Zimmer 122

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Beatrice Schweingruber

Zimmer 122

Kriminalroman


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Titelbild: sainaniritu – © 123rf.com

Schriftart: Garamond 11,5 pt

Herstellung: rgf/bf/1B

ISBN 978-3-8301-1891-6 EPUB

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Dank

1

Maria Violetti lächelte. Das ältere Ehepaar von Zimmer 120 hatte ihr ein Fünffrankenstück in die Hand gedrückt und ihr sehr herzlich für ihre Dienste gedankt. Es waren einfache Leute, die es schätzten, sich eine Woche in einem Luxushotel am Vierwaldstättersee leisten zu können. Den zum Hotel gehörenden Golfplatz benötigten sie nicht.

Das Zimmer 121 war leer, als Maria eintrat. Wie immer liess sie ihren mit frischer Wäsche bestückten Servicewagen vor der Tür stehen und ging ins Badezimmer, um die Handtücher zu wechseln. Als sie fertig war, sah sie aus dem Fenster. Die Sonne versank wie ein glühender Ball hinter den Hügeln und tauchte den See in ein glitzerndes Rot. Das Licht war so stark, dass sie die Segelboote, die gemächlich den Hafen ansteuerten, nur schemenhaft ausmachen konnte. Sie liebte den Rundgang durch die Zimmer um diese Uhrzeit. Das Licht, die Ruhe. Die meisten Hotelgäste befanden sich auf der Terrasse.

Maria trat zum Fenster und beobachtete die Menschen auf der Terrasse. Schwarz gekleidete Kellner balancierten ihre silbernen Platten zwischen Küche und Garten hin und her, unter der Markise spielte eine junge Frau Klavier. Die Gäste sassen gemütlich beim Abendessen und betrachteten ebenfalls das faszinierende Schauspiel der Natur. Nur die Kinder kümmerten sich nicht um ihre Umgebung. Sie sprangen kreischend in den Pool, der direkt an die Terrasse grenzte. Niemand störte sich an ihrem lauten Treiben.

Maria stellte täglich fest, wie dankbar die Gäste waren, dass Hotels, Restaurants und Läden nach überstandener Coronakrise endlich wieder geöffnet waren. Längst nicht alle Restaurationsbetriebe hatten es geschafft, den Lockdown finanziell zu überstehen und mussten schliessen. Es war eine lange und anstrengende Zeit mit vielen Entbehrungen und Einschränkungen gewesen. Alle genossen die wiedergewonnenen Freiheiten, über die man früher nicht nachgedacht hatte. Die Dankbarkeit darüber schlug sich auch in den Trinkgeldern nieder, die noch in keinem Jahr so hoch ausgefallen waren wie in diesem.

Maria schob ihren Servicewagen weiter zu Zimmer Nummer 122 und trat ein, nachdem auf ihr Klopfen keine Reaktion erfolgte. Die untergehende Sonne blendete sie. Maria kniff die Augen zusammen und ging Richtung Badezimmer, um auch hier die Wäsche auszuwechseln. Der Vorhang wurde vom Durchzug leicht bewegt. In diesem Augenblick stolperte sie über etwas am Boden Liegendes und stürzte der Länge nach hin.

Mit eisigem Entsetzen registrierte sie, dass sie neben einen leblosen Körper zu liegen gekommen war. Sie blickte in die erstarrten Augen eines Mannes, dessen rechte Gesichtshälfte zerschmettert war, die Nase stand in einem bizarren Winkel ab. Sie stiess einen gellenden Schrei aus, richtete sich panisch auf und rannte aus dem Zimmer. Vor einem geöffneten Fenster auf dem Flur blieb sie kurz stehen, schnappte nach Luft und konnte den aufkommenden Würgereiz nur mit Mühe unterdrücken.

2

Als Hauptkommissar Peter Caduff die Wohnung betrat, nahm er sofort den würzigen Duft wahr. Obwohl es ein warmer Sommerabend war, hatte Carole ihm seine Leibspeise gekocht: Gulasch und Spätzle. Hocherfreut begrüsste er sie in der Küche und nahm gerade eine Flasche Wein aus dem Kühlschrank, als sein Handy im Arbeitszimmer läutete. Das Ehepaar wechselte einen kurzen Blick. Sie ahnten beide, was auf sie zukommen würde.

Caduff seufzte. »Soll ich abheben?«

»Natürlich«, antwortete seine Frau, wie immer vernünftig. »Wenn du in zwei Monaten in Rente bist, wird dein Telefon nicht mehr klingeln.«

Er verschwand im Arbeitszimmer und Carole hörte, wie er sich meldete. Seine Stimme hatte bereits den sachlichen Tonfall des Ermittlers angenommen.

Caduff presste das Handy ans Ohr und hörte kommentarlos zu. »Ich komme«, meinte er nach einem Moment. »In zehn Minuten bin ich dort.« Er steckte das Handy in die Hosentasche und kehrte in die Küche zurück.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Carole.

»Im Seeblick wurde offenbar ein Gast erschlagen.«

Carole schüttelte bestürzt den Kopf, während Caduff den Schmortopf ins Visier nahm, einen Löffel holte und sich geniesserisch einige Fleischstücke in den Mund schaufelte. Er grinste seine Frau an. »Iss mir bitte nicht alles weg, bis ich zurückkomme.«

Carole lachte. Sie waren seit Jahren ein eingespieltes Team und liessen sich nicht so schnell aus der Ruhe bringen. Ihr war klar, dass er lange unterwegs sein würde. »Bis bald«, rief Caduff im Hinausgehen, schnappte sich für alle Fälle seine Dienstwaffe, eine Glock, wie sie von fast allen Polizisten benutzt wurde, und machte sich auf den Weg.

Er überlegte kurz, zu Fuss zu gehen. Von seiner Wohnung am Dorfplatz bis zum Seeblick benötigte er keine zehn Minuten. Aber da es mittlerweile dunkel geworden war, beschloss er, lieber doch mit dem Auto zu fahren.

Das Hotel Seeblick in Meggen befand sich in bester Lage direkt am See in unmittelbarer Nähe des Strandbades. Die weisse Fassade mit den grünen Fensterläden wirkte zwar immer noch ein wenig bieder, doch das Innere des Hotels präsentierte sich modern und technisch auf dem neuesten Stand. Sämtliche Zimmer und Suiten waren frisch renoviert, die alten, etwas schmuddeligen Teppichböden waren einem dekorativen Parkett aus amerikanischem Kirschenholz gewichen und die Bäder modern und teuer eingerichtet. Vor allem bei Golfern erfreute sich das Hotel grösster Beliebtheit. Der zum Hotel gehörende achtzehn-Loch-Platz lag direkt hinter dem Haus und integrierte sich bestens in die liebliche hügelige Landschaft.

 

Das ganze Hotelareal war bereits mit rot-weiss gestreiften Bändern abgesperrt. Die Lichter der Polizeifahrzeuge und des Krankenwagens blinkten und eine beachtliche Schar von Hotelgästen und Schaulustigen aus der Umgebung hatte sich versammelt. Caduff hasste diese neugierigen Voyeure, die nichts Besseres zu tun hatten, als zu gaffen und den Beamten, die ihre Arbeit verrichten mussten, im Weg zu stehen. Auch Medienvertreter waren schon vor Ort und bedrängten ihn aufdringlich mit ihren Mikrofonen. Er brummte etwas Unverständliches und schob sich an ihnen vorbei.

Kommissarin Sanja Reusser erwartete ihren Chef und hielt das Absperrband in die Höhe, damit er sich nicht zu bücken brauchte. »Was gibt’s?«, fragte er anstelle einer Begrüssung.

»Auch dir einen schönen Abend«, erwiderte sie sarkastisch, ohne weiter auf seinen barschen Ton einzugehen. »Ein Hotelgast wurde erschlagen aufgefunden. Laut Hoteldirektor kann es sich unmöglich um einen Unfall handeln. Ich habe das Opfer allerdings noch nicht gesehen.«

Die fünfunddreissigjährige Sanja war eine aufstrebende Kriminalkommissarin, die ihre Ziele mit grossem Ehrgeiz verfolgte. Nach der Pensionierung von Caduff sollte sie die Leitung der Mordkommission übernehmen, womit ihr Traum in Erfüllung gehen würde. Ihr war bewusst, dass sie in grosse Fussstapfen treten würde, fühlte sich aber durchaus bereit dazu. Sie wollte die Lücke, die er bald hinterliess, mit fachlicher Kompetenz und weiblicher Intuition füllen. Ihre Fähigkeiten als Polizistin hatte sie bewiesen, sämtliche Ausbildungen als Beste ihres Jahrganges abgeschlossen und sogar beim körperlichen Eignungstest ihre männlichen Kollegen hinter sich gelassen. Allerdings neigte sie manchmal zu Ungeduld und Impulsivität. Caduff fand dieses Verhalten problematisch und konnte es auch nicht ganz nachvollziehen, denn er wusste, dass Sanja auch sehr feinfühlig und überlegt sein konnte.

Gemeinsam betraten sie das Hotel. Eine junge Frau lag auf einer Bahre und wurde vom Notfallteam betreut. Ihr schwarzes Haar klebte an ihrem Kopf, sie war aschfahl und zitterte heftig, schien aber bei Bewusstsein zu sein. Soweit es Caduff beurteilen konnte, befand sie sich im Schockzustand. »Die Ehefrau?«, fragte er.

»Nein, die Hotelangestellte, die das Opfer gefunden hat«, antwortete einer der Sanitäter. »Im Moment kann sie nicht vernommen werden.«

»Zimmer?« Der Kommissar sah seine Nachfolgerin Sanja kurz an und ging Richtung Treppe weiter.

»Wobei hat man dich heute gestört?«, antwortete Sanja, nun doch gereizt. »Die Leiche liegt in Zimmer 122.«

Grundsätzlich war sie sehr froh, Caduff als Chef zu haben. Er war ruhig und besonnen und von seiner langjährigen Erfahrung und seiner fachlichen Kompetenz konnte sie sehr viel lernen. Das gesamte Team schätzte und mochte Caduff. Toleranz, Respekt und Wertschätzung waren für ihn keine Fremdwörter und er schenkte seinen Mitarbeitenden Vertrauen und Anerkennung. In letzter Zeit verhielt er sich jedoch, vor allem ihr gegenüber, wie ein brummiger alter Bär. Freundlich war anders. Sanja konnte sich die unerwartete Veränderung nicht erklären. Obwohl sie es sich nicht anmerken liess und oft ebenso harsch reagierte, beschäftigte sie sein Verhalten.

»Beim Gulasch«, kam endlich seine Antwort. Sanja musste grinsen. Das ganze Ermittlerteam wusste um seine leidenschaftliche Liebe zu Gulasch und Spätzle.

Kommissar Philipp Müller hielt vor der Tür mit der Nummer 122 Wache, damit niemand den Raum betreten konnte. Er war mager und kleiner als die meisten seiner Kollegen. Wenn er zu sprechen ansetzte, streckte er oft seinen Rücken durch, um grösser zu erscheinen, und wirkte dadurch ein wenig steif. Heute war das Gegenteil der Fall. Er sah eingefallen, blasser und unscheinbarer als üblich aus. Obwohl er einige Jahre älter und erfahrener war als Sanja, hätte er nie die Stellung von Caduff als Hauptkommissar übernehmen wollen. Ihm genügte seine Arbeit, die er meistens vom Schreibtisch aus erledigen konnte.

Er reichte den beiden Kommissaren die Überzüge für die Schuhe, damit sie mit ihren Strassenschuhen keine Spuren verwischen konnten.

»Kein schöner Anblick«, warnte er seine Kollegin Sanja, bevor sie nach Caduff das Zimmer betrat.

Sie warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, obwohl sie wusste, dass er es gut mit ihr meinte. Nur weil sie eine Frau war, trauten ihr die Männer weniger zu. Diese Erfahrung machte sie immer wieder. Weit entfernt davon, sich Feministin zu nennen, war ihr Gleichberechtigung sehr wichtig. Weshalb sollte eine Frau weniger leisten können als ein Mann? Sie würde allen beweisen, was in ihr steckte, sobald Caduff in zwei Monaten in Rente ging und sie seinen Posten übernahm.

Der Anblick, der sich ihr offenbarte, war tatsächlich alles andere als schön. Sie zuckte zusammen und hätte am liebsten die Flucht ergriffen. Zwar hatte sie schon einige Tote gesehen, aber das hier übertraf ihre schlimmsten Erwartungen. Auf dem Parkettboden neben dem Doppelbett lag ein Mann in einer Blutlache. Hals und Brust waren mit Blut bedeckt und die Hälfte seines Gesichts war bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert.

Sanja zwang sich zu bleiben, hielt Abstand und überliess es dem Hauptkommissar, die Leiche unter die Lupe zu nehmen. Dieser ging neben dem Gerichtsmediziner in die Hocke, ohne irgendetwas zu berühren.

»Da hat jemand ganze Arbeit geleistet.«

»Das kannst du laut sagen. Zieh deine Handschuhe an, bevor du ihn berührst.«

»Was du nicht sagst.«

Die beiden Männer arbeiteten seit Jahrzehnten zusammen, respektierten gegenseitig ihre Arbeit, waren privat aber keine Freunde. Dr. Hansjürg Bamert war ein ehrgeiziger und fähiger Gerichtsmediziner. Man sagte ihm nach, er verbringe seine Zeit lieber mit den Toten als mit den Lebenden. Das Wort Kommunikation kannte er nicht. Die meiste Zeit seines Arbeitsalltags verbrachte er zusammen mit seinen Leichen im Sektionssaal und die Inaugenscheinnahme am Tatort eines Verbrechens war jeweils eine willkommene Abwechslung für ihn. Als Single interessierte ihn seine Work-Life-Balance nicht im Geringsten.

Bevor der Kommissar seine obligate Frage stellen konnte, kam bereits die Antwort: »Wahrscheinlicher Todeszeitpunkt ungefähr 20:00 bis 20:30 Uhr. Wie du siehst, wurde das Opfer mit einem harten Gegenstand erschlagen. Die Schläge waren sehr heftig und wurden mit enormer Kraft ausgeführt.«

»Die Schläge?«

»Der Täter schlug ungefähr fünfmal zu. Die genauen Details erhältst du wie immer nach der Obduktion. Typische Tatwaffe in einem Hotel wären ein Kerzenständer oder ein Aschenbecher. Dieser Mann wurde aber offensichtlich mit einem Golfschläger getötet. Hast du den Schläger auf dem Bett bemerkt? Am Schlägerkopf kann man die Blutspuren mit blossem Auge erkennen. Der Täter macht uns die Arbeit leicht.«

Caduff antwortete nicht. Natürlich war ihm der Golfschläger sofort aufgefallen und er hatte Rückschlüsse daraus gezogen. Er wunderte sich, weshalb Sanja noch keine Bemerkung gemacht hatte. Normalerweise schaltete sie sich immer sehr schnell mit ihren Überlegungen und Fragen ein. Er drehte sich nach ihr um. Sie hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt und beobachtete das Geschehen im Zimmer von der Tür aus. Mit einer gewissen Genugtuung konstatierte Caduff, wie bleich sie war und musste sich ein Lächeln verkneifen.

In diesem Augenblick kamen drei Männer der Spurensicherung mit ihren schweren Koffern. Sie arbeiteten professionell und effizient. Der Polizeifotograf schoss aus sämtlichen Perspektiven Fotos von der Leiche und dem Raum. Auch von dem Golfschläger, bevor ihn die Beamten der Spurensicherung untersuchten und sorgfältig verpackten, um ihn für weitere Tests ins Labor zu bringen.

Die Männer verrichteten routiniert ihre Arbeit und Caduff vertraute ihnen. Er wunderte sich immer wieder, wie sie aus dem eingestäubten Durcheinander Fingerabdrücke finden und Rückschlüsse daraus ziehen konnten. Als er sie beobachtete, spürte er ein leichtes Ziehen in seiner Brust und ihm wurde schmerzlich bewusst, dass er diese Situationen nach seiner Pensionierung vermissen würde.

Die Sachlage war eindeutig. Es handelte sich um ein Tötungsdelikt, weshalb Caduff Kommissar Philipp Müller bat, den Staatsanwalt einzuschalten. Philipp, der immer noch vor der Tür Wache stand, freute sich über die Abwechslung. Mit der Staatsanwaltschaft arbeitete er gern. So auch Caduff. Er hoffte inständig, dass Dr. Flückiger den Fall übernehmen würde, ein angenehmer Mann, der nicht viel redete, sich nie in den Vordergrund spielte und die Polizei in Ruhe ihre Arbeit verrichten liess. Mit ihm hatte er schon oft und erfolgreich zusammengearbeitet. Thomas Flückiger war bekannt für seine professionelle Objektivität. Ohne Wenn und Aber beurteilte er jeweils die Beweislage. Die beiden Männer schätzten sich sehr. Eine Zeitlang hatten sie zusammen mit ihren Frauen Ausflüge unternommen, aber seit Flückigers Scheidung gab es keine ausserdienstlichen Berührungspunkte mehr.

Karl Wieser, der älteste der drei Mitarbeitenden der Spurensicherung, war im Bad beschäftigt. Mit seinen wirren grauen Haaren und seinem Vollbart, so fand Caduff, sah er aus wie ein Säufer. Doch dieses Bild stimmte nicht. Im Gegenteil. Karl Wieser war ein sehr sorgfältiger und gewissenhafter Beamter.

»Peter, komm mal ins Badezimmer«, rief er und Caduff konnte seiner Stimme entnehmen, dass er etwas gefunden hatte. In der Ecke zwischen Dusche und Toilette stand eine gepackte Golftasche. Caduff schüttelte den Kopf. Golfer waren seltsame Menschen. Weshalb stellten sie ihr Golfzeug ins Bad? Im Seeblick gab es einen speziellen Raum zur Aufbewahrung der Golfbags und wie in anderen guten Hotels gehörte das Reinigen der Golfschläger zum Service. Dafür bezahlten die Gäste.

Die beiden Männer sahen sich an. »Ins Labor damit, Karl.«

Wieser nickte. »Natürlich. Dass auch eine Frau in diesem Zimmer logiert, sieht man übrigens auf den ersten Blick. Sie spielt mit Sicherheit ebenfalls Golf. Ich frage mich, wo ihre Tasche steckt.«

»Ich geh der Sache nach. Danke, Karl.«

Sanja hatte sich inzwischen erholt und unterhielt sich leise mit einem Mann, der neben ihr stand und mitgenommen wirkte. Caduff schätzte ihn auf ungefähr fünfzig Jahre.

Nils Sägemann, der Hoteldirektor, war eine elegante Erscheinung, wie einem Hochglanz-Prospekt entsprungen. Normalerweise strahlte er bestimmt Souveränität und Noblesse aus. Jetzt wirkte er angespannt und nervös. Seine Frisur war ein wenig durcheinandergeraten, hektisch strich er sich immer wieder Strähnen aus der Stirn. Sanja stellte die beiden Männer einander vor. Sägemann bemühte sich um Fassung. »Ein Mord in meinem Hotel. Schrecklich! Und das nach Corona. Die Gäste werden mir alle davonlaufen«, klagte er.

»Nicht alle. Dieser hier läuft Ihnen nicht davon.« Caduff zeigte auf den Toten. Sein Sarkasmus kam nicht bei allen an. Für ihn war es jedoch ein Selbstschutz, den er sich im Lauf der Jahre zugelegt hatte.

Nils Sägemann warf ihm einen empörten Blick zu. »Ihren Zynismus können Sie sich sparen.«

Caduff ging nicht auf seinen Kommentar ein. »Können Sie mir verraten, wie der Mann heisst, der dieses Zimmer bewohnte?«

Sägemann räusperte sich. »Es handelt sich um Herrn Benno Niedermann. Er ist mit seiner Frau für eine Woche hier. Sie spielen beide Golf.«

»Wo steckt seine Frau?«

»Um diese Zeit wird sie mit ihrer Freundin auf der Terrasse beim Essen sein.«

Caduff wunderte sich. Seine Frau sass mit ihrer Freundin gemütlich auf der Terrasse, während sich ihr armer Gatte erschlagen liess? Warum hatte sie ihn nicht gesucht? Hätte er nicht mit den beiden Frauen gemeinsam essen sollen?

Der Gerichtsmediziner kam auf ihn zu und Caduff fragte ihn, ob es noch weitere Erkenntnisse gebe.

»Heute nicht mehr«, meinte Bamert. »Komm morgen Nachmittag in die Gerichtsmedizin. Hasta la vista.« Damit verliess er den Raum.

Caduff wandte sich wieder dem Hoteldirektor zu und erkundigte sich nach einer Videoüberwachung im Hotel. Sägemann bestätigte, dass sämtliche Stockwerke Tag und Nacht überwacht wurden. Der Kommissar bat ihn, Philipp Müller die Bänder zur Einsicht auszuhändigen, was Sägemann versprach. Mit hängenden Schultern stand er neben Caduff und wartete auf weitere Fragen.

Caduff räusperte sich. »Ich möchte jetzt mit der Frau des Getöteten sprechen. Ausserdem müssen sich sämtliche Gäste zu unserer Verfügung halten. Bitte auch diejenigen, die nicht im Hotel wohnen und nur zum Essen hier waren. Niemand verlässt das Hotel. Ist das klar? Können Sie das bitte arrangieren«, fügte er freundlicher hinzu, als er seinen schroffen Tonfall bemerkte.

 

Sägemann nickte ergeben und führte die beiden Kommissare auf die Terrasse. Fast alle Plätze waren besetzt. Die Kerzen auf den Tischen tauchten die Umgebung in ein warmes und fast feierliches Licht. Der Hoteldirektor zeigte auf einen Tisch mit drei Gedecken, an dem zwei Frauen sassen.

»Die Dame mit den blonden Haaren ist Klara Niedermann, die Frau des Opfers. Bei der rothaarigen Dame handelt es sich um ihre Freundin, Kim Lacher. Soll ich Sie vorstellen?«

Zu seiner offensichtlichen Erleichterung schüttelte der Kommissar den Kopf, worauf sich Sägemann schnell entfernte. Caduff trat mit Sanja an den Tisch der beiden Frauen, die ihnen misstrauisch entgegensahen. Sanja registrierte die neugierigen Blicke der anderen Hotelgäste. Es war niemandem entgangen, dass etwas Schlimmes vorgefallen sein musste.

Die meisten Gespräche auf der Terrasse verstummten und es trat eine beunruhigende Stille ein. Alle beobachteten die Polizisten und warteten gespannt auf die Entwicklung der Ereignisse.

»Guten Abend. Mein Name ist Peter Caduff und das ist meine Kollegin Sanja Reusser. Wir sind von der Mordkommission Luzern«, stellte er sich und Sanja vor und zeigte seinen Ausweis. Auch Sanja wies sich aus. »Frau Niedermann, darf ich Sie bitten, uns ins Innere des Hotels zu begleiten?«

Klara Niedermann begann zu zittern und schlug beide Hände vor den Mund. »Mordkommission? Ist meinem Mann etwas zugestossen?«

»Ich bitte Sie, uns ins Innere zu begleiten.«

»Darf meine Freundin mitkommen?«

»Natürlich.« Caduff war überrascht, dass sich die beiden Frauen langsam erhoben, ohne nochmals nachzufragen. Die rothaarige Freundin und der Kommissar stützten Klara Niedermann von beiden Seiten und führten sie behutsam ins Hotel. Caduff befürchtete, sie könnte jeden Moment in Ohnmacht fallen. Auch ihre Freundin schien zu Tode erschrocken, hielt Klara Niedermann aber tapfer am Ellbogen fest.

»Bitte nehmen Sie Platz.« Der Kommissar zeigte auf ein Sofa im Foyer.

Bevor er die traurige Nachricht überbringen konnte, fragte Klara Niedermann nach ihrem Mann. Sie ahnte, dass sich etwas Schreckliches zugetragen hatte und wirkte trotz allem wieder einigermassen gefasst. Ihre Freundin hielt ihre Hand, sagte aber nichts.

Caduff sah Sanja an. Normalerweise war sie die erste, die redete, aber in diesem Fall schwieg sie beharrlich. Er hasste es, Todesnachrichten zu übermitteln, obwohl er auch in dieser Beziehung erfahren war. Es gab Dinge, an die man sich auch im Laufe einer langen Karriere nicht gewöhnen konnte. Diese Situation würde er mit Bestimmtheit nicht vermissen, wenn er in Rente war.

Er räusperte sich. »Frau Niedermann, es tut mir aufrichtig leid. Ich muss Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann Benno tot in Ihrem Hotelzimmer aufgefunden wurde.«

»Tot? Das kann nicht sein! Wir waren am Nachmittag zusammen und es ging ihm prächtig.« Klara Niedermanns Stimme wurde immer kläglicher, bis sie schliesslich ganz brach und nur noch undefinierbare Töne kamen, wie von einem verwundeten Tier. Sie schlang die Arme um ihren schmalen Körper und wiegte sich wimmernd hin und her.

»Leider, Frau Niedermann, muss ich Ihnen bestätigen, dass er tot ist. Es tut mir sehr leid.«

Die Rothaarige weinte zuerst. Sie nahm Klara Niedermann in die Arme und drückte sie fest an sich. Erst jetzt erwachte Klara aus ihrer Erstarrung. Sie schluchzte laut auf und stammelte: »Das kann nicht sein. Das kann nicht sein. Eben war er noch vollkommen gesund.« Die beiden Frauen klammerten sich verzweifelt aneinander.

Caduff sah Sanja an. Das ist Frauensache, dachte er und bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick. Sanja erwiderte seinen Blick aus ihren dunklen Augen und reagierte nicht weiter.

»Könntest du bitte Wasser für die beiden Damen besorgen«, bat er sie.

Kim Lacher fasste sich zuerst, löste sich ein wenig von ihrer Freundin und fragte. »Was ist passiert?«

»Benno Niedermann wurde vom Hausmädchen tot aufgefunden. Nach jetzigem Kenntnisstand wurde er erschlagen.«

»Erschlagen, wer sollte so etwas tun?«, stöhnte Klara auf.

»Wir vermuten, dass er mit einem Golfschläger getötet wurde. Von wem, das ist Gegenstand unserer Ermittlungen. Ich verspreche Ihnen, dass wir alles daransetzen werden, den Mörder Ihres Mannes zu finden. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Klara Niedermann schnappte nach Luft. »Fragen, was für Fragen? Ich weiss von nichts. Ich habe keine Ahnung, wer meinem Mann so etwas antun könnte.« Ihr Gesicht drückte blankes Entsetzen aus. Wieder brach sie in ein leises Schluchzen aus, ihre Schultern bebten unkontrolliert.

»Ihr Mann muss zuerst identifiziert werden. Sind Sie dazu in der Lage? Es tut mir leid, dass ich Ihnen den Anblick nicht ersparen kann. Wenn Sie beide einverstanden sind, darf Frau Lacher Sie begleiten.«

Klara Niedermann sah mutlos zu ihrer Freundin. »Ich komme natürlich mit, wenn du es möchtest«, nickte diese zustimmend. »In welchem Zimmer wird meine Freundin heute übernachten?«, wandte sie sich dann an den Kommissar. »Es ist nicht zumutbar, die Nacht in dem Zimmer zu verbringen, in dem Benno umgebracht wurde.«

»Selbstverständlich kann Frau Niedermann umziehen. Im Moment wird der Raum kriminaltechnisch untersucht und darf ohne Begleitung der Polizei sowieso nicht betreten werden. Sie können alles Notwendige mitnehmen«, wandte er sich an die verzweifelte Frau. »Es gibt sicher ein freies Zimmer im Hotel. Wir klären das umgehend mit Herrn Sägemann. Noch besser wäre es, wenn in Ihrem Raum noch ein zweites Bett vorhanden wäre, Frau Lacher, und Sie Ihre Freundin in Ihrem Zimmer aufnehmen könnten. Dann wäre Frau Niedermann nicht allein.«

Kim Lacher hatte grüne Augen, die Caduff an eine Katze erinnerten. Ein interessanter Kontrast zu ihrer roten Haarpracht, die sich in Wellen über ihre Schultern ergoss. Jetzt kniff sie ihre Augen zusammen, sodass sich eine steile Falte dazwischen bildete, und musterte den Kommissar.

»Das können wir selbstverständlich so machen.« Sie warf ihrer Freundin einen Blick zu. »Bist du bereit, Klara?«

Klara nickte. Ihre Besorgnis war ihr anzusehen.

»Gehen wir.« Caduff erhob sich und wartete geduldig, bis sich die Frauen ebenfalls erhoben hatten.

»Sanja, du kümmerst dich bitte um die Befragung der Gäste auf der Terrasse. Philipp soll dich unterstützen. Du kennst das Prozedere. In zwei Monaten leitest du die Ermittlungen allein.« Die letzte Bemerkung konnte er sich nicht verkneifen.

Sanja verschwand in Richtung Terrasse, während Caduff mit den beiden Frauen zur Treppe ging, um in Zimmer 122 die Leiche von Benno Niedermann identifizieren zu lassen.