine zweite Professorin außer mir begegnet, stets waren ausschließlich Doktoranden oder Wissenschaftliche Mitarbeiter/​innen, also Vertreter/​innen des sogenannten akademischen Mittelbaus, bei diesen Schulungen und Workshops anwesend.

In mir kam und kommt wiederholt die Frage auf: Benötigen erfahrene Hochschullehrer, etablierte Professoren keine Fortbildungen hinsichtlich didaktisch relevanter Themen?

Der lesenswerte Beitrag Wie man lehrt, ohne zu belehren von Rolf ARNOLD, der im Rahmen seiner Betrachtungen zu dem Themenbereich Hochschuldidaktik anmerkt, in Gesprächen mit erfahrenen Lehrenden werde deutlich, daß sie sich „in ihrem Alltag nicht auf wissenschaftliche Didaktikkonzepte oder die Ergebnisse der neueren Lehr-Lernforschung beziehen, sondern intuitiv aus ihrer Erfahrung heraus agieren“2, stellt den Ausgangspunkt für die Betrachtungen in dem vorliegenden Band dar.

Wenn wir in diesem Kontext von der Berechtigung dieser These ausgehen, so berufen sich Hochschullehrer/​innen nicht auf (fach-)wissenschaftliche bzw. (fach-)didaktische Grundlagen, sondern handeln intuitiv und aus ihrer Erfahrung heraus.

Dieser Gedanke trägt einen wahren Kern in sich, nur ist dies aus meiner Sicht zu allgemein formuliert. Was bedeutet nun intuitiv und aus der Erfahrung heraus? Welche Erfahrung ist hier gemeint?

Meine Ausgangsthese in diesem gedanklichen Zusammenhang besagt, daß Lehren an der Hochschule neben dem Verwerten wissenschaftlicher, pädagogischer und didaktischer Literatur vor allem auf den Erfahrungen mit Lernen und Lehren in der eigenen Kindheit, Jugend und in institutionellen Zusammenhängen wie Schule, Ausbildung, Hochschule und Beruf beruht3.

Dabei ist jedoch zu bedenken, daß neben dem bewußt vorgenommenen selbstkritischen Reflektieren dieser Erfahrungen auch Ereignisse, Erlebnisse, Begegnungen und Menschen Bedeutung für die Entwicklung von Lehr- und Kommunikationsstilen haben können, die nicht bewußt wahrgenommen, die vielleicht nicht einmal mehr erinnert werden (können).

Es läßt sich bei mir eine eindeutige Präferenz für den sogenannten interaktiven Lehrstil feststellen. Nicht Frontalunterricht mit vortragsähnlichem Input, nicht mit überwiegender Redezeit auf Seiten des Dozenten, kein belehrendes Eintrichtern von Fakten, keine Einbahnstraße der Wissensvermittlung, keine Dozenten-Zentrierung, so in Kurzform die Beschreibung dessen, wie ich es nicht mache.

Interaktiv lehren bedeutet demgegenüber eine vom Dozenten gesteuerte Interaktion zwischen Dozent und Studierenden sowie Studierenden untereinander zu ermöglichen. Studierende werden kontinuierlich aktiviert, um einen für sie angemessenen, einen für sie individuell passenden Lernstil zu entwickeln, der nicht auf das reine Reproduzieren von Wissen ausgerichtet ist, sondern auf Verstehen, Anwenden und auf ein mögliches Wechseln der Betrachtungsperspektiven ausgelegt ist4.

Studierende sollen Lösungen für Probleme selbst entdecken können, sie sollen ihre kritischen Denkfähigkeiten entwickeln, sie sollen Ideen ausfindig machen, Lösungen und die Folgen der Lösungen bewerten. Dies ist in meinen Augen aktives, aneignendes Lernen.

Der aufmerksame Leser wird an dieser Stelle bereits bemerkt haben, daß in den bisher angestellten Überlegungen (auto-)biographischen Aspekten eine besondere Bedeutung zugeschrieben wird. Mein Lehren an der Hochschule ist nicht zu verstehen ohne den biographischen Hintergrund, vor dem ich Haltungen, Einstellungen, Lehr- und Kommunikationsstile entwickelt, aber mir auch Vorgehensweisen angeeignet und fachlich-inhaltliches Wissen ausgeprägt habe.

Diese Entwicklungen in Vollständigkeit abbilden zu wollen, ist aus meiner Sicht eine nicht realisierbare Forderung. Möglich ist jedoch, einzelne Stationen aus meinem Leben als Kind, als Jugendlicher, als Heranwachsender, als Studierender, als langjährig in der praktischen Sozialen Arbeit vor Ort professionell Tätiger und heutiger Hochschullehrer nachzuzeichnen, Verbindungslinien von biographischen Stationen hin zu meinen hochschuldidaktischen Ansätzen der Lehre aufzuzeigen. Wir Menschen sind mehr als die Summe unserer Erfahrungen, wir sind mehr als das Ergebnis unserer eigenen Vergangenheit.

Der vorliegende Band ist nicht im strengen Sinne ein wissenschaftliches Werk. Es wird vielmehr versucht, einen vermuteten inneren Zusammenhang von Erlebnissen, Erfahrungen, Begegnungen, Gedanken, Gefühlen als Lernender zu der Art und Weise, wie ich die aktuell an mich gestellten Anforderungen als Hochschullehrer zu bewältigen suche, herauszuarbeiten.

Die dabei gewonnenen Einsichten und Erkenntnisse sind nicht mit dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit verbunden. Dies ist nicht Zielsetzung des vorliegenden Bandes.

Es werden vielmehr Geschichten aus meiner subjektiv wahrgenommenen Lebenswirklichkeit als Kind, als Heranwachsender und als Erwachsener erzählt, Geschichten, Anekdoten und anderes aus meiner Sicht Lesenswertes, was den Leser zum tiefergehenden Nachdenken über die angesprochenen Themen anregen soll.

Kapitel 2

Lehrer-Vorbilder

Jede/​r von uns hat Werte, Ideale, Illusionen, Vorstellungen, was Leben angeht. Wie diese entstanden sind bzw. sich im Laufe der Jahre verändern, ist ein schleichender, zu einem überwiegenden Teil unbewußt ablaufender Prozeß, dessen Anfang und Ende nicht klar zu bestimmen sind.

Begegnungen mit Menschen sind bedeutende Stationen im Leben, gemeinsame Erlebnisse, gewonnene Eindrücke, Erfahrungen, Gefühle. All dies prägt uns in unserem Denken und Fühlen, und dies auf jeweils sehr individuelle Weise. Kein Mensch ist mit einem anderen zu vergleichen.

Als ich 15, 16 Jahre alt war, bestanden meine Vorstellungen, was spätere Berufstätigkeit anging, aus drei Optionen: Mediziner, evangelischer Theologe, Lehrer.

Hinsichtlich aller drei Berufe hatte ich echte Vorbilder, tatsächlich lebende Menschen, die ich kannte, denen ich im alltäglichen Leben begegnete, nicht über die Massenmedien verbreitete Idealvorstellungen.

Der Nachbar meiner Eltern, Herr D., war Allgemeinmediziner und Hausarzt.

Ich erinnere mich gut daran, wie er des öfteren nachts mit seinem Porsche zu Notfällen aufbrach.

Er hatte nach aufregenden und hart bis unfair geführten Handballspielen in meiner Jugendzeit des öfteren das zweifelhafte Vergnügen, mich in den Abendstunden von Samstagen oder Sonntagen wegen zahlreicher Fingerbrüche und Verstauchungen medizinisch zu versorgen.

Er hatte mir angeboten, dies im privaten Rahmen vorzunehmen. Ich brauchte also keinen Termin in der Arztpraxis, sondern ging auch zu vorangeschrittener Nachtstunde geradewegs ins Nachbarhaus hinüber. Herr D. versorgte mich und meine Verletzungen mit dem ihn auszeichnenden Gleichmut, er verlor, so zumindest meine Wahrnehmung, nie die Geduld - ein wahres Vorbild.

Der ortsansässige Pastor Dr. A. war ein besonderer Mensch. Er übte auf mich eine anfangs nur schwerlich zu bestimmende Faszination aus. Vielleicht war es die Nähe zu Gott, die für mich, obwohl nicht im Glauben verwurzelt, spürbar war.

Ich ging, und dies war ausschließlich der Verdienst des Pastors, als Jugendlicher sonntags regelmäßig in den Gottesdienst. Ich freute mich auf die Predigten, die mich intellektuell ansprachen und mich über den Sinn des Lebens nachdenken ließen.

Pastor Dr. A. war gleichzeitig als Lehrender in Religion und Philosophie an dem dörflichen Gymnasium tätig, das ich besuchte. Ich habe vieles gelernt, über Weltreligionen, über bedeutende Menschen, auch über Möglichkeiten der Gestaltung schulischen Unterrichts, und dies obwohl Pastor Dr. A. kein Lehrer im eigentlichen Sinne war.

Ich kann mich auch nach 40 Jahren gut erinnern an einzelne Situationen im Religionsunterricht der Unterprima.

Pastor Dr. A. pflegte in der Regel ohne schriftliches Konzept, ohne ausgearbeitete Vorlage zu dozieren. Wir Schüler/​innen folgten ihm gebannt in seinen exzellent formulierten, rhetorisch ansprechenden Ausführungen.

Gleichzeitig beobachteten wir das doch sehr eigentümliche Verhalten des Pastors beim Vortragen.

Er saß vorn, am Pult, auf einem Stuhl, kippelte nach hinten, so daß er seinen Kopf auf der Schwammablage der Wandtafel ablegen konnte. Zudem hielt er die Augen geschlossen.

Ob ihm dies einen besonders innigen Kontakt zu Gott ermöglichte oder ob dies seine ihm eigene Form der Konzentration ausmachte, wußte keiner zu deuten.

Pastor Dr. A. war aufgrund seines Intellekts, der gepaart war mit einem unerschöpflichen Reservoir an menschlichem Einfühlungsvermögen und dem Wunsch, ja dem immer wieder wahrnehmbaren Drang nach verbalen Auseinandersetzungen gehobenen Anspruchs sowie aufgrund seiner eher unkonventionellen, unangepaßten Verhaltensweisen ein wirkliches Vorbild.

Pastor Dr. A., so erzählte er mir in einem von mehreren Gesprächen im privaten Rahmen, war aus innerer Überzeugung Pastor geworden.

Er war aufgewachsen in der Zeit des Nationalsozialismus und hatte sich entschlossen, seinen Beitrag dafür zu leisten, daß sich die Gräueltaten des diktatorischen Hitler-Regimes wie auch der in seinem Namen begangene Völkermord in der Geschichte der Menschheit nicht wiederholen dürften.

Hier war für mich bereits als Heranwachsender eine Verbindung zwischen Beruf und Berufung wahrnehmbar geworden. Pastor Dr. A. war auch deshalb so überzeugend in seinem gesamten Auftreten, da sein Denken, Fühlen und Handeln eine Einheit bildete, die ich als Jugendlicher zwar intellektuell-kognitiv nicht fassen konnte, die dennoch deutlich spürbar war. Pastor Dr. A. war authentisch, er war belesen, er war von herausragenden intellektuellen Fähigkeiten, er war kommunikativ und stets für ein anspruchsvolles, tiefgehendes Gespräch offen. In der Summe machte dies die Faszination aus.

Hinsichtlich des Berufswunsches Lehrer hatte ich als Schüler, der insgesamt 13 Jahre die Grundschule und darauf aufbauend das Gymnasium bis hin zum Abitur besuchte, reichlich und ausgiebig Gelegenheit, abschreckende und nachahmenswerte Vorbilder zu erleben.

Bei intensivem Nachdenken über Schule und Lehrer/​innen fallen jedem von uns Beispiele ein, die auch nach Jahrzehnten noch im Gedächtnis abgespeichert sind.

Vielfältige Einflüsse im Sinne von Personen und Vertretern/​innen von Institutionen wirken auf uns ein: Eltern, Familie, Geschwister, Freunde, Erzieherinnen, Lehrer/​innen, Trainer, Betreuer, Animateure.

In dem angesprochenen Zusammenhang ist hier der Bereich der schulischen oder auch institutionellen Sozialisation angesprochen. Nicht fachlich geschrieben bedeutet dies: viele unterschiedliche Menschen begegnen uns in den wichtigen Entwicklungsphasen von Kindheit und Jugend. Sie prägen uns, stellen uns ein Bild von Wirklichkeit vor, das wir (noch) nicht hinterfragen, das wir noch nicht mit eigenen Erfahrungen füllen und überprüfen können. Dies wird Aufgabe von spätem Jugendalter und dem Erwachsenenalter sein. Aber wir haben uns auch bereits im Alter von 14 oder 15 Jahren verstärkt Gedanken um den Sinn des Lebens gemacht.

 

Ich hatte als 15-Jähriger die Möglichkeit, in einem erlauchten Kreis von Honorationen meines Heimatortes, Bürgermeister, Lehrer/​innen, Mitgliedern des hiesigen Gemeinderates, dem Pastor, an einem regelmäßig stattfindenden Gesprächskreis teilzunehmen. Inhaltlich wurden hier existentiell bedeutsame Themen besprochen: Glauben, Gott, der Sinn des Lebens.

Sowohl damals wie auch heute habe ich mich geehrt gefühlt, in diesem Kreis nachdenklicher Persönlichkeiten einen festen Platz eingenommen zu haben.

Ich war der einzige Jugendliche, der in diese Runde berufen wurde, der ich zu den anstehenden Themen um meine jugendliche Perspektive gefragt wurde. Ich habe mich wahrgenommen und ernst genommen gefühlt. Das war eine besondere Situation, die, von heutiger Sicht betrachtet, in mir schlummernde Talente zum Vorschein brachte: die Fähigkeit zu intensivem Zuhören, zum Mitfühlen, zum Sich-Hineindenken, zum selbstkritischen Reflektieren, zum Austauschen, zum konstruktiven Diskutieren.

Diese Ressourcen waren mir über schulischen Unterricht nicht bewußt geworden. In der Schule, zumindest in den höheren Klassen des Gymnasiums, war überwiegend das Ausprägen intellektueller Fähigkeiten angesagt. Musische, handwerklich-kreative und sportliche Anforderungen wurden auch gestellt, standen jedoch von Umfang und Bedeutung zumeist im Schatten der sogenannten Hauptfächer.

Das Erlernen von Kritik-, Kompromiß- und Konfliktfähigkeit, das Bilden und Vertreten einer eigenen begründeten Meinung, das selbstkritische Nachdenken, wesentliche Bestandteile sozialer Kompetenzen, waren nicht gefragt.

Unabhängig von den inhaltlichen Zielsetzungen schulischen Unterrichts bestand und besteht auch heute noch der sogenannte Heimliche Lehrplan in der Schule.

Während der Sachverhalt als solcher im Jahre 1925 von Siegfried BERNFELD in dem berühmten Buch Sisyphos oder die Grenzen der Erziehung5 beschrieben wurde, begegnete mir diese Vokabel Anfang der 1980er Jahre in Lehrveranstaltungen des renommierten Kindheits- und Jugendforschers und damaligen Professors für Sozialpädagogik an der Philipps-Universität Marburg Jürgen ZINNECKER6.

Mit dem Begriff Heimlicher Lehrplan, so Hilbert MEYER, würden „Mechanismen beschrieben, die im alltäglichen Schulbetrieb auf die Schüler einwirken und systematisch die hehren Zielsetzungen der Schulgesetze und Richtlinien unterlaufen“7.

Damit würden u. a. Themen verbunden wie die hierarchische Ordnung in der Schule mit Formen der Über- und Unterordnung der Schüler/​innen, konformes und abweichendes Verhalten und deren Sanktionsmöglichkeiten, Themen wie leistungsbezogene Konkurrenz (kollektives Unterrichten, individuelles Zensieren), sprachliche Normierung sowie Maskierung (Vorgeben vermeintlichen Interesses am Unterricht versus Abschweifen in Gedanken)8.

Zurück zu schulischem Unterricht und potentiellen Lehrer-Vorbildern.

Während ich mich an die Grundschulzeit nur schemen- und bruchstückhaft erinnern kann, fallen mir hinsichtlich positiv und negativ wirkender Lehrerinnen und Lehrer im Gymnasium viele Beispiele ein.

Herr W., Deutschlehrer in den Klassen Sexta, Quinta und Quarta, ging in meiner ersten Unterrichtsstunde im Gymnasium, das war Mitte August 1969, durch die Bankreihen, zeigte mit dem Zeigefinder auf jeden einzelnen Schüler und fällt dann sein Urteil: Du schaffst das Abitur, Du nicht. Du schaffst das Abitur, Du nicht.

Woher Herr W. die Kenntnisse nahm, dies einschätzen zu können, bleibt bis heute ein ungelöstes Rätsel. Vielleicht war er im Besitz übersinnlicher Kräfte und konnte Hellsehen?

Wie dieses Beurteilen auf die Kinder wirkte, denen er die Fähigkeit absprach, Abitur machen zu können, bleibt ebenfalls bis heute unausgesprochen, läßt sich nur erahnen. Herr W., ein ausgebildeter Lehrer, hatte die Angewohnheit, morgens in den Unterrichtsraum zu kommen, die Schüler/​innen standen zu der Zeit von ihren Stühlen auf, wenn der Lehrer den Raum betrat. Wir mußten uns ihm zuwenden und uns mit seiner Bewegung durch den Raum langsam um die eigene Achse drehen, wenn er ans Pult schritt, so daß wir ihm stets die Brustseite zuwenden konnten. Vorne eingetroffen, skandierte er laut: Guten Morgen, Sexta b, unser Part bestand darin zu antworten Gu-ten Mor-gen, Herr We-we-we. Danach durften wir uns setzen.

Viele Jahre später, als ich meinen Wehrdienst bei der Bundeswehr ableistete, ist mir diese Form der Begrüßung wiederbegegnet. Herr W. hatte die Art und Weise der gegenseitigen Begrüßung von Rekruten im Organisationsverbund von Kompanie oder Zug und Vorgesetzten aus der Bundeswehr im Verhältnis von eins zu eins auf seinen Unterricht übertragen.

In den drei Jahren Deutschunterricht haben wir neben den vielfältigen Erzählungen von Urlaubsfahrten mit dem VW-Bus, der am letzten Schultag vor den Ferien bereits gepackt zur Abfahrt bereit stand, die zehn Wortarten, Konjugieren und Deklinieren gelernt, viel mehr nicht.

Später begegneten mir andere Persönlichkeiten, die meine Schulkollegen und mich zu eher ungewöhnlichen Verhaltensweisen verleiteten. Wir waren keine Störenfriede, keine Randalierer, aber wir haben bisweilen in uns langweilendem Unterricht Käsekästchen oder Schiffe versenken gespielt, vor uns hin geträumt, geschlafen oder auch unsere aus heutiger Sicht im Bereich von Mobbing einzuordnenden Späße getrieben.

So erinnere mich gut an einen Mathematik- und Physiklehrer, Herrn S., der ein gutmütiger Mensch war, fachlich sehr beschlagen, aber er konnte keinen Kontakt zu uns Schülern/​innen aufbauen.

Ich habe in seinem Unterricht nichts gelernt. Daran habe ich ablesen können, daß neben einem interessant gestalteten Unterrichtsthema auch die Art der Beziehung zwischen Lehrendem und Lernendem eine gewiß oftmals unterschätzte Bedeutung einnehmen kann, was die Lernbereitschaft, das aktive Mitarbeiten und den Unterrichtserfolg insgesamt ausmacht.

Herr S. war hörgeschädigt und trug ein Hörgerät, das er je nach vorhandenen Lärmquellen in der Umgebung auf die richtige Sensibilität einstellen mußte. Dies war für sich langweilende Schüler ein gefundenes Fressen. Was taten wir? Wir pfiffen beispielsweise aus den letzten Bankreihen hinter vorgehaltener Hand, in höheren oder auch tieferen Tonlagen, laut und leise, so daß Herr S. den überwiegenden Teil seiner Unterrichtszeit damit beschäftigt war, sein Hörgerät zu regulieren.

Heutzutage würde dieses Verhalten von uns Schülern/​innen als Mobbing gegenüber dem Lehrer bezeichnet. In der Mittelstufe, also in den Klassen Untertertia bis Untersekunda, hatten wir einen Erdkunde-Lehrer, Herrn V. Herr V. war bereits über der Altersgrenze, er war pensioniert, unterrichtete dennoch weiter am hiesigen Gymnasium.

Herr V. machte unglaublich langweiligen Erdkunde-Unterricht, als dessen Grundlage er aus einem handschriftlich ausgearbeiteten Heft vorlas, das so alt war, daß es bereits vergilbt war.

Eigentümlich an diesem Lehrer war die Tatsache, daß er sich mit dem Pausen-Gongschlag noch im Klassenzimmer stehend eine Zigarette anzündete, die ersten Züge genüßlich einsog und sich dann unverhohlen rauchend durch das Schulgebäude gen Lehrerzimmer in Bewegung setzte.

Herr V. war jenseits. Er bewegte sich außerhalb jeglicher gesellschaftlicher Konventionen und Regeln. Ich habe nicht erlebt, daß Herr V. jemals von Schulleitungsseite wegen seines Regelübertretens gerügt wurde.

Konservativ und autoritär, diese Verbindung mußte in Person von Lehrern nicht unbedingt negativ sein. Ein Beispiel dafür war Frau Dr. H. Sie unterrichte weit über die Altersgrenze hinaus, war über ein Studium Generale für viele Unterrichtsfächer qualifiziert und schöpfte aus einem nahezu unbegrenzten Pool an Wissen.

Sie hatte die Fähigkeit, Unterricht so lebendig zu gestalten, daß es uns Schülern/​innen selbst während der schwierigen Phase der Pubertät Spaß machte, ihren Unterricht zu besuchen.

Frau Dr. H. besaß natürliche Autorität, Ansehen, Einfluß, Autorität im ursprünglichen, im positiven Sinne.

Eine wirkliche Giftspritze dagegen war Frau F. Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, sie in der Oberstufe im Leistungskurs drei lange Jahre fünf Stunden in der Woche genießen zu dürfen. Das war nicht so ohne.

Druck über Noten, Abfragen des Stoffes der vorangegangenen Unterrichtsstunde, autoritäres Gehabe. Sympathien spielten eine bedeutende Rolle. Sechs Schüler/​innen in dem Kurs, eine Lehrerin, drei lange Jahre, das war intensiv. Ich habe dies überlebt, aber schön war es nicht.

Sie kam des öfteren zu spät in den Unterricht, überzog dann in die Pausen hinein mit der Begründung, wir hätten nicht so mitgearbeitet, daß sie in der vorgegebenen Zeit ihren Stoff habe durchbringen können.

In diesen Situationen konstruktiv Widerstand zu leisten oder gar Protest anzumelden, war für uns, die wir nun wahrlich nicht unmutig waren, kaum möglich. Wir haben es erduldet.

Herr M., Englischlehrer in der Oberstufe, kam regelmäßig zehn bis fünfzehn Minuten zu spät in den Unterricht, hörte dafür aber zehn Minuten früher auf.