Wo der Hund begraben liegt

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Wo der Hund begraben liegt
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Beate Vera

Wo der Hund begraben liegt

Ein Provinzkrimi aus Berlin

Jaron Verlag

Originalausgabe

1. Auflage 2014

© 2014 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes

und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin,

unter Verwendung eines Fotos von plainpicture/Jakob Börner

Skizze S. 6: Sabine Lehmann, Schwäbisch Hall

Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

ISBN 9783955522049

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

Aus Leas Küche

Kleines Nachwort, großer Dank

Für

Maarten und Eric.

Ohne Euch ist alles nichts.


1

Lea Storm blickte resigniert auf das leuchtende Display ihres Weckers: 2.46 Uhr. Das würde eine weitere schlaflose Nacht werden, verdammt! Sie setzte sich im Bett auf und trank einen Schluck Wasser. Talisker, ihr rotbrauner Schottischer Hirschhund, gähnte, streckte sich im Flur vor der offenen Schlafzimmertür zu seiner beeindruckenden Länge und kam an Leas Bett getrottet. Erwartungsvoll legte er seine Schnauze auf den Rand ihrer Matratze und schien Lea mit seinen dunklen Augen zu mustern.

»Du freust dich wieder auf einen nächtlichen Ausflug, was, mein Großer?«

Seit vier Wochen ging das schon so, Lea fand keine Nachtruhe. Anfangs hatte sie gelesen und in der ersten Woche pro Nacht ein Buch verschlungen. In der zweiten Woche hatte sie alle achtzehn Folgen der britischen Krimi-Serie Morse auf ihrem Laptop geschaut und dann begonnen, Krieg und Frieden zu lesen. Seit einer Woche nun stand sie einfach auf, zog sich ihre Laufsachen an und joggte mit Talisker durch die Nacht. Danach stieg sie in die Badewanne, trank einen doppelten Whisky und fand wenigstens noch zwei Stunden Schlaf, bis sie um halb acht wieder wach wurde.

»Up! Na komm, Großer, dann drehen wir wieder eine Runde.«

Talisker fand großen Gefallen an diesen nächtlichen Ausflügen, das Angebot an Fährten entlang des Berliner Mauerwegs im Süden der Stadt war die pure Freude für jede Hundenase. Lea konnte von ihrem Garten aus direkt auf den ehemaligen Grenzstreifen treten, der Berlin von Teltow trennte. Sie besaß eines der von einigen Nachbarn neidvoll betrachteten Filetgrundstücke ganz am Ende der Eigenheimsiedlung im Eifelviertel. Die Siedlung umfasste rund einhundert kleine, quaderförmige Häuser mit putzigen Gärten davor und dahinter, angeordnet in Zeilen entlang dem Stolberger Ring und seinen kleinen Nebenstraßen, dem Monschauer Weg, dem Eupener Weg und dem Dürener Weg, an dessen Ende Leas Haus lag.

Ihr Mann Mark hatte das Reihenendhaus und das Grundstück, auf dem es stand, von seiner Großmutter geerbt. Als die und ihr Mann das Haus Mitte der sechziger Jahre gekauft hatten, waren die Bäume noch Setzlinge und die Häuserreihen in nur drei verschiedenen Farben gehalten gewesen. Mittlerweile hatte beinahe jedes Haus eine andere Farbe, manche wiesen gedämmte oder verklinkerte Fassaden auf, und ebenso unterschiedlich hatten die Besitzer im Laufe der vergangenen fünf Jahrzehnte ihre Vorgärten und ihre Hauseingänge gestaltet. Was früher an Bauhaus erinnerte, vermittelte heute einen eher kubistischen Eindruck inmitten der nun hohen, alten Bäume, die den Straßenrand säumten, in den Zeilen Schatten spendeten und mit ihren kräftigen Wurzeln das Pflaster der Bürgersteige und der Garagenhöfe anhoben. Der Dürener Weg war eine Sackgasse und lag dadurch sehr ruhig und beschaulich direkt an der Grenze zwischen Berlin-Lichterfelde und Sigridshorst in Brandenburg.

»Tally, up, let’s go!« Lea gab dem großen Jagdhund das Zeichen, zu ihr zu kommen. Sie hatte ihre Laufschuhe geschnürt, steckte ihr iPhone und den Hausschlüssel in separate Fächer ihrer Neo-Belt-Gürteltasche und zog die Schiebetür zum Garten auf. Sie wusste, dass sie ihre Schlafstörungen nicht länger ignorieren durfte, aber sie verabscheute Wartezimmer und das deutsche Gesundheitswesen mit einer geradezu pathologischen Vehemenz und zögerte so den Besuch bei Dr. Schulte immer wieder hinaus. Sie wusste ja, was er ihr sagen würde: Er könne Tabletten verschreiben, aber begleitete Trauerarbeit wäre viel besser für sie. Lea fiel in einen leichten Trab, Talisker an ihrer Seite.

Der Buga-Wanderweg verlief auf dem ehemaligen DDRGrenzstreifen vom S-Bahnhof Lichterfelde Süd am Teltowkanal entlang durch Kleinmachnow bis nach Potsdam. Der erste Abschnitt zwischen Lichterfelde Süd und Teltow, den Lea nun mit Talisker erreicht hatte, war mit japanischen Kirschbäumen bepflanzt. Jetzt im Juli waren sie schon abgeblüht, aber im Mai standen sie stets in voller zartrosa Pracht, und wenn das Brandenburger Gartenbauamt dann auch noch die Rasenflächen mähte, sah die Strecke zwischen Lichterfelder Allee und der Bahntrasse, die Lichterfelde mit Teltow verband, sehr malerisch aus. Tagsüber herrschte auf dem ehemaligen Todesstreifen ein reges Treiben, Radfahrer und Jogger bahnten sich ihren Weg zwischen Spaziergängern, Kinderwagen, frei laufenden Hunden und kleinen Kindern auf Laufrädern hindurch. Nordic-Walking-Trupps aller Altersgruppen zogen laut schnatternd an den anliegenden Gärten vorbei, und ab und zu feierten Jugendliche Partys bis in die frühen Morgenstunden.

Lea konnte die Pferde vom nahe gelegenen Hof schnauben und wiehern hören. Etwa eine Viertelstunde entfernt, wenn man zügig in Richtung Osten ging, begann flaches Brandenburger Land, und Lea genoss den offenen Blick über die weiten Felder bei jedem ihrer Läufe oder Spaziergänge, die sie dort entlangführten. Sie kam selbst aus Schöneberg und hatte ihre Kindheit und Jugend in der Innenstadt verbracht, bis sie Berlin verlassen musste. Sie liebte es, sich draußen aufzuhalten, und lief täglich mehrere Stunden mit Talisker, oft querfeldein durch das alte Truppenübungsgelände der Amerikaner, auch wenn das eigentlich nicht öffentlich zugänglich war. Heute Nacht wollte sie die Strecke am Feld entlang nehmen, um sich möglichst schnell auszupowern.

 

Sie hatten die Kurve hinter dem Bahndamm passiert und befanden sich kurz vor der Gedenkstele für Hans-Jürgen Starrost, eines der Berliner Maueropfer, als Talisker leise zu knurren begann. Lea war überhaupt nicht ängstlich, obwohl ihre nächtlichen Ausflüge natürlich nicht ganz ungefährlich waren. Mit einem Hund von der Größe Taliskers an ihrer Seite konnte ihr nicht allzu viel passieren. Trotz seines fast schon stoischen Gemüts genügte ein einziges Wort von ihr, und er würde sein Gegenüber zu Boden stoßen und stellen, bis ihr nächster Befehl über den weiteren Verlauf der Begegnung entschied. Talisker parierte aufs Wort, Mark und sie hatten viel Zeit und Geld in seine Erziehung gesteckt, und das hatte sich auch gelohnt.

Taliskers Knurren wurde intensiver, je näher sie dem Feld an der Abbiegung nach Sigridshorst kamen. Der Vollmond schien hell auf den Weg, Bäume und Büsche rechts und links von ihr lagen im Dunkeln. Darin verbarg sich aber nicht der Grund für Taliskers Unmut. Das Bild, das der Mond über dem Feld ausleuchtete, würde sie nicht mehr vergessen.

Der Weg, auf dem sie lief, führte auf einen kleinen Platz. Links ab ging es, mit dem Feld zur Rechten, in Richtung Osdorfer Straße, auf der anderen Seite befand sich das brachliegende, eingezäunte Areal des ehemaligen Truppenübungsgeländes der US-Streitkräfte. Rechts ab verliefen zwei Pfade nach Sigridshorst, einer in die Wohngegend, der zweite, mit dem Feld zur Linken, vorbei an einer Schrebergartenkolonie. Auf dem Platz standen vier Metallbänke, zwei nebeneinander mit Blick auf das Feld, die anderen beiden, denen Taliskers Aufregung galt, links am Rand mit Blick auf die Weggabelung.

Ein leichter Wind strich durch die Wipfel der Baumsetzlinge hinter den Bänken, und ganz in der Nähe hörte Lea ein Käuzchen rufen. Sie sah zwei Personen auf den Bänken sitzen, einen Mann auf der rechten der beiden Bänke und eine Frau auf der linken. Beide saßen regungslos da, und es dauerte einen Moment, bis Lea den Grund dafür erkannte. Etwas stimmte nicht mit ihren Köpfen. Der der Frau hing ein wenig schlaff zur Seite, und der des Mannes hatte eine ganz merkwürdige Form.

Talisker stand stocksteif an ihrer Seite. Er wirkte konzentriert, aber nicht so, als drohte Gefahr. Also beschloss Lea, sich der skurrilen Szene zu nähern. Sie hatte keine Angst, die Situation war viel zu unwirklich. Lea wandte sich zunächst der recht jungen Frau auf der linken Bank zu. Sie war vielleicht Anfang zwanzig, hatte langes dauergewelltes und blondiertes Haar, wie Lea im Lichtstrahl ihrer Taschenlampen-App bemerkte. Ein tiefer Schnitt klaffte an ihrer Kehle, man hatte ihr beinahe den Kopf abgeschnitten. Ihr Körper steckte in einem hautengen Schlauchkleid, das blutgetränkt war. Nur kleine Stellen, an die das Blut noch nicht gesickert war, leuchteten in Neongrün. Ihr Fleisch quoll aus dem Abschluss über der Brust. Die Hände der Toten waren in einer bescheiden anmutenden Geste im Schoß gefaltet, die Beine geschlossen, und die Füße in den extrem hohen Riemchensandalen standen eng nebeneinander. Wie konnte man in so etwas laufen? Ihre Fußnägel waren in einem leuchtenden Orange lackiert, ebenso wie ihre sehr langen Fingernägel. Die kamen sicher aus dem Nagelstudio. Die Haltung der Frau passte so gar nicht zu ihrer Aufmachung.

Lea drehte sich zu dem Mann. Er trug eine Jeans von einem Discounter, über deren Bund sich ein schlapper Bierbauch ergoss. Wie hielt diese Hose an ihm? Er musste sie doch bestimmt ständig hochziehen, wenn er sich bewegte. Und wenn sie unter der Bauchlinie mit einem Gürtel festgehalten wurde, musste sie dem Träger beim Sitzen die Blutzufuhr zur unteren Körperhälfte abschneiden. Eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf wies Lea auf die Absurdität ihrer Gedankengänge hin, und sie konzentrierte sich wieder auf das, was sie sah. Der Mann trug ein gestreiftes kurzärmeliges Hemd, das nach Synthetik aussah und dessen Knopfleiste über dem Bauch zum Bersten gespannt war. In der linken Brusttasche steckte ein Kugelschreiber. Sein Schädel oder vielmehr das, was von ihm übrig war, hatte die Form eines Fußballs, der dem heftigen Zubeißen eines großen Hundes nicht hatte standhalten können und dem nun die Luft fehlte. Das Gesicht war blutüberströmt, und Lea wunderte sich für einen kurzen Moment, warum sie sich weder fürchtete noch übergeben musste. Sie blieb in kompletter Distanz zu der grauenvollen Szenerie vor ihr. Talisker ließ sie aus einigen Metern Abstand keinen Moment aus den Augen.

Dann erfasste der Lichtstrahl ihres Smartphones ein Büschel beinahe lachsroter Haare, die aus dem mit schwarzem Blut verklebten oberen Teil des Kopfes herausragten, fast so, als hätte jemand mit Haargel nachgeholfen. In dem Moment, als sie den Mann an seiner auffälligen Haarfarbe erkannte, winselte dessen Hund. Lea ging um die Bank herum und fand den Beagle, der ein paar Meter weiter im Gras lag. Sie wählte die 110 auf ihrem iPhone und sah sich die Hündin ihres Nachbarn genauer an.

Keine halbe Stunde später war die Szene in grelles Licht getaucht. Lea hatte das Fluchen des Kriminalhauptkommissars in der unwirklichen Betriebsamkeit deutlich hören können, als die Scheinwerfer der Spurensicherung auf ihre Fußabdrücke im Blut der Opfer gefallen waren. Der Fundort – noch wusste niemand, ob es sich auch um den Tatort handelte – war mit dem rot-weißen Absperrband der Polizei gesichert, und die in weiße Schutzanzüge gekleideten Gestalten der Spurensicherung waren dabei, Fotos zu machen und eben Spuren zu sichern. Lea hatte ihre Laufschuhe abgeben müssen, und die Beamtin hatte ihr dabei in Aussicht gestellt, dass man auch ihre restliche Kleidung noch im Laufe der Nacht werde mitnehmen müssen. Gerade hatte sie Ersatzschuhe aufgetrieben, und Lea sah sie mit einem Paar Flipflops in der Hand zusammen mit dem Hauptkommissar auf sich zukommen.

»Kriminalhauptkommissar Glander, LKA Brandenburg. Sie haben die Leichen also gefunden? Was machen Sie denn um diese Zeit hier draußen?«

Ein Mann von Takt und großer Zurückhaltung, dachte Lea mit einem Anflug von Ironie und konnte sich eines Zuckens um die Mundwinkel nicht erwehren. Glander entging das unterdrückte Lächeln nicht. Er war ungefähr einen halben Kopf größer als sie selbst, die mit ihren 1,78 Meter auch nicht gerade klein war. Seine Haare waren kurz und straßenköterblond. Er trug eine vermutlich schlammfarbene Cargohose und ein ungebügeltes Polohemd in dunklem Oliv oder vielleicht auch Grau, die Farben waren in dem kalten Licht nicht so genau zu erkennen. Seine Füße steckten in leichten Trekkingschuhen. Der Kommissar wirkte kräftig und trainiert, wie jemand, der regelmäßig Sport trieb, ohne es zu übertreiben. Sie fand ihn attraktiv, doch das Flüstern in ihrem Hinterkopf warf erneut ein, dass das ein gänzlich unpassender Gedanke war. Lea gab der Stimme recht.

»Ich kann nicht schlafen«, entgegnete sie und sah ihn an. Er hatte stahlblaue Augen, und auf einmal wusste sie ganz genau, an wen er sie erinnerte: Er war eine moderne und erheblich kernigere Version von Steve McQueen, es fehlte nur der im Hintergrund geparkte Ford Mustang.

Glander fragte sich derweil, ob die Frau vor ihm, wenngleich zweifelsfrei äußerst ansehnlich in ihren knappen Sportsachen, bescheuert war. Wer trieb sich denn mitten in der Nacht freiwillig auf so einer abgeschiedenen Strecke rum? »Und da fällt Ihnen nichts Besseres ein, als hier joggen zu gehen? Ist ja nicht gerade ungefährlich, so ganz alleine auf dem Mauerstreifen rumzustreunen.«

Etwas an seinem Tonfall musste Talisker missfallen haben, denn er erhob sich ein paar Meter hinter Lea und knurrte leise.

»Himmel, gehört der zu Ihnen?« Glander starrte den Hund an, der ihn fixierte.

»Das ist Talisker. Tagsüber ist er ein Lamm, aber nachts freelanct er als mein Bodyguard.«

»Mondkalb trifft es wohl eher. Was ist das denn für eine Rasse? Der wiegt doch sicher fünfzig Kilo.«

»›Der‹ ist ein Scottish Deerhound, und er wiegt genau 42,5 Kilo. Er ist recht schlank, weil wir viel laufen.«

»Na gut, das erklärt, wieso Sie sich bei der Dunkelheit nicht fürchten. Meine Kollegin bringt Sie jetzt erst mal nach Hause. Ich komme etwas später bei Ihnen vorbei, um mich weiter mit Ihnen zu unterhalten. Sie wissen ja«, er räusperte sich, »dass wir Ihre Kleidung für die Spurensicherung mitnehmen müssen.« Damit drehte er sich abrupt um und ging wieder hinüber zu den Leichen.

Lea sah die Polizistin an. »Ist er immer so charmant?«

»Wie würden Sie sich denn fühlen, wenn man Sie um diese Zeit aus dem Bett klingelt und zu zwei Leichen holt?«

»Ich wäre froh, wenn ich bis jetzt geschlafen hätte.«

2

Weitere zehn Minuten später stand Lea in ihrem Badezimmer und zog ihre Sportsachen aus. Die Polizistin – Polizeimeisterin oder so ähnlich – Griese stand im Türrahmen und sah ihr dabei zu.

»Hätten Sie wohl die Güte …«

»Tut mir leid, aber ich muss sicherstellen, dass ich Ihre Kleidung vollständig erhalte. Wenn Sie die Sachen bitte hier hineintun würden …« Griese reichte Lea einige große durchsichtige Plastiktüten.

Lea zuckte mit den Schultern. Sie war nicht prüde, und sie wusste, dass sie eine gute Figur hatte. Damals, nach der Geburt ihres Sohnes, hatte sie hart daran gearbeitet. Die Schwangerschaft war kompliziert verlaufen, Lea hatte sich im fünften Monat aufgrund einer Gebärmutterhalsschwäche kaum mehr bewegen dürfen und fünfzehn Kilo zugenommen. Sie hatte sich damit getröstet, dass sie wenigstens zu Hause bleiben konnte und nicht die restlichen Monate im Krankenhaus verbringen musste – zumal ihr die Ärzte gesagt hatten, dass dies mit großer Sicherheit ihre einzige Schwangerschaft bleiben würde. Duncan war im Mai per Kaiserschnitt geboren worden, und sobald der Arzt ihr grünes Licht gegeben hatte, war sie jeden Tag stundenlang mit dem Kinderwagen durch die Gegend gelaufen. Im folgenden Herbst hatte sie ernsthaftes Lauftraining aufgenommen, das sie im tiefen Winter auf das Laufband in ihrem neuangebauten Wintergarten verlegt hatte. Ihre Figur hatte sich dann im Laufe der folgenden Jahren verändert, ihr Busen war etwas voller geblieben, auch ihre übrigen Kurven hatten sich erhalten. Sie hatte ihre alte Schlaksigkeit verloren, und ihre Bewegungen hatten eine athletische Geschmeidigkeit angenommen. Auch fast zwanzig Jahre später, mit Mitte vierzig, hatte sie diese sportliche Figur, seit dem letzten Jahr war sie eher noch drahtiger geworden. Sie war wirklich viel unterwegs gewesen.

Lea gab der Polizistin die Plastiktüten mit den Klamotten und trat in ihre ebenerdige Dusche. Die Beamtin zog sich zurück, vermutlich würde sie sich im Haus umschauen, dachte Lea, und es war ihr total egal. Sie war von Natur aus ordentlich und schätzte es, wenn alles seinen Platz hatte. Mark war da ganz anders gewesen, und Duncan hatte den Hang zu offenen Schranktüren und leeren Milchkartons im Kühlschrank von seinem Vater geerbt. Doch keiner der beiden war da, und so wirkte das Haus keineswegs unordentlich.

Sie hörte die Klingel und anschließendes Stimmengemurmel, während sie in ein knielanges Sommerkleid mit Paisleymuster in Grau- und Blautönen schlüpfte. Talisker folgte ihr die Treppe hinunter und knurrte leicht, als er Glander im Wohnzimmer sah.

»Calm, boy! Down! In your corner!«

Talisker strich vorbei an Glander, der sich unweigerlich versteifte, und warf sich auf die Decken in seiner Ecke.

»Sie sprechen englisch mit Ihrem Hund?«

»Ja, er ist ein schottischer Jagdhund. Wir haben ihn vor sechs Jahren von einer Züchterin aus Schottland übernommen, da war er schon die englischen Befehle gewohnt.«

»Wir?«

»Mein Mann Mark und ich.« Lea wusste, was nun gleich käme, und suchte den toten Winkel in ihrem Herzen, der es ihr möglich machen würde, das Gespräch fortzuführen.

»Und wo ist Ihr Mann heute Nacht?« Glander ließ den Blick nicht von ihrem Gesicht. Er spürte genau, dass mit dieser Frau etwas nicht stimmte, sie war viel zu ruhig für das, was sie gerade erlebt hatte. Er tippte auf Psychopharmaka, auch wenn das nicht zu ihrer sportlichen Erscheinung passte. Ihre attraktive Figur war ihm keineswegs entgangen, ebenso wenig wie ihr wirklich schöner Mund und die großen graugrünen Augen, die ihn jetzt mit einem Ausdruck trostloser Leere anblickten.

»Mein Mann ist tot, Herr Hauptkommissar. Er starb vor einem Jahr an Krebs.« Der Schmerz breitete sich in Leas Körper aus und nahm ihr fast den Atem. Ein Jahr, auf den Tag genau, war es her.

 

Talisker erhob sich, doch mit einer knappen Geste gebot Lea ihm liegenzubleiben. Äußerlich schien sie unbewegt, doch Glander war das leichte Zittern ihrer Hand nicht entgangen.

»Das tut mir aufrichtig leid, Frau Storm. Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns setzen, damit ich Ihnen ein paar Fragen stellen kann?«

Lea war ihm dankbar, denn sie befürchtete jedes Mal, wenn der Schmerz sie durchflutete, dass ihre Beine nachgeben würden. »Natürlich nicht, Herr Hauptkommissar. Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ich hätte jetzt gerne einen Whisky, wenn Sie nichts dagegen haben.«

»Habe ich nicht. Leider kann ich Ihnen dabei keine Gesellschaft leisten, denn ich bin ja im Dienst. Sie trinken gerne Whisky?«

Lea sah in an und lächelte, als sie antwortete. »Ja, ich trinke nur Whisky. The water of life. Mein Vater war Schotte, und ich weiß aus erster Hand, dass seine Landsleute wenig Ahnung von feiner Küche haben – es sei denn, man hält frittierten Mars-Riegel für eine Delikatesse. Aber sie machen in der Region Speyside für meine Begriffe den besten Malt der Welt. Und um Ihnen gleich Ihre nächste Frage zu beantworten: Ich trinke Whisky, wann immer mir danach ist und so viel ich will. Und: Nein, gestern habe ich keinen Whisky getrunken. Aber bevor dieser Tag rum ist, werde ich sicherlich noch eine Menge Whisky trinken.«

Sie goss sich zwei Finger breit eines Balvenie Rum Cask in ein Glencairne Glas, das Glander an der typischen, sich verjüngenden Form erkannte. Der Balvenie stand in einer Traube – sehr teurer, wie Glander annahm – Malt Whiskys auf einem Sideboard. Er erkannte eine Flasche und war überrascht, denn den hatte er noch nirgendwo anders gesehen.

»Es geht mich gar nichts an, Frau Storm … Aber ich sehe, Sie haben da auch einen Bladnoch. Den sieht man nicht so oft.«

»Sie mögen Whisky?«

»Nicht ausschließlich, aber recht gerne in der kälteren Jahreszeit.«

»Der Bladnoch ist eine der wenigen Ausnahmen, die ich mache, er ist ein Lowland Malt. Ein bisschen ein Geheimtipp, man muss schon gut beraten werden, um auf den Bladnoch zu kommen. Mich hat eine alte Freundin drauf gebracht.«

Glander lächelte sie an. »Frau Storm, ich müsste Ihnen ein paar Fragen stellen.«

»Natürlich, Herr Hauptkommissar.«

»Glander reicht völlig. Frau Storm, meine Kollegin sagte mir, Sie kannten den toten Mann.«

Leas kurzes Zögern blieb Glander nicht verborgen, diese Frau erschien ihm etwas rätselhaft. Sie hatte wirklich schöne Augen, die sicherlich leuchteten, wenn sie lachte, aber Glander vermutete, dass sie lange nicht gelacht hatte, denn in ihren Zügen lag tiefe Traurigkeit.

»Ja, das ist … das war Wolfgang Hantschke, ein Nachbar hier aus der Straße. Er wohnt … wohnte in der Neunzehn.«

»Kannten Sie Herrn Hantschke gut?«

»Nein. Hantschke war ein Vollidiot. Entschuldigen Sie, Herr Glander, aber er gehörte zu der Art von Nachbarn, die niemand braucht. Immer meckern, Feiern der Nachbarn durch die Polizei beenden lassen, Kinder anbrüllen, dass sie zu laut seien, mittags schon voll … Einige wenige Nachbarn haben ihn gegrüßt, ich fand ihn grauenvoll und hab ihm schon ein paar Mal die Pest an den Hals gewünscht. Jedenfalls immer dann, wenn ich sah, wie er mit seinem Hund umging.«

Glander konnte aus ihrem Gesicht geradezu ablesen, wie unsympathisch ihr dieser Hantschke gewesen war. »Was hat er denn mit dem Hund gemacht?«

»Ihm völlig falsches Futter gegeben, sich zu wenig mit ihm bewegt, und obwohl das arme Tier keinerlei Erziehung hatte, trat er es, wenn es nicht spurte. Ein ganz widerlicher Kerl. Weiß man, wer die Frau bei ihm war?«

»Wir vermuten, eine Professionelle, haben ihre Identität aber noch nicht feststellen können. Frau Storm, bitte erzählen Sie mir doch genau, was heute Nacht passiert ist, als Sie rausgingen!«

Lea überlegte kurz und entgegnete dann: »Wir sind gegen drei Uhr hinten raus durch den Garten und dann direkt auf den Mauerweg. Ich bin gleich losgelaufen, ich wollte heute schnell joggen, dafür nicht so weit, um möglichst bald müde zu werden, dafür eignet sich die asphaltierte Strecke gut. Talisker fing irgendwann zu knurren an, er klang immer angespannter, je weiter wir liefen. So zwanzig Meter vor den Bänken kam der Mond raus, und ich sah die beiden … also, sah sie da sitzen.«

»Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor?«

»Ja sicher, aber eigentlich wunderte ich mich nicht, dass sie da saßen, sondern wie sie da saßen. Es hat ein paar Momente gedauert, bis mir auffiel, dass es an den Köpfen der beiden lag. Das war irgendwie total absurd, ich wusste, dass etwas nicht stimmte, aber nicht genau, was es war.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

Lea überlegte erneut. »Ich habe Talisker befohlen sich zu setzen und zu warten. Dann bin ich zu der Frau gegangen. Vielleicht ihrer hellen Haare wegen, ich weiß nicht. Danach rüber zu dem Mann. Es tut mir leid, ich habe gar nicht daran gedacht, dass ich irgendwelche Spuren versauen könnte.«

»Dafür haben wir ja Ihre Turnschuhe mitgenommen, und die Spusis sind ganz gut darin, Fußabdrücke zuzuordnen.«

»Gab es denn noch andere?«

Sie hat einen wachen Verstand, fand Glander und schüttelte den Kopf. »Das wissen wir noch nicht genau. Ich meinte damit, dass die Kollegen Ihre Schritte nachverfolgen können. Die Tiefe der Abdrücke im Blut, logische Schrittfolgen und solche Punkte. Haben Sie denn jemand gesehen oder etwas gehört, als Sie sich …«, er zögerte kurz, »… die Leichen ansahen?«

»Nein. Und wenn da jemand gewesen wäre, hätte das Talisker ganz sicher bemerkt, und Sie hätten Ihren Täter bereits.«

Glander schmunzelte. Er mochte diese Frau und stellte überrascht fest, dass er sie gerne unter anderen, angenehmeren Voraussetzungen kennengelernt hätte.

»Das hätte mir allerdings ausgesprochen gut gefallen, Frau Storm. Haben Sie denn irgendeine Idee, ob Ihr Nachbar Feinde hatte?«

»Feinde? Ich weiß nicht. Keiner mochte ihn, und ich denke, fast alle fanden ihn schrecklich unangenehm, aber man schlägt ja seinem Nachbarn nicht den Kopf ein, nur weil der ein Misanthrop ist. Was er sonst mit seinem Privatleben anfing, keine Ahnung, vielleicht können Ihnen seine direkten Nachbarn weiterhelfen, ich nehme an, sie müssten mehr von ihm mitbekommen haben.«

Es klingelte an der Haustür. Als Lea öffnete, stand sie einem sehr großen, sehr beleibten Mann gegenüber, der ihr seine Dienstmarke entgegenhielt.

»Kriminalhauptkommissar Prinz, ich bin von der Berliner Kripo. Kann ich hereinkommen?«

»Nur zu, Ihr Kollege Glander ist auch hier. Wir sind alle im Wohnzimmer. Geradeaus und nach rechts.«

Die Miene des Mannes verdunkelte sich. Er ging an ihr vorbei ins Wohnzimmer, wo Glander sich erhob.

»Prinz. Was machen Sie denn hier?«

Prinz nickte ihm zu. »Glander. Der Tote ist in Berlin gemeldet, und der Mauerweg gehört zum Berliner Zuständigkeitsgebiet. Solange der Tatort nicht eindeutig in Brandenburg liegt, denke ich, ist das unser Fall. Außerdem sind Sie doch gar nicht im Dienst heute.«

»Blödsinn! Die Leichen wurden in Brandenburg gefunden, also sind wir zuständig.« Mit einem Blick auf Lea fügte er hinzu: »Ich denke aber, das klären wir besser draußen oder bei uns auf dem Revier. Ich war ohnehin fürs Erste hier fertig, und ich bin sicher, Frau Storm hat auch genug für heute Nacht. Frau Storm, ich lasse Ihnen die Kollegin Griese hier, wenn es Ihnen recht ist.«

Lea schüttelte den Kopf. »Nein danke, Herr Glander, das ist wirklich nicht nötig. Ich habe ja Talisker.«

Prinz starrte ungläubig auf den Hund, der in der Ecke des Wohnzimmers den Kopf hob, als er seinen Namen hörte. Dann blickte er auf Glander runter und nickte. »Ja, dem möchte ich auch nicht im Dunkeln begegnen. Der Griese aber auch nicht, ehrlich gesagt.« Er lachte anzüglich, drehte sich um und warf Glander im Rausgehen zu: »Na gut, Glander, dann klären wir das morgen auf dem Dienstweg. Ich hätte bis dahin aber gerne Ihren Bericht. Vor neun bitte, per Mail. Ich finde alleine hinaus, Frau Storm. Guten Morgen!«

Lea sah Glander fragend an.

»Kriminalhauptkommissar Prinz ist vom LKA 1, das ist die für Tötungsdelikte zuständige Dienststelle in Berlin. Ich war dort viele Jahre tätig, arbeite jetzt aber in Brandenburg. Eigentlich habe ich gar keinen Dienst heute, aber der Kollege von der Einsatzleitung wusste, dass ich ganz in der Nähe bei meiner Schwester in Teltow bin. Sie hat gestern ihren Geburtstag gefeiert.« Er wandte sich ebenfalls zum Gehen und gab Lea seine Karte. »Wenn Ihnen noch irgendetwas einfällt, egal, was es ist, rufen Sie mich bitte an, Frau Storm, ja? Ein Streifenwagen wird Sie im Laufe des Vormittags abholen, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können. Bitte stellen Sie sicher, dass die Kollegen Sie antreffen!«

Er ging zur Tür vor, an der Polizeimeisterin Griese bereits wartete. Lea schüttelte beiden die Hand und trat dann ein paar Schritte vor die Tür, um zuzusehen, wie sie die kurze Zeile hinunter zur Straße gingen, in der ein Streifenwagen mit Blaulicht parkte. Glander drehte sich kurz um, nickte ihr noch einmal zu und stieg vorne neben dem Fahrer ein.

»Ich wette, er ist ein miserabler Beifahrer, Tally.« Lea kraulte den großen Hund, der neben ihr stand, hinter einem Ohr.

Als sie wieder ins Haus zurückkehren wollten, ging die Tür ihrer Nachbarn auf, und die beiden Lehmann-Schwestern traten in grellgeblümten wattierten Morgenmänteln und heller Aufregung in die Zeile hinaus.

»Lea, was ist denn passiert? Was macht die Polizei hier?«

Unmittelbar verspürte Lea eine bleierne Müdigkeit. Sie wollte nur noch in ihr Bett gehen und schlafen. »Es tut mir leid, aber ich muss mich jetzt wirklich wieder hinlegen.«

Danach schlief sie fünf Stunden am Stück.

Während Lea ihren dringend benötigten Schlaf fand, saß Glander seiner Schwester in deren Küche in Teltow gegenüber und fluchte über den arroganten LKA-Kollegen. »Das glaubst du nicht, da schwabbelt die Prinzenrolle in das Wohnzimmer von dieser Storm und macht mir ’ne Ansage! Und das richtig Miese daran ist, dass die den Fall vermutlich auch kriegen. Scheiße! Der Prinz findet doch seinen eigenen Breitarsch nicht, so dämlich ist der.«

Melanie Rust, geborene Glander, grinste breit und gähnte dann noch breiter. »Dabei ist der dir gar nicht vorgesetzt, ihr habt doch denselben Dienstrang. Aber sag mal, diese Frau Storm, die war ganz ruhig, nachdem sie zwei Leichen findet und ihr dann das volle Spusi-Programm vor ihr abzieht? Das ist doch nicht normal, oder?«