Einführung Gerontopsychologie

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Aus der Reihe: PsychoMed compact
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Während somit bei biologischen Alternstheorien die Frage nach den Mechanismen, die letztendlich zum Tod führen, im Mittelpunkt steht, will die Psychologie der Lebensspanne eine andere Frage beantworten: Wie verändert sich die Qualität des Lebens über die Lebensspanne in der Interaktion der verschiedenen Funktionsbereiche und mit der Umwelt und wie lässt sie sich beeinflussen?

Entwicklung als lebenslanger Prozess

In der Entwicklungspsychologie hat die Betrachtung des Alterns etwa seit den 1960er Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Vor allem in der Lebensspannenpsychologie (z. B. Baltes, 1990) wird seitdem der Begriff der Entwicklung auf die gesamte Lebensspanne bezogen, denn auch Altern ist Entwicklung. Biologische Veränderungen stellen hierbei nur einen Teilbereich dar. Altern umfasst demnach nicht nur Abbauprozesse und damit Einschränkungen von Kompetenzen, sondern Zuwächse im Sinne von Kompetenzerweiterungen im physischen, psychischen und sozialen Bereich.

Gewinne und Verluste

Jede Entwicklungsphase ist dabei durch Gewinne und Verluste („Gains and losses“) gekennzeichnet, wobei in jungen Jahren die Zugewinne und in späteren Jahren die Verluste überwiegen. Auf biologischer Ebene sind die Verluste im höheren Alter stärker ausgeprägt als bei jüngeren Menschen. In anderen Bereichen, wie zum Beispiel in persönlichkeitsbezogenen und anderen psychologischen Parametern, gibt es aber auch vermehrt Zugewinne oder Stabilität im höheren Alter.


Weisheit ist ein Beispiel für einen Entwicklungsprozess, der nicht mit der Geburt, sondern erst in späteren Phasen der Lebensspanne beginnt und durch steten Zugewinn gekennzeichnet ist. Dabei bezieht sich Weisheit auf den Bereich der wissensreichen Pragmatik der Intelligenz (Dittmann-Kohli & Baltes, 1983). Hauptkriterium für Weisheit ist Wissen, d. h. Fakten und Fertigkeiten bezogen auf Lebensfragen. Weise Menschen zeichnen sich dadurch aus, dass sie ihre im Laufe des Lebens erworbene Expertise bzgl. schwieriger und unsicherer Lebenssituationen nutzen, um zu reifen Urteilen zu kommen und gute Ratschläge zu geben (Staudinger, 1990). Weisheit stellt den Prototyp der pragmatischen Altersintelligenz dar. Weisheit beinhaltet z. B. Wissen über die Veränderungen, Bedingungen und geschichtliche Abhängigkeit von Leben. Staudinger (1990) führt fünf Kriterien an, um das Wissen in diesen Bereichen näher zu beschreiben:

faktisches Wissen über grundlegende Fragen des Lebens,

strategisch-heuristisches Wissen über den Umgang mit grundlegenden Fragen des Lebens,

Denken in Kontexten des Lebensverlaufs und der gesellschaftlichen Entwicklung,

relativierendes Denken im Blick auf Wertvorstellungen und Lebensziele,

Denken, das die Ungewissheit des Lebens berücksichtigt und bewältigt.

Altern verläuft als Entwicklungsprozess im Verständnis der Entwicklungspsychologie der Lebensspanne multidimensional und multidirektional. Das heißt, die Richtung der ontogenetischen Veränderungen variiert nicht nur beträchtlich zwischen verschiedenen Verhaltensbereichen (z. B. Intelligenz versus Emotion), sondern auch innerhalb einer Verhaltenskategorie (z. B. fluide versus kristalline Intelligenz). So können in ein- und demselben Entwicklungsabschnitt und Verhaltensbereich manche Verhaltensweisen Wachstum und andere Abbau zeigen (Kapitel 6: Psychologisches Altern).

Multidirektionalität

Die unterschiedlichen Entwicklungsverläufe der fluiden und kristallinen Intelligenz (vgl. Abbildung 6.1) illustrieren das Konzept der Multidirektionalität. Die Veränderungen in verschiedenen Bereichen der menschlichen Entwicklung sind intraindividuell unterschiedlich. Eine multidirektionale Entwicklung behält sich demnach vor, die Richtung der Entwicklung offen zu lassen.

Multidimensionalität

Der Begriff Multidimensionalität beschreibt unterschiedliche Dimensionen innerhalb der menschlichen Entwicklung. Entwicklungsprozesse einer Person finden demnach in mehreren Dimensionen bzw. Verhaltenskategorien statt, die, wie beschrieben, unterschiedliche Entwicklungsverläufe aufzeigen können. So lassen sich u. a. physische, kognitive, emotionale und soziale Dimensionen der Entwicklung über die Lebensspanne unterscheiden. Die einzelnen Dimensionen lassen sich wiederum in weitere Komponenten oder Konstrukte (z. B. fluide und kristalline Intelligenz) differenzieren. Die multidimensionale Betrachtung bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Altersverläufe für verschiedene Dimensionen empirisch zu festigen.

Variabilität

In der Entwicklungspsychologie – aber auch der Entwicklungsbiologie – wurde bei der Analyse von Entwicklungsverläufen lange Zeit der Standpunkt vertreten, dass Entwicklungs- und Alternsprozesse kaum beeinflussbar sind. Seit den frühen 1970er Jahren gewinnt jedoch das Grundkonzept der Variabilität zunehmend an Bedeutung. Beruhend auf der Erkenntnis, dass Entwicklungsverläufe variabel sind und jeder Verlauf einer von vielen möglichen ist, zeigen Befunde, dass

Menschen unterschiedlich schnell altern,

innerhalb einer Person verschiedene Fähigkeiten und Verhaltensbereiche unterschiedlich schnell und anders altern und

Alternsprozesse von Verhaltensweisen, Lebensbedingungen und Lebenserfahrungen einer Person beeinflussbar sind.

Es können zwei Typen der Variabilität unterschieden werden. Während interindividuelle Variabilität Unterschiede zwischen Personen bezüglich bestimmter Verhaltensvariablen beschreibt, bezieht sich der Begriff der intraindividuellen Variabilität auf Unterschiedlichkeiten bzw. die Veränderbarkeit innerhalb einer Person bezüglich verschiedener Verhaltensvariablen oder hinsichtlich einer bestimmten Variable über die Zeit hinweg (Abbildung 2.5, Kapitel 6: Psychologisches Altern).

Plastizität

Inter- und intraindividuelle Variabilität sind Ausdruck der Plastizität von Entwicklungsverläufen. Sie zeigen, wie unterschiedlich Entwicklungsverläufe, in Abhängigkeit interner und externer Einflussfaktoren auch bei gleichen genetischen Voraussetzungen, sein können. Plastizität wird sowohl durch biologische Voraussetzungen (wie Gene) bestimmt als auch durch Umwelt und Erfahrung (leistungsfördernde Unterstützung u. Ä.). Sie ist die Konsequenz der dynamischen Interaktion oder Verschmelzung von Charaktermerkmalen des Organismus eines Individuums und spezifischer Erfahrungen, die über die Lebensspanne gesammelt werden (Lerner, 1998).


Abb. 2.5: Beziehung zwischen interindividuellen und intraindividuellen Differenzen (Baltes & Kindermann, 1985).

* 1. und 2. Messung können sich im Zeitpunkt, in der Testbedingung oder in der Verhaltensweise unterscheiden.


Plastizität „[…] bezeichnet das Potential, welches Individuen zu verschiedenen Verhaltensformen und Entwicklungsverläufen befähigt“ (Baltes, 1990, S.11).

Der Begriff der Plastizität von Entwicklungsverläufen ist zentral für die Psychologie der Lebensspanne (Baltes, 1990) und auch in den Neurowissenschaften, welche sich mit dem Altern beschäftigen (Kapitel 5 und 6). Plastizität meint Veränderungen auf Neuro- und Verhaltensebene, innerhalb eines begrenzten Bereichs minimaler und maximaler Leistungsfähigkeit.

Potenziale

In der Psychologie der Lebensspanne beschreibt der Begriff Plastizität das Potenzial des normativen Entwicklungsverlaufs im Alter, innerhalb eines Individuums, und kann sich sowohl auf kognitive Funktionen als auch auf Persönlichkeitsmerkmale beziehen. Plastizität zeigt sich dabei sowohl im Bereich der Mechanik als auch der Pragmatik der Intelligenz (s. Kapitel 6). Beispielsweise kann eine ältere Person dem zu erwartenden kognitiven Abbau durch kognitiv anfordernde Tätigkeiten oder kognitives Training entgegenwirken (s. Kapitel 9).

 

In den Neurowissenschaften wird unter Plastizität die Veränderbarkeit des Gehirns in Folge von Erfahrung und Interaktion mit der Umwelt verstanden. Nach Mora et al. (2007) bestimmen individuelle Lebensstile und Eigenschaften der Umwelt, ob Gehirnplastizität induziert wird und ob das zu einer Verbesserung oder auch Verschlechterung der Hirnfunktionen und kognitiven Leistung führt.


Eine „klassische“ Studie von Kliegl et al. (1989) verdeutlicht, dass Plastizität auch im Alter erhalten bleibt. Die Aufgabe von vier jüngeren (M = 22.8 Jahre) und 20 älteren Erwachsenen (M = 71.7 Jahre) bestand in dem Erinnern von 40 Wörtern, die den Probanden jeweils im Prä- und Posttest vorgelegt wurden. Zwischen Prä- und Posttest wurden die Probanden in eine Erinnerungstechnik, die „Methode der Orte“ eingewiesen. Hierbei stellt man sich in Gedanken z. B. den Weg zur Arbeit vor und legt unterwegs an markanten Orten die zu merkenden Begriffe ab. Während sich die jüngeren und älteren Erwachsenen im Prätest nicht signifikant in ihrer Behaltensleistung unterschieden, ändert sich dieses Bild nach Beendigung der Trainingssitzungen. Durch das Training wurden bei beiden Altersgruppen beträchtliche Leistungssteigerungen erreicht, die jüngeren Erwachsenen erzielten jedoch signifikant höhere Zugewinne als die älteren Erwachsenen. Für das Konzept der Plastizität bedeutet dies, dass zwar in beiden Altersgruppen eine hohe Plastizität besteht, dass diese bei den Jüngeren aber größer sein kann als bei den Älteren.

Lange Zeit glaubte man, dass sich die Persönlichkeit ab einem Alter von ca. 30 Jahren nicht mehr verändert (Costa & McCrae, 1998). Neuere Befunde zeigen Plastizität jedoch auch für Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit, emotionale Reife oder Neurotizismus (Kessler & Staudinger, 2007; Staudinger et al., 1993).

Kontextualismus

Wechselwirkung dreier Systeme

Entwicklung wird sowohl durch biologische Voraussetzungen (z. B. Gene) bestimmt als auch durch Umwelt und Erfahrung (z. B. leistungsfördernde Unterstützung). Darüber hinaus muss Entwicklung auch im Kontext betrachtet werden. Im Sinne des Kontextualismus resultiert jeder individuelle Entwicklungsverlauf aus der Wechselwirkung dreier Systeme von Entwicklungseinflüssen: normativ altersbedingte, normativ historisch bedingte und nicht normative/idiosynkratische Einflüsse. Jede dieser Ursachen beeinflusst die individuelle Entwicklung und bewirkt die kontinuierliche Veränderung.

Normative altersbedingte Einflüsse

Normative altersbedingte Einflüsse umfassen organismische und umweltbezogene Merkmale, die zu vorhersagbaren Verhaltensänderungen führen und eine variable Altersbindung zeigen. Hierzu zählen das Lebensalter, die Genetik, das Wachstum, die Reifung, das Geschlecht, die psychischen und kognitiven Faktoren, die Bewegungsbiografie, die sozialkulturelle und materiale Umwelt.

Normative historisch bedingte Einflüsse

Normative historisch bedingte Einflüsse charakterisieren eine feste Bindung an geschichtliche Zeitdimensionen und kulturwandelbezogene Einflüsse, wie langfristige, dem epochalen historischen Wandel unterliegende Wertorientierungen oder periodenspezifische historische Wertewandel (politische, technologische Veränderungen, Zeittrends usw.). Von zentraler Bedeutung sind der Kulturkreis, die Volks- und Gruppenzugehörigkeit, die Familie, die Schule und der Freundeskreis.

Nichtnormative Einflüsse

Nichtnormative Einflüsse zeigen keine auffälligen Beziehungen zu altersgebundenen und geschichtlichen Faktoren. Sie treten im Lebenslauf unerwartet auf (z. B. Unfälle, Verletzungen, Krankheiten, aber auch Naturkatastrophen, Wirtschaftskrisen oder Kriege).

Selektion, Optimierung und Kompensation

Baltes und Baltes (1990) entwickelten das Modell der Selektion, Optimierung und Kompensation (SOK), um gewinn- und verlustbezogene Entwicklungsverläufe im Erwachsenenalter umfassend zu beschreiben. Ausgangspunkt ist eine sich mit zunehmendem Alter verschlechternde Gewinn-Verlust-Bilanz. Diese ergibt sich aus einer Verringerung der biologischen Ressourcen und zugleich aus einer in unserer Gesellschaft unbefriedigenden „Kultur des Alterns“.

Strategie für erfolgreiches Altern

Als geeignete Strategien zur Bewältigung dieser Negativ-Bilanz sehen die Autoren Selektion, Optimierung und Kompensation, die es ermöglichen sollen, auch im Alter ein zwar eingeschränktes, aber selbstwirksames Leben zu führen. Demnach ist der koordinierte Einsatz von Selektion, Optimierung und Kompensation zentral für eine erfolgreiche Entwicklung. Selektion meint die Entwicklung, Auswahl und Festlegung auf bestimmte Ziele, um die begrenzten Ressourcen zu fokussieren. Optimierung bezieht sich auf die Entwicklung und Investition von Ressourcen zum Erreichen der ausgewählten Ziele. Kompensation hebt die Entwicklung und Investition von Ressourcen hervor, die den Folgen von Verlusten entgegenwirken sollen.


Als Beispiel für eine erfolgreiche Umsetzung des SOK-Modells sei hier der Pianist Rubinstein angeführt. Um seine Konzerte „erfolgreich“ gestalten zu können, spielte Rubinstein mit zunehmendem Alter immer weniger Stücke (= Selektion), übte diese häufiger (= Optimierung) und kompensierte Probleme bei schnellen Passagen durch betont langsames Spielen der vorausgehenden Passagen (= Kompensation). Krampe (1994) erbringt für ältere erfolgreiche Pianisten den Nachweis, dass die verlangsamte motorische Geschicklichkeit durch wissensbasierte antizipatorische Bewegungsabläufe ausgeglichen wird. Ähnliches wurde auch für ältere Büroangestellte beim Schreibmaschineschreiben berichtet. Eine verlängerte Reaktionszeit wurde dadurch kompensiert, dass der zu bearbeitende Text antizipatorisch weiter vorausgelesen wurde (Salthouse, 1991, Kapitel 9: Interventionen). Sehr hoch entwickelte und eingeübte Fähigkeiten sowie das damit verbundene Wissen bedeuten Expertise, welche eng mit Weisheit (s. o.) verknüpft ist (Baltes & Smith, 1990).

2.3 Zusammenfassung

Die Ursachen menschlicher Seneszenz bleiben im Großen und Ganzen noch ein Rätsel. In der Gesamtheit leisten die biologischen Alternstheorien bzw. -hypothesen Erklärungen für das komplexe Phänomen Altern. Dabei beleuchten sie jeweils nur Ausschnitte des komplexen biologischen Alterns auf einer Erklärungsebene (Molekül, Zelle, Organ, Organismus) und damit ein spezifisches Phänomen der Alterung. So hat zum Beispiel – vereinfacht ausgedrückt – die Programmtheorie die Replikation der DNA, die Fehler-Katastrophentheorie die Reparatur von Replikationsfehlern und die Mutationstheorie Mutationen an der DNA zum Gegenstand. Die beschriebenen Prozesse wirken jedoch nicht isoliert, sondern z. T. ineinander und bedingen sich z. T. gegenseitig.

Die Theorien widersprechen sich aber teilweise auch, stellen konkurrierende Auffassungen dar. So könnte z. B. die Hypothese der genetisch aktiv gelenkten Alterung als konkurrierend zu den meisten anderen Theorien angesehen werden: Ist die Lebensdauer genetisch vorprogrammiert, kann den anderen Theorien ein Erklärungswert für das primäre Altern abgesprochen werden, sie können damit, im Sinne der proximaten Perspektive, höchstens das sekundäre Altern beschreiben.

Unabhängig davon, wie das primäre Altern auf molekularer oder zellulärer Ebene abläuft oder zustande kommt, die Sekundärerscheinungen auf höherer Organisationsstufe sind gleichartig. Es kommt zu Einschränkungen der Zellfunktion und zum Zelltod, mit entsprechenden Folgen für die Struktur und Leistung der einzelnen Organe. Letztendlich führt biologisches Altern zum Tod.

In der Entwicklungspsychologie, vor allem in der Lebensspannenpsychologie, wird Altern als Entwicklung verstanden, die durch Verluste und Gewinne, Plastizität und Variabilität gekennzeichnet ist. Alternde Individuen besitzen die Fähigkeit zur Kompensation. Altern wird als multidimensional und multidirektional verstanden und muss im Kontext betrachtet werden.

Weiterführende Literatur


Baltes, P. B. (1990). Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Theoretische Leitsätze. Psychologische Rundschau. 41: 1 – 24.

Bengtson, V. L. (2008). Handbook of Theories of Aging. Springer Publishing Company, New York.

Ho, A. D., Wagner, W., Eckstein, V. (2008). Was ist Alter? Ein Mensch ist so alt wie seine Stammzellen. In: Was ist Alter(n), Ursula M. Staudinger und Heinz Häfner (Hrsg.). Springer, Berlin Heidelberg.

2.4 Fragen zum Kapitel


1. Welche Lebensphasen des Alterns werden in der Biologie unterschieden und wodurch sind diese gekennzeichnet?

2. Was ist unter dem Begriff Seneszenz zu verstehen?

3. Welche zwei grundlegenden Perspektiven in den biologischen Alternstheorien gibt es und wie unterscheiden sich diese?

4. Auf welchen Vorstellungen beruht die Theorie der maximalen Lebensdauer?

5. Was haben Schadens- und Schädigungstheorien gemeinsam?

6. Wie können freie Radikale zum Alterungsprozess beitragen?

7. Welche Theorien postulieren einen Zusammenhang zwischen der Energieaufnahme und Alterungsprozessen?

8. Wie wird die Notwendigkeit übergreifender Theorien des Alterns begründet?

9. Was besagt die Homöostasistheorie?

10. Worin unterscheidet sich der Hippocampus in Bezug auf die Neubildung von Nervenzellen von anderen Hirnregionen?

11. Worin unterscheidet sich das Altern aus psychologischer Sicht von den biologischen Alternstheorien?

12. Auf welcher Ebene sind „Gewinne“ im Alter zu erwarten und weshalb?

13. Was ist unter einer multidimensionalen und einer multidirektionalen Entwicklung im Altersverlauf zu verstehen?

14. Welche Bedeutung hat die Plastizität (im Altersverlauf)?

15. Welche Theorie basiert auf der Annahme einer sich verschlechternden Gewinn- und Verlustbilanz und welche Kernaussagen zur Bewältigung werden dieser Theorie zugeordnet?

3 Methoden der Altersforschung

Wissenschaftliche Forschung bedeutet, ausgehend von bestehenden oder neu aufgestellten Theorien oder Modellen Fragestellungen abzuleiten, die diese Theorien oder Modelle bestätigen, erweitern oder widerlegen sollen. Dazu werden Hypothesen generiert, die mit geeigneten Untersuchungsmethoden und Untersuchungsdesigns überprüft werden. Die Basis dafür bilden Daten, die auf unterschiedlichste Art und Weise erfasst oder erfragt, analysiert und interpretiert werden (Abbildung 3.1). Zum detaillierten und vertiefenden Studium von Forschungsmethoden sei auf die zahlreichen entsprechenden Lehrbücher verwiesen. In diesem Kapitel werden wir ausführlich diejenigen Untersuchungsmethoden und Untersuchungsdesigns vorstellen, die insbesondere für die Neuro- und Gerontopsychologie von Bedeutung sind. Dabei beschränken wir uns auf Methoden, die beim Menschen angewandt werden. Das Kapitel gliedert sich dazu in drei Teilbereiche. Zunächst werden Studiendesigns vorgestellt, die geeignet sind, Altersveränderungen zu beschreiben. Von besonderem Interesse sind solche Designs, die es erlauben, tatsächliche Alters- und Alterungseffekte von Kohorteneffekten oder Effekten, die auf bestimmten historischen Ereignissen beruhen, zu unterscheiden. Danach werden quantitative und qualitative Methoden der Datengewinnung und Datenanalyse auf Verhaltensebene vorgestellt. Im letzten Teil geht es dann um moderne bildgebende Verfahren der Hirnforschung. An Beispielen werden Vor- und Nachteile sowie mögliche Einsatzbereiche der vorgestellten Designs und Methoden diskutiert und Möglichkeiten zur Analyse der gewonnenen Daten aufgezeigt.

 

Abb. 3.1: Forschungsprozess von der Theorie über das Experiment zum Erkenntnisgewinn.

3.1 Untersuchungsdesigns

Quasi-experimentelle Studien

Die spezifische Forschungsfrage bestimmt, neben dem Zugang zu Versuchsgruppen und Versuchsdaten, das zu verwendende Untersuchungsdesign. Als Goldstandard der Forschung gilt vielfach das experimentelle Design. Hierbei wird eine sogenannte unabhängige Variable, zum Beispiel die Aufgabenschwierigkeit, manipuliert und der Effekt dieser Manipulation auf eine oder mehrere abhängige Variablen, zum Beispiel die kognitive Leistung, gemessen. Aus einem solchen Design lässt sich schließen, dass Ausprägungen der unabhängigen Variable unterschiedliche Werte der abhängigen Variablen erklären oder verursachen können.

Variablen in der Altersforschung

Üblicherweise wird in Altersstudien das Lebensalter (chronologisches Alter) als unabhängige Variable verwendet und dessen Wirkung auf oder sein Zusammenhang mit abhängigen Variablen wie der Leistungsfähigkeit in verschiedenen Aufgaben, der Gesundheit oder der Gehirnfunktion untersucht (zu unterschiedlichen Altersbegriffen vgl. Kapitel 1). Allerdings ist die Variable Alter nicht wirklich unabhängig, das heißt, sie kann nicht manipuliert und Versuchspersonen können nicht randomisiert zu Altersgruppen zugeordnet werden. Deshalb spricht man bei Altersstudien von quasi-experimentellen Designs. Alter wird zwar als unabhängige Variable behandelt und kann verwendet werden, um Unterschiede zwischen Untersuchungsgruppen zu beschreiben. Es kann aber nicht darauf geschlossen werden, dass Alter Unterschiede in der abhängigen Variablen verursacht. Lebensalter wird deshalb auch als Trägervariable für andere, häufig mit dem Alter eng verknüpfte Faktoren bezeichnet (Trautner, 1978). Dazu gehören zum Beispiel der Bildungsstand, der sozioökonomische Status, die subjektive und objektive Gesundheit und andere psychophysische Faktoren, die die zu untersuchende abhängige Variable ebenfalls beeinflussen und die Ergebnisse verzerren können. In der Altersforschung ist man deshalb bestrebt, mögliche Effekte dieser sogenannten konfundierenden Variablen und Faktoren auszuschließen, um mit höherer Wahrscheinlichkeit tatsächliche Alterseffekte zu finden. Um Alterseffekte und Altersunterschiede als solche identifizieren zu können, müssen mit geeigneten statistischen Verfahren die Effekte der konfundierenden Variablen kontrolliert werden. Dies ist umso wichtiger, je länger diese Faktoren ihre Wirkung entfalten können, also im höheren Alter. Da sich im Verlauf des Lebens die Effekte der konfundierenden Faktoren kumulativ auswirken, ist folglich die Vorhersagekraft des Alters allein in der Regel relativ gering. Oder anders ausgedrückt, scheinbar zu beobachtende Alterseffekte können in Wirklichkeit ihre Ursache im langfristigen Wirken der konfundierenden Faktoren haben.

Kohorte und Messzeitpunkt

Zwei Faktoren, die insbesondere in der Altersforschung von großer Bedeutung sind und Alterseffekte vortäuschen können, sind die Kohorte, zu der der jeweilige Proband gehört, und der Zeitpunkt der Messung (Tabelle 3.1). Die Kohorte wird durch das Jahr oder die historische Periode bestimmt, in der die Person geboren wurde. Sie wird häufig auch als Generation bezeichnet. Personen einer Kohorte erfahren in der Regel ähnliche historische und soziale Einflüsse, die Personen jüngerer oder älterer Kohorten nicht erfahren. In einem Altersgruppenvergleich kann ein Kohorteneffekt also einen Alterseffekt vortäuschen. Ebenso verhält es sich mit dem Messzeitpunkt, also dem Jahr oder der Periode, in der die abhängige Variable einer Person erhoben wird.

Personen gleichen Alters gehören zum gleichen Messzeitpunkt unausweichlich auch zur gleichen Kohorte. Deshalb ist es in diesem Fall unmöglich zu sagen, ob ein Effekt bezüglich der abhängigen Variablen ein Alterseffekt ist oder auf gemeinsamen Erfahrungen beruht. Eine Lösung wäre die Messung von Personen gleichen Alters zu verschiedenen Messzeitpunkten. Dies birgt aber die Gefahr, dass sich Untersuchungsmethoden und verwendete Untersuchungsmedien oder auch die Erfahrung der Probanden mit diesen Medien über die Jahre verändern. In der Altersforschung wurden deshalb verschiedene Verfahren entwickelt, um Alterseffekte mit möglichst hoher Wahrscheinlichkeit identifizieren zu können.

Tab. 3.1: Übersicht wichtiger Begrifflichkeiten.


BegriffDefinitionGemessen wird …
AlterChronologisches AlterVeränderung innerhalb des Individuums
KohorteJahr der GeburtSpezifische historische Einflüsse
MesszeitpunktDatum des TestsAktuelle Einflüsse auf das Individuum


Als Kohorteneffekte werden in der Entwicklungsforschung Verhaltensunterschiede zwischen Personengruppen (Kohorten) bezeichnet, die darauf zurückzuführen sind, dass die Personen in einem bestimmten Zeitraum geboren sind und daher in bestimmten Phasen der Entwicklung vergleichbaren Umwelteinflüssen ausgesetzt waren/sind.

Periodeneffekte beeinflussen relativ unabhängig vom Alter das Verhalten aller Personen einer Population.

Querschnittsstudien

Ein häufig verwendetes Design ist die Querschnittsstudie. In einer Querschnittsstudie werden Personen unterschiedlichen Alters zum selben Messzeitpunkt befragt oder ihr Verhalten gemessen. Schlussfolgerungen zum Effekt des Alters auf Variablen, wie zum Beispiel die Leistung in bestimmten Aufgaben, werden dabei aus dem Vergleich zwischen Personen unterschiedlichen Alters, z. B. jungen und alten Personen, zu einem Zeitpunkt gezogen. Dazu werden die Probanden in der Regel in Altersgruppen zusammengefasst, sodass keine kontinuierliche Abdeckung der gesamten Altersspanne notwendig ist.

Der Vorteil von Querschnittsdesigns liegt darin, dass die Versuchspersonen nur zu einem einzigen Zeitpunkt untersucht werden müssen und dadurch der zeitliche Aufwand der Untersuchung und die Belastung der Probanden minimiert werden.

Problematisch ist allerdings, dass dieses Design keine Auskunft über Veränderungen von Individuen geben kann, sondern mittlere altersbezogene Veränderungen über einen Altersvergleich geschätzt werden. Querschnittsstudien bergen überdies die Gefahr von Kohorten- und Periodeneffekten, indem gefundene Unterschiede auf historisch bedingt unterschiedlichen Lebensumständen und Ereignissen beruhen können. Auch besteht die Gefahr der Selektion bestimmter Individuen, insbesondere innerhalb der älteren Gruppe. Untersucht werden diejenigen, die bis zu diesem Zeitpunkt, aus welchem Grund auch immer, überlebt haben und die körperlich (noch) in der Lage sind, an der Studie teilzunehmen (Abbildung 3.2). Querschnittliche Designs erfordern deshalb eine sorgfältige Auswahl der Versuchsgruppen. Auch muss sichergestellt („validiert“) werden, dass die verwendeten Testprozeduren für die verschiedenen Altersgruppen und damit Alterskohorten gleichermaßen geeignet und vertraut sind. Schlussfolgerungen bezüglich eventueller Alterseffekte sind zumeist vorläufig und sollten in nachfolgenden Studien repliziert werden.

Säkularer Trend

Es gibt zahlreiche Hinweise aus Kohortenstudien, dass veränderte Lebensweisen, wie veränderte Ernährung und verbesserte medizinische Versorgung, im letzten Jahrhundert zu einer Zunahme der Körpermasse und einer beschleunigten körperlichen Entwicklung geführt haben. Auch die Intelligenzleistung zeigt einen solchen säkularen Trend mit einem kontinuierlichen Anstieg über die vergangenen Jahrzehnte („Flynn-Effekt“), der vermutlich ebenfalls mit den veränderten Lebensbedingungen zusammenhängt. Zeigen Ältere heutzutage eine schlechtere kognitive Leistung als junge Erwachsene, könnte dies darin begründet sein, dass sie schon als Kinder ein schlechteres Ausgangsniveau hatten.

Korrelationsstudien

Korrelationsstudien sind eine spezifische Form der Querschnittsstudien. Dabei gibt es jedoch keine abhängigen oder unabhängigen Variablen, sondern die zu untersuchenden Variablen – z. B. Alter und kognitive Leistung – werden miteinander in Beziehung gesetzt und auf einen Zusammenhang getestet. Der sogenannte Korrelationskoeffizient gibt Auskunft über die Stärke des Zusammenhangs (hier zwischen Alter und kognitiver Leistung).


Der Wert einer Korrelation kann sich zwischen -1 und +1 bewegen. Ein Korrelationskoeffizient von 0 bedeutet, dass keine Korrelation vorliegt. Ein negativer (-) Korrelationskoeffizient bedeutet, dass eine Variable zunimmt, während die andere abnimmt. Ein positiver (+) Korrelationskoeffizient bedeutet, dass beide Variablen zu- oder abnehmen.


Korrelative Designs erlauben keine kausalen Aussagen, etwa in dem Sinne, dass z. B. aufgrund des Alters die kognitive Leistung schlechter sei. Es lässt sich für dieses Beispiel lediglich schließen, dass Ältere in der Regel neben dem höheren Lebensalter auch eine schlechtere kognitive Leistung aufweisen.

Der Vorteil des korrelativen Designs liegt insbesondere darin, dass keine Altersgruppen gebildet werden müssen, sondern Alter als kontinuierliche Variable verwendet werden kann (Abbildung 3.2).

Korrelationen können scheinbare Zusammenhänge zwischen Variablen vorspiegeln, wenn beide gleichermaßen oder gegensätzlich von einer dritten Variablen beeinflusst werden. Aus dem Befund, dass ein aktiver Lebensstil positiv mit der kognitiven Leistung älterer Personen korreliert, folgt also keineswegs, dass ein aktiver Lebensstil die kognitiven Fähigkeiten im Alter verbessert oder umgekehrt. So könnte z. B. eine hohe Bildung sowohl einen aktiven Lebensstil als auch die kognitive Leistung positiv beeinflussen, und es könnte dadurch zu einer hohen Korrelation zwischen diesen beiden Variablen kommen.

Korrelationsstudien mit Alter als Variable erfordern in der Regel hohe Fallzahlen, um einerseits einen großen Altersbereich (optimaler Weise den gesamten Lebensverlauf) abzudecken und andererseits genügend statistische Erklärungskraft (statistische Power) für die Kontrolle der konfundierenden Faktoren zu haben. Verwendet werden deshalb häufig große Datensätze aus repräsentativen Umfragen oder Panelstudien mit vielen hundert bis mehreren tausend Individuen.


Eine große sozial- und verhaltenswissenschaftliche Panelstudie in Deutschland ist das sogenannte Sozio-ökonomische Panel (SOEP, s. Linkliste im Anhang). Diese jährliche repräsentative Befragung von ca. 30.000 Personen in fast 11.000 Haushalten läuft bereits seit mehr als 30 Jahren. Auskunft geben die Teilnehmer u. a. zu Einkommen, Beruf, Bildungs- und Familienstand sowie zu Gesundheitsfragen und psychologischen Aspekten, wie z. B. der kognitiven Leistung oder Persönlichkeitsmerkmalen. Diese Studie erlaubt es, individuelle Veränderungen über die Zeit miteinander oder mit langfristigen sozialen oder gesellschaftlichen Veränderungen in Beziehung zu setzen.