Wer die Lüge kennt

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Glander liebte es, Zeit mit Lea zu verbringen. Wenn sie lachte, strahlten ihre graugrünen Augen. Er mochte die beiden Fältchen, die rechts und links ihrer Nasenwurzel auftraten, wenn sie sich ärgerte oder konzentrierte, und konnte von ihrer weichen Haut nicht genug bekommen. Ihr Duft und der kehlige Klang ihrer Stimme, wenn sie sich liebten, nahmen ihm den Atem. Glander war bis über beide Ohren verliebt, und er würde jeden Menschen, der Lea schaden wollte, ohne zu zögern aus dem Weg schaffen. Für diese Frau würde er alle Grenzen überschreiten.

Die Türglocke unterbrach Glanders Gedankengang. Er stieg die Treppe hinunter und öffnete die Haustür. Vor ihm stand ein Unbekannter, der etwa einen halben Kopf größer war als er selbst und ihn zunächst überrascht, dann feindselig und schließlich lächelnd ansah. Sein Mienenspiel dauerte nur ein paar Sekunden und wäre jedem entgangen, der nicht so viel Erfahrung wie Glander im Deuten der Körpersprache besaß. Talisker, der neben Glander auftauchte, zog den Kopf ein. Glander teilte die spontane Aversion des Hundes, fragte den Fremden aber dennoch freundlich, wie er ihm helfen könne.

Der Mann grinste schief und erwiderte etwas auf Englisch. Zumindest nahm Glander an, dass es Englisch war, denn er verstand kaum ein Wort. Sein Englisch war eigentlich ganz passabel, doch das hier klang eher nach Klingonisch. Glander vermutete, dass sich der Mann nach Lea erkundigte, und teilte ihm in seinem besten Oxford-Englisch mit, dass sie schliefe.

Der Unbekannte war enttäuscht, das war nicht zu übersehen, und er fragte wohl, ob man Lea nicht wecken könne. Er entnahm einem ledernen Etui eine Visitenkarte und reichte sie Glander: Detective Chief Superintendent Connor Fraser, West Command, Greater Glasgow stand darauf zwischen dem Logo der schottischen Kripobehörde und einer schottischen Festnetznummer, einer Mobilnummer und einer E-Mail-Adresse.

Was hatte Lea mit diesem schottischen Kriminalkommissar zu tun? Und warum suchte der sie zu Hause auf? Die Tagung begann doch erst am Montag. Während Glander noch überlegte, rempelte ihn Talisker an. Der Hund hatte sich umgedreht, um Lea zu begrüßen, die gerade die Treppe herunterkam.

Durch ihr weißes Rippshirt war deutlich erkennbar, dass es sie fröstelte. Sie zog ihre lange graue Wollstrickjacke fester um sich, strich sich mit der linken Hand ihre Haare aus dem blassen Gesicht und kreuzte die Arme vor der Brust. »Sorry, Martin, ich bin glatt über den Tagungspapieren eingeschlafen. Wer ist es denn?« Dann fiel ihr Blick auf den Mann im Türrahmen, und ihr Gesicht verlor seine Farbe.

5

Glander schaute von Lea zu Connor Fraser und hatte gar kein gutes Gefühl. Lea war wie vom Donner gerührt, und es kostete sie offensichtlich einige Mühe, sich wieder in den Griff zu bekommen. Auch Fraser hatte sich für einen Moment nicht unter Kontrolle, und was da in seinem Blick lag, war nicht zu missdeuten.

Glander räusperte sich und wandte sich an Lea. »Lea, willst du deinen Bekannten nicht hineinbitten? Vielleicht klärt ihr, was auch immer zu klären ist, drinnen und nicht in dieser Kälte.«

Lea nickte abwesend und bat Fraser auf Englisch einzutreten, in aller Förmlichkeit darauf hinweisend, dass er nicht lange bleiben könne. Fraser nickte Glander zu und trat in den Flur. Der Fremde und Lea standen sich gegenüber, und Glander sah beiden die Unsicherheit darüber an, wie sie sich begrüßen sollten. Fraser wollte Lea offensichtlich umarmen, aber der war das nicht recht. Glander fragte sich, ob das an ihrer legeren Kleidung lag oder an seiner Gegenwart. Wer zum Teufel war dieser Typ? Und was war zwischen den beiden gelaufen? Dass da etwas gelaufen sein musste, war eindeutig. Glander gab Lea einen Kuss auf die Wange und versuchte einen möglichst stilvollen Abgang hinzulegen.

»Ich lasse euch mal alleine. Merve und ich haben einen neuen Auftrag. Ich bin so gegen neun wieder hier, denke ich. Ich nehme Talisker mit und drehe vorher noch eine Runde mit ihm, in Ordnung? Falls ich früh genug zurück bin, mache ich auch noch die späte Biege mit ihm.«

Lea schien gedanklich von weit her zu kommen und ihn für einen Moment nur verschwommen wahrzunehmen. Dann wurde ihr Blick wieder klar. »Ja, okay … Danke, Martin! Ich … Wir reden später, ja?«

Glander nickte und griff nach seiner Jacke und Taliskers Leine, die an der Garderobe im Flur hingen, verabschiedete sich von Fraser mit einem kurzen Kopfnicken und gebot Talisker, ihm zu folgen. Als er die Tür hinter sich zugezogen hatte, schickte er Merve eine SMS. Sie solle nicht zu ihm herüberkommen, er käme zu ihr. Dann machte er sich auf den kurzen Weg die Straße hinauf zum Haus von Merves Schwester. Merve und er hatten einen neuen Fall, und auf den galt es sich jetzt zu konzentrieren. Alles Private würde warten müssen. Auch wenn ihm gar nicht wohl dabei war.

Lea gab Connor Fraser exakt zehn Minuten Zeit, ihr zu erklären, warum er sie zu Hause aufsuchte, bevor sie ihn bat, wieder zu gehen. Sie würden sich am Montag auf der Tagung begegnen, auf jeden weiteren Kontakt lege sie keinen Wert. Es habe sich nichts geändert, seitdem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

Fraser hatte sich im Griff. Der aufflammende Zorn in seinen Augen wich einer kalten Leere, obwohl er sie anlächelte. Seine leicht heisere Stimme und der vertraute Dialekt weckten viele Erinnerungen in Lea. Doch ihr letztes Treffen überschattete sie alle.

»Ach, komm! Es ist so viel Zeit vergangen, und ich bin nicht mehr der Idiot von damals. Gib dir einen Ruck und mir eine zweite Chance! Lass uns heute Abend essen gehen«, sagte er auf Englisch.

Lea traute ihren Ohren nicht. Essen gehen? Eine zweite Chance? Nach all den Jahren? Nach allem, was damals passiert war? Hatte der Mann seinen Verstand verloren? Sie hatte einen großen Fehler gemacht, diesen Auftrag anzunehmen. Sie hatte sich gewaltig über- und ihn fehleingeschätzt. Lea hatte mit einem kleinlauten Auftritt seinerseits gerechnet, einer vorsichtigen Annäherung in einem passenden Moment im Laufe der Tagungsfreizeit. Sie hatte erwartet, dass er ihr so etwas wie eine Erklärung und eine ehrliche Entschuldigung anböte. Doch Connor war ganz offensichtlich auch nach zwanzig Jahren nicht bewusst geworden, was er angerichtet hatte, und er bereute nichts.

Lea schlug das Herz bis zum Hals. Mit aller Kraft zwang sie sich, Ruhe zu bewahren und möglichst distanziert zu bleiben. »Nein danke, Connor. Ich werde für deine Delegation übersetzen, aber private Dinner sind nicht in meinem Interesse.« Sie schüttelte den Kopf und sah ihn traurig an. »Und eine zweite Chance hattest du. Du weißt genau, wie du sie genutzt hast. Du wirst keine dritte erhalten. Bitte geh jetzt. Sofort.«

Connor ballte seine Fäuste. Seine Lippen wurden schmal, und seine Augen verengten sich. Dann drehte er sich wortlos um und ging hinaus.

Nachdem Lea die Haustür hinter ihm geschlossen hatte, drehte sie den Schlüssel zweimal im Schloss herum. Danach ging sie direkt ins Obergeschoss und ließ Wasser in die Badewanne ein. Währenddessen öffnete sie eine Flasche Glendronach Cask Strength und füllte ein Glas drei Finger breit. Ihre Hände zitterten. Alkohol löste keine Probleme, dessen war sie sich bewusst, aber als der süffige Speyside Whisky seinen kräftigen Geschmack von Karamell und Sherry entfaltete und warm und sanft ihre Kehle hinunterrann, lockerten sich ihre Schultern merklich. Und als sie sich zehn Minuten später in das heiße Wasser gleiten ließ, beruhigten sich ihre Nerven.

Es war ein Schock gewesen, Connor vor ihrer Tür stehen zu sehen. Auf diesen Überraschungsbesuch war sie überhaupt nicht vorbereitet gewesen. Wem willst du etwas vormachen?, meldete sich ihre innere Stimme. Du hast dich übernommen. Du hast gedacht, du hättest längst mit ihm abgeschlossen. Hast du aber nicht.

Die Chemie zwischen Lea und Connor war vor rund zwanzig Jahren hochexplosiv gewesen. Connor hatte eine Anziehungskraft auf sie ausgeübt, die mit Worten nicht zu fassen war, und nun wurde sie genauso heftig von ihm abgestoßen. Dabei war sie sich so sicher gewesen, alles Vergangene ausblenden zu können, wenn sie ihm gegenübertrat. Doch sie hatte sich gewaltig geirrt. Die Vergangenheit war allein durch seine physische Präsenz sofort wieder lebendig geworden. All ihre damaligen Gefühlen, ihr Entsetzen, ihre Angst und nicht zuletzt ihre Wut, waren wieder hochgekommen.

Lea ließ sich tiefer in die Wanne gleiten, sodass das Wasser ihre Ohren bedeckte und sie ihr Herz schlagen hörte, während sie sich an ihr erstes Date erinnerte. Connors und Leas Freunde hatten die Verabredung arrangiert. Sie sollten sich auf der Geburtstagsparty der Freundin einer Freundin treffen. Lea hatte mit ihren Mädels reichlich vorgeglüht, sich Mut angetrunken. So lief das damals. Ein bisschen Rummachen und dann ab nach Hause, alles ganz easy, so hatte ihr Plan ausgesehen. Doch als sie auf die kiesbedeckte Auffahrt vor dem großen Haus eingebogen war, in dem die Party stattfinden sollte, hatte sich eine Wagentür geöffnet, und Connor war ausgestiegen. Lea war auf der Stelle wieder nüchtern gewesen, so heftig war das Adrenalin durch ihren Körper geschossen. Er war auf sie zugekommen, hatte ihr seine Hand entgegengestreckt und ihr zugezwinkert. Aus dem Haus hatten die Tears for Fears gedröhnt, und Lea hatte Connors Hand genommen und gewusst, dass es um sie geschehen war.

Jeanny hatte sich im Laufe des Tages etwas Geld zusammengeschnorrt und war zum Duschen ins Schwimmbad in der Leonorenstraße gegangen. Die kurze Strecke zum S-Bahnhof Lankwitz war sie wie immer schwarzgefahren. Die Mitarbeiterinnen am Eingang des sogenannten Leonorenbads kannten sie und drückten ein Auge zu. Jetzt war sie frisch geduscht und hatte die neuen Klamotten an, die sie zwei Tage zuvor bei Primark in der Schloßstraße geklaut hatte. Heute würde sie nicht in die Innenstadt gehen, sie würde ihr Glück am Stadtrand versuchen. Die Typen hier waren bei Weitem nicht so krass drauf wie in Mitte. Ihre Haare hatte sie hochgesteckt, und niemand sah ihr an, dass sie auf der Straße lebte. Lange ginge das nicht so weiter, dessen war sich Jeanny bewusst, aber sie hatte aufgehört, sich über die Zukunft Gedanken zu machen. Die Zukunft war bedeutungslos geworden an dem Tag, als ihr Vater diese Dreckskerle mitgebracht hatte und sie durch das Küchenfenster abgehauen war, während ihr Alter einen Preis für sie verhandelt hatte.

 

Jeanny setzte ihr gewinnendstes Lächeln auf, als sie sich am frühen Abend des Tages, an dem sie ihre Freundin tot aufgefunden hatte, neben den schlaksigen jungen Mann an die Bar des »Stellwerk« am Kranoldplatz in Lichterfelde Ost stellte. Mit großer Genugtuung sowie einer Spur Erleichterung stellte sie fest, dass sie es immer noch draufhatte.

Der Typ neben ihr lächelte sie etwas unsicher an und fragte sie, ob er ihr einen Drink ausgeben dürfe.

Sie nickte und stellte sich vor. »Ich bin Janine, hi!«

»Max. Ich bin neu in Berlin, studiere an der TU. Bist du öfter hier?«

Jeanny schüttelte den Kopf und sah ihn gekonnt schüchtern an. »Nein, ich bin das erste Mal hier. Ich habe mich ganz furchtbar mit meinem Freund gestritten. Ich denke, es ist aus. Ich wollte nur weg. Ich dachte, ich geh was trinken, um runterzukommen, und dann ruf ich meine beste Freundin an. Doch als ich hier ankam, fiel mir ein, dass sie übers Wochenende bei ihren Eltern in Schwerin ist. Jetzt bin ich ziemlich aufgeschmissen und weiß gar nicht, wohin.« Sie legte ihre Hand auf seine, er errötete leicht. Gott, diese Armleuchter waren doch alle gleich blöde! Die Masche funktionierte jedes gottverdammte Mal. »Aber sorry, das interessiert dich alles gar nicht. Entschuldige, ich bin gerade nur ein bisschen durch den Wind.«

»Nee, lass mal, ist schon okay. Kann ich verstehen. Willst du noch einen?« Er zeigte auf ihr Glas.

Schön trinken musste sie sich den Knaben nicht. Er sah ganz gut aus, fand sie, ein bisschen spack vielleicht, aber sauber, und ordentliche Klamotten trug er auch. Doch einem geschenkten Gaul schaute man sowieso nicht ins Maul.

»Ja, gerne. Aber ich hab lange nichts mehr getrunken, also muss ich mich ein bisschen vorsehen.«

»Warst du krank?«

»Nein … also … Ich hatte da so eine Frauensache, und ich musste operiert werden. Darum ging es auch in dem Streit mit meinem Freund.« Er schüttelte mitfühlend den Kopf, und sie lächelte ihn wieder traurig an. »Ich tu’s schon wieder, dir meinen ganzen Kram erzählen, sorry. Es ist nur … Du siehst echt nett aus.« Dabei schenkte sie ihm einen gewinnenden Augenaufschlag, den der beste Walt-Disney-Zeichner nicht besser hinbekommen hätte.

Max legte seine Hand auf ihren Arm und antwortete genau das, was Jeanny hören wollte. »Das ist total okay. Wenn du möchtest … also, wenn du nicht weißt, wo du heute Nacht schlafen sollst, kannst du gerne mit zu mir kommen. Ich wohne nicht weit von hier. Und ich hab ein megabequemes Sofa, auf dem ich dann schlafen kann. Nicht, dass du das missverstehst …«

Sie unterbrach ihn. »Tu ich nicht. Das ist nett von dir, Max. Lass uns doch einfach noch ein bisschen hierbleiben und quatschen, und dann überleg ich’s mir. Ich könnte uns ja was kochen. Ich glaub, ich kann echt nirgendwo anders hin.«

Max, ihr neuer Beschützer, strahlte sie an.

Männer sind so berechenbar, dachte Jeanny voller Verachtung, als sie ihren nächsten Cuba Libre zur Hälfte leerte.

6

Auch um sich zu sammeln, hatte Glander zuerst eine Runde mit Talisker gedreht, bevor er Merve bei Sevgi abgeholt hatte. Gemeinsam waren sie den Stolberger Ring entlang zu den Hartmanns geschlendert. Deren Haus sah man an, dass beide viel beschäftigt waren, obwohl sie nur in Teilzeit arbeiteten.

Schon zu Beginn ihrer Beziehung hatten sich Sabine und Thomas Hartmann gegen Kinder entschieden. Ihrer beider Einkommen reichte aus, um die Raten für das Haus abzuzahlen und die Lebenshaltungskosten zu decken, und am Monatsende blieb sogar noch etwas für das Sparkonto übrig. Ihre Ansprüche waren nicht besonders hoch, sie legten weder Wert auf Statussymbole, noch gingen sie teuren Hobbys nach. Den Großteil ihrer Freizeit betätigten sie sich ohnehin ehrenamtlich. Auch deshalb hatten sie nur wenige Freunde. Nicht viele Menschen ertrugen es, immerzu über traurige Schicksale reden zu müssen und sich die Kritik am Sozialstaat und an der Bequemlichkeit vieler Leute anzuhören. Sabine und Thomas Hartmann war das einerlei. Sie hatten dieselbe soziale Einstellung und denselben Groll gegen die Politik der letzten dreißig Jahre, die dazu geführt hatte, dass jeder nur noch auf seinen eigenen Vorteil bedacht war.

Sabine Hartmann hatte Merve und Glander eingelassen und war nun damit beschäftigt, den wild kläffenden und herumspringenden Bismut zu beruhigen. Talisker betrachtete den anderen Rüden einen Moment lang indigniert und setzte dann dessen Treiben mit einem kurzen, aber umso lauteren Bellen ein Ende.

Sabine lachte. »Kann ich mir Talisker nicht doch mal ausleihen? Er ist der Einzige, auf den Bismut hört. Es wird leider gar nicht besser mit dem Schlawiner.«

Glander behielt die Antwort für sich. Die Hartmanns waren absolut betriebsblind, wenn es um ihren Hund ging. Lea hatte ihnen schon oft den regelmäßigen Besuch einer Hundeschule oder auch private Stunden mit einer erfahrenen Hundetrainerin ans Herz gelegt, doch sie hatten stets Zeitmangel als Ausrede vorgeschoben. Bismuts schlechtes Benehmen hatte sich folglich weiter verfestigt. Von Talisker einmal zurechtgewiesen, benahm er sich jedoch einwandfrei, sodass man beinahe glaubte, einen anderen Hund vor sich zu haben.

Sabine Hartmann bat Glander und Merve ins Wohnzimmer, in dem sich Thomas Hartmann vom Sofa erhob und mit ausgestreckter Hand auf sie zukam. Sabine war so groß wie Glander, und Merve sah gegen den bärigen Hartmann zierlich und zerbrechlich wie ein Kind aus. »Frau Celik, richtig?«, fragte Hartmann, als er Merves Hand schüttelte. »Wie schön, dass es so zeitnah geklappt hat. Kann ich Ihnen etwas anbieten – einen Kaffee oder einen Tee?«

»Sagen Sie doch Merve, Herr Hartmann. Das macht es einfacher. Ich nehme gerne ein Wasser, wenn es keine Mühe macht.«

»Dann nennen Sie uns aber bitte Thomas und Sabine. Sabine, bist du so lieb und holst etwas zu trinken?«

Glander entging der verkniffene Zug um Sabines Mund nicht, als sie das Wohnzimmer wieder verließ, um Getränke zu holen. Thomas Hartmann bat die beiden, auf der üppigen Sitzlandschaft Platz zu nehmen, die gut ein Viertel des Wohnzimmers einnahm. Glander fiel auf, dass sich kein Fernseher im Zimmer befand. Dafür waren die Wände dem Sofa gegenüber bis zur Decke mit Bücherregalen ausgekleidet. Das Blumenfenster zierten Kakteen in verschiedenen Größen und Formen.

Hartmann bemerkte Glanders Blick und grinste. »Sabine und ich haben so viel um die Ohren, dass hier außer Kakteen keine Pflanzen überleben. Unser Garten ist eher eine Wiese, und die Sträucher, die wir dort gepflanzt haben, werden nur vom Regen gewässert. Damit keiner meckert, wie ungepflegt der Vorgarten aussieht, haben wir ihn pflastern lassen. Es gibt ja immer werte Nachbarn, die nichts Wichtigeres zu tun haben, als sich über die Art und Weise zu mokieren, wie andere leben.« Er schüttelte den Kopf. Es lag keine Spur von Humor in seinen Worten. »Ich frage mich in letzter Zeit immer öfter, ob die Menschen hier in der Gegend eigentlich wissen, wie gut es ihnen geht. Mein Eindruck ist leider, dass viele voller Neid nach Seehof oder Sigridshorst schauen, wo eine Familie nach der anderen ein großes Townhouse bauen lässt. Der Mensch scheint nie zufrieden mit dem, was er hat, weil er nicht erkennt, wie viel er eigentlich besitzt.«

Sabine Hartmann stellte die Getränke auf den Couchtisch und atmete seufzend aus. »Ach Thomas, musst du schon wieder damit anfangen? Lass doch die Leute denken, was sie wollen. Wenn sie sich ein größeres Haus wünschen, ist das doch in Ordnung. Jeder hat Wünsche, Träume und Hoffnungen.« Sie goss Mineralwasser in vier Gläser und setzte sich an den Rand des Sofas. Ihre Lippen formten sich zu einem schmalen Strich.

Thomas Hartmann winkte ab. »Ja, meinetwegen soll jeder nach seiner Façon unglücklich sein! Aber dann sollen sie wenigstens aufhören, auf denen herumzutrampeln, die so viel schlechter dran sind als sie selbst.«

Glander beschloss, dieser sozialpolitischen Debatte einen Riegel vorzuschieben. Er hatte weder Zeit dafür noch Interesse daran. So bat er den Nachbarn um eine möglichst detaillierte Beschreibung der beiden Toten und der Situation, in der sie sich befunden hatten. Eifrig schilderte der selbst berufene Sozialarbeiter, was er wusste.

»Ungefähr im November tauchte hier eine kleine Gruppe von obdachlosen Frauen auf und richtete sich in der leeren Lagerhalle ein, von der ich dir erzählt habe. Ihre Anführerin heißt Mileva und ist Albanierin oder Serbin, genau weiß ich das nicht. Sie hat bislang jeden Versuch meinerseits, ihr und den anderen Frauen zu helfen, schroff abgewiesen. Ich nehme an, sie hat irgendwelche krummen Dinger am Laufen. Sie lässt die Frauen vermutlich klauen oder betteln oder … Na, ihr könnt euch sicherlich vorstellen, was da alles möglich ist. Aber Greta war schon vorher hier, ab dem Sommer, wenn ich mich nicht täusche.«

Während Hartmann seine Eindrücke schilderte, drohte er immer wieder in Tiraden über die deutsche Sozialpolitik abzugleiten. Glander beobachtete, wie sich Sabine Hartmanns Gesichtsausdruck zunehmend verdunkelte. Ihrem Mann fiel das nicht auf, er begleitete seine Schilderungen mit aufgebrachter Gestik und Mimik. Bei einer besonders ausladenden Handbewegung stieß er versehentlich sein Wasserglas um.

Sabine sprang wütend auf und zischte ihn an: »Mensch, Thomas, pass doch auf! Musst du immer so maßlos übertreiben? Jetzt ist alles nass.« Sie ging in die Küche, um ein Handtuch zu holen.

Hartmann entging die Verärgerung seiner Frau anscheinend gänzlich. »Das bisschen Wasser. Wenigstens haben wir genug zu trinken. Als ich Greta das erste Mal begegnete, konnte ich sofort erkennen, dass sie schon länger nichts mehr gegessen und getrunken hatte. Ich besorgte deshalb etwas Wasser und setzte mich zu ihr«, fuhr er fort.

Merve und Glander tauschten einen kurzen Blick, und Merve entschuldigte sich. Sie folgte Sabine in die Küche.

Merve fand Sabine Hartmann mit einem Küchentuch in der Hand über die Spüle gebeugt. Als Sabine sie bemerkte, richtete sie sich schnell auf. Merve entging keineswegs, wie viel Mühe es die Frau kostete, ihren Unmut unter Kontrolle zu halten. Sie lächelte Sabine aufmunternd an. »Es ist nicht immer einfach, mit jemandem zusammenzuleben, der so für ein Thema brennt wie Thomas, oder?«

Sabine schnaubte verächtlich. »Das können Sie laut sagen! Er hat nur noch diese Frauen im Kopf. Seit Kurzem kocht er zweimal in der Woche Eintöpfe und schleppt dann alles hinter die Bahn, wo diese Frauen seit einiger Zeit hausen. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist ja toll, dass er sich engagiert, das haben wir beide immer schon gemacht, aber in letzter Zeit übertreibt er es einfach. Es frisst ihn auf. Es frisst unsere Ehe auf.«

Merve nahm der frustrierten Frau das Küchentuch ab und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich kümmere mich um den Wasserfleck. Atmen Sie einfach mal tief durch. Es wird sich alles regeln. Die Dinge regeln sich immer irgendwie.« Was sollte sie auch anderes sagen? Sie kannte die Hartmanns kaum, da wäre jeder Ratschlag anmaßend gewesen.

Dann lächelte sie Sabine noch einmal aufmunternd zu und ging zurück ins Wohnzimmer. Dabei nahm sie sich fest vor, mehr über die Frau in Erfahrung zu bringen. Denn die war nicht nur um ihre Ehe besorgt, sie war stinkwütend. Und eifersüchtige Ehefrauen wurden nicht selten zu Täterinnen.

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